letzte Änderung am 23. Juni 2003

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Leseprobe aus:

Rainer Roth

Nebensache Mensch. Arbeitslosigkeit in Deutschland

DVS – Digitaler Vervielfältigungs- und Verlagsservice, Frankfurt am Main, Mai 2003
ISBN 3-932246-39-X
15,00 €

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Kapitel 1.25

Lohnarbeit: Minderleister werden aussortiert

Die überwiegende Mehrheit der LohnarbeiterInnen stellt für das Kapital ein Risiko dar. Deshalb macht es ältere Menschen, Frauen, Behinderte, Kranke und Jugendliche überdurchschnittlich arbeitslos. Sie sind dann (auf sozialdeutsch) von Arbeitslosigkeit »besonders betroffen«.

Das Kapital ist nur an etwa 15 bis 20 Jahren der Lebenszeit von Menschen besonders interessiert. Für die Unternehmen wäre es am besten, wenn Menschen die kostenfressende Kindheit und Jugend überspringen und mit 25 Jahren voll ausgebildet und mit langer Berufserfahrung ins Arbeitsleben einsteigen. Das gilt allerdings nicht für Frauen, weil diese ausgerechnet im besten Alter zwischen 25 und 40 Jahren Gefahr laufen, Kinder zu bekommen.

Ab dem Alter von 45 Jahren neigt sich das Interesse des Kapitals an Arbeitskräften dem Ende zu. Diese sollten dann am besten aufhören zu arbeiten und mit 70 Jahren in Rente gehen, natürlich ohne in der Zwischenzeit dem Staat oder der Sozialversicherung auf der Tasche zu liegen. Im Alter verwandeln sich die Arbeitskräfte für das Kapital von einem Risiko in die drückende Altenlast des Rentnerbergs.

Dieser unnatürliche »Lebenszyklus« ergibt sich aus der »Natur« der Ware Arbeitskraft, aus der »Natur« der Lohnarbeit, aus der »Natur« des Kapitals.

»Zwanzig, dreissig Jahre lang wird das Letzte aus den Menschen herausgeholt, dann sind sie ausgepowert.«[1]

Nicht nur Langzeitarbeitslosigkeit, vor allem »Langzeitarbeit« hat schädliche Folgen für die Arbeitskräfte. Je intensiver und rücksichtsloser sie genutzt werden, desto eher sind sie ausgepowert und werden arbeitslos gemacht.

Das Wort »Risikogruppe« erklärt bestimmte Eigenschaften von Personen selbst zum Risiko. In Wirklichkeit sind sie nur ein Risiko für die Kapitalverwertung. Dieses Risiko muss durch Personalauslese vermindert werden. »Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich die betriebliche Personalpolitik im Grundsatz nach Kosten-Ertrags-Überlegungen ausrichtet und diejenigen Beschäftigtengruppen systematisch benachteiligt, deren Einsatz im Verhältnis zu anderen weniger rentabel ist.«[2]

Ulrich Schumacher, Chef von infineon, hat das ausnahmsweise offen ausgesprochen. Er trat in seinem maskierten Managerslang dafür ein, »Schwach-Performer rauszusetzen«. Performer sind so etwas wie »Ertragsbringer«. Performance bedeutet Ertrag. (FR 28.11.2002)

Dass nicht zuletzt die Nutzung der Ware Arbeitskraft durch ihre Käufer eben diese »Schwach-Performer« erzeugt, wird in der Regel ausgeblendet.

 

Kapitel 1.251: Nebensache Mensch

Seele und Körper rebellieren gegen die immer härteren Anforderungen, lange bevor der Kopf rebelliert.

Claudia Freitag, 35 Jahre alt, arbeitet seit zehn Jahren in einem holzverarbeitenden Betrieb. Sie hat wegen häufigem Bücken Rückenbeschwerden. Weil sie ständig auf hartem Boden stehen muss, hat sie Gelenkschmerzen. Von sich aus investiert der Betrieb nichts in die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen.
Claudia könnte verlangen, dass das Bücken bei der Arbeit mit einer höhenverstellbaren Ablage überflüssig wird und dass Entlastungsmatten vor die Maschine gelegt werden. Sie könnte verlangen, dass sie Pausen einlegen bzw. zwischendurch weniger belastende Arbeiten machen darf. Sie könnte auch eine Kur beantragen. Wenn sie das einfordert, braucht sie Mut. Sie hat aber Angst davor zuzugeben, dass sie Probleme hat, die Arbeitsaufgaben zu erfüllen. Sie hat Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren.
Wenn sie keinen Mut aufbringt, kann sie in eine Zwickmühle kommen.

