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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Ich-AG Die Propagierung einer Ich-AG kontrastiert bedenklich mit der Tatsache, dass Menschen im Kapitalismus relativ selten Herr oder Frau ihres eigenen Lebens sind. In der Regel wird der Tageslauf eines solchen Menschen vom Zwang zur Erwerbsarbeit bestimmt, nicht von den eigenen sinnlichen Bedürfnissen: ruhen, bewegen, trinken, essen, sich hinlegen, wenn mensch müde ist, in einer verlässlichen Gemeinschaft leben, arbeiten. Die meisten haben sich vereinzeln lassen, ob nun als Single oder als Kleinfamilie. Die meisten können erst mit 30 Jahren erwachsen werden, materiell auf eigenen Beinen stehen, ein Kind zur Welt bringen. In einer wirklichen Ich-AG würde ein Mensch sich weigern, in einem Erziehungs- und Bildungssystem mitzumachen, in dem seine sinnlichen Bedürfnisse nicht an erster Stelle stehen. Zwangsarbeit würde dort nur in einem begrenzten Ausmaß zugelassen. Mit 20 Jahren würden Kinder in die Welt gesetzt und Gemeinschaften gegründet. Nicht Status-Symbole und ökonomische Höchstleistung wären das Ziel einer solchen Ich-AG, sondern persönliches Glück. Auffallend ist nun, dass eine solche Lebenspraxis schon weit verbreitet ist, allerdings oft mit schlechtem Gewissen, in eine existenzielle Katastrophe mündend, ökonomisch, gesundheitlich, psychologisch. Offensiv und positiv aufgegriffen wird eine wirkliche Ich-AG nur von wenigen, und dann meistens unter einer esoterischen (z.B. Klein Jasedow) oder künstlerischen (z.B. Glückliche Arbeitslose) Glocke. Frei und rational nachvollziehbar finden wir eine wirkliche Ich-AG bei Menschen, die sich klar vom Kapitalismus losgesagt haben, z.B. bei den Zapatisten, bei den Menschen von Longo maï. Damit eine wirkliche Ich-AG mitten im Kapitalismus auch ohne schlechtes Gewissen praktiziert werden kann, muss darauf hingewiesen werden, dass mensch auch nur so tun kann, als ob (er/sie mitmachte im Kapitalismus). Ein Doppel-Leben führen, absichtlich, guten Gewissens, in dem alles eingebettet ist in eine wirkliche Ich-AG. Nicht im Sinne des Bankers, der nach Feierabend seine Perücke abnimmt, um darunter seine lange Mähne wieder hervorquellen zu lassen, sondern im Sinne eines Angestellten oder Arbeiters, der sich einerseits bei seinem Arbeitgeber unentbehrlich gemacht hat, andererseits keine Angst davor hat, arbeitslos zu werden, weil er bescheiden lebt, mit Freunden in einer Umgebung, in der Menschen sich gegenseitig helfen, umsonst das bekommen, was sie für ihren täglichen Lebensunterhalt brauchen – wie eine Mutter ihr Baby stillt. Auch das wird vielfach schon praktiziert. Und Kapitalisten wie traditionelle Marxisten wundern sich, wenn eines Tages das System zusammenbricht. Oder wenn schon heute so wenige gegen Hartz IV auf der Straße demonstrieren. Es ist gefährlich für den Kapitalismus, dazu aufzurufen, Herr oder Frau seines eigenen Lebens zu werden, souverän zu werden. Karl-Heinz Thier, 19. Januar 2005 |