Sie selbst meldet sich nicht zu Wort, dafür aber ihr Körper. Er rebelliert mit Schmerzen gegen das Bücken und dagegen, trotzdem weiterzuarbeiten. Sie könnte sich gezwungen sehen, Schmerzmittel und andere Medikamente einzunehmen, um die Signale zum Schweigen zu bringen.

Sie selbst meldet sich nicht zu Wort, dafür aber ihre Psyche. Irgendwann denkt sie abends mit Grauen an den nächsten Tag. Sie quält sich zur Arbeit, obwohl ihr nicht danach ist. Wenn sie keine Schritte zur Lösung des Problems unternimmt oder keine Hoffnungen hat, dass sich etwas ändert, kann sie mit Unglücksgefühlen und Niedergeschlagenheit (Depression) reagieren. Ihr Selbstwertgefühl kann sinken, eben weil sie keine aktiven Schritte unternimmt. Dass sie keine »Anspruchsmentalität« hat, richtet sich gegen sie.

Claudia könnte sich gezwungen sehen, Beruhigungstabletten (Antidepressiva) einzunehmen, um ihre Stimmung aufzuhellen und sich arbeitsfähig zu halten.
Solange das Problem aber nicht gelöst ist, sind Körper und Seele trotz Medikamenten nicht im Gleichgewicht.

Wenn Claudia alles nur in sich hineinfrisst, kann das zu Herz- und Kreislauferkrankungen führen. Das Problem kann ihr auf den Magen schlagen und zu schmerzhaften Verspannungen der Muskulatur führen. Auch diese Signale zeigen, dass sie unter Bedingungen arbeitet, die sich gegen die menschliche Natur richten.

Das labile Gleichgewicht, in dem Claudia Freitag sich aufrechterhält, ist nicht von Dauer. Die Gefahr eines Bandscheibenvorfalls wächst, ebenso wie die Gefahr eines psychischen Zusammenbruchs. Diese Gefahr wird stärker, wenn der Arbeitsdruck sich erhöht, obwohl Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit von Claudia abnehmen.

Ihre Lage kann sich verschlimmern, wenn sie in der Arbeit zu wenig Anerkennung erfährt, obwohl sie sich doch bis zur Selbstaufgabe quält, den Anforderungen nachzukommen.
Sie kann sich verschlimmern, wenn KollegInnen sie anmachen, weil sie zu oft krank sei und sie ihre Arbeit mitmachen müssten.
»Ich kann nicht mehr«, sagt sie sich immer häufiger. Die Fehlzeiten nehmen zu. Wenn Claudia innerhalb von drei Jahren mehr als sechs Wochen pro Jahr krank ist und weitere Fehlzeiten zu erwarten sind, kann sie krankheitsbedingt gekündigt werden.

Wenn im Betrieb rationalisiert wird, kann sie auch Opfer einer betriebsbedingten Kündigung werden. Die Kündigung wird dann nicht wegen ihrer »Leistungsschwäche« ausgesprochen, sondern weil der Betrieb nicht mehr so viele Beschäftigte benötigt.

Wenn sich Claudia nicht traut, für eine Veränderung ihrer Arbeitsbedingungen einzutreten, wenn sie die Signale ihres Körpers und ihrer Stimmung übergeht, kann das ihre Entlassung beschleunigen. Vertritt sie ihre Interessen, kämpft sie damit auch gegen ihre drohende Arbeitslosigkeit.
Wenn sie mit vierzig arbeitslos wird, sind ihre Chancen gering. Wer stellt eine ungelernte Arbeiterin mit kaputtem Kreuz ein? Die »Langzeitarbeit« hat dann zur »Langzeitarbeitslosigkeit« geführt.

 

Kapitel 1.252: Überforderung – Hamster im Laufrad

»Arbeit – das Tempo wird immer härter«, titelte BILD (20.10.1999) Ein Drittel aller Beschäftigten in der Industrie und im Dienstleistungssektor klagt über ständige Überlastung.[3]

30% von 2.000 Bürofachkräften, die von der Sozialforschungsstelle Dortmund befragt wurden, litten unter Erschöpfungszuständen. (Weserkurier 07.07.1999) Prof.Hinnerk Emrich (Medizinische Hochschule Hannover) erklärte, die Arbeitsbelastung in den Büros sei in den letzten 15 Jahren um ein Drittel gewachsen. »Die Unternehmen haben vielfach ihre schwächeren Angestellten entlassen. Die Stärkeren nehmen deren Arbeit willig auf und schaffen es auch, das auszugleichen.« (FR 21.10.2002) Als Hintergrund sieht er die Angst vor Jobverlust.
Etwa 90% der in der IG-Metall-Untersuchung Befragten meinen, dass der Leistungsdruck in Zukunft noch steigen wird.[4]

Wachsender Leistungsdruck ist eine Bedingung für Schlafstörungen, hohen Blutdruck, Müdigkeit, Magen- und Darmerkrankungen, Kreislaufprobleme und Herzerkrankungen. (metall 1–2/2001, 25) Aber auch für Angst, Niedergeschlagenheit und psychische Erkrankungen. Psychische und physische Belastungen verstärken sich gegenseitig.

Menschen, die psychisch aus dem Gleichgewicht geraten, zeigen auch eher körperliche Symptome. Man nimmt sich etwas zu Herzen; es geht einem an die Nieren; es schlägt einem auf den Magen usw. »Von 100 Patienten, die in die Praxis eines Allgemeinarztes kommen, sind mindestens 50, wahrscheinlich aber bis zu 80 ›psychosomatisch‹ krank, das heißt, seelische Einflüsse spielen beim Zustandekommen ihres Leidens eine ausschlaggebende Rolle.«[5]

Nach Angaben der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft leiden etwa acht Millionen Bundesbürger unter Migräne d. h. Anfällen von Kopfschmerzen. Jan Brand, Leiter eine Migräne-Klinik: »Migräne-Patienten sind oft 200-Prozentige, die jedem alles recht machen wollen. Ihr Körper steht unter Dauerstress, hält dies nicht aus und zieht schließlich die Notbremse. Jeder Körper hat Schwachpunkte, und bei den Migräne-Patienten ist das der Kopf.« (FR 20.02.2002)

Laut Johannes Siegrist könnten durch »ein stressfreieres Arbeitsumfeld« bis zu 10.000 Herzinfarkte im Jahr vermieden werden.[6] Herzinfarkte sind (in einem erweiterten Sinn) mit Arbeitsunfällen gleichzusetzen. Das Infarktrisiko ist bei Dreischichtbetrieb dreimal und bei erheblichen chronischen Überstunden siebenmal so hoch wie im Durchschnitt. (FR 08.03.2001) Das Risiko eines Herzinfarkts ist bei Arbeitern dreimal so hoch wie bei Managern. Dabei spielt nicht nur die Belastung selbst eine Rolle, sondern auch, ob man Einfluss auf die Arbeitsbedingungen hat, ob die Arbeit abwechslungsreich ist und Lernmöglichkeiten enthält.[7]

Zwei langfristig angelegte Studien über mehr als 10.000 britische Staatsangestellte mittleren Alters haben in den achtziger Jahren ergeben: »Ausschlaggebend für die Gesundheit war die Kontrolle über das eigene Tun. (…) Je mehr (jemand) den Entscheidungen anderer ausgeliefert war, desto höher sein Herzinfarktrisiko. Das spürten vor allem die Angestellten auf der untersten Leitersprosse: 90% von ihnen arbeiteten unter solchen Bedingungen, und wenn von ihnen zugleich Tempo und Präzision verlangt waren, stieg die Wahrscheinlichkeit eines Infarktes um mehr als das Doppelte. (…) Wer jedoch seine Arbeit selber einteilen konnte, dem machte auch starker Druck nichts aus.«[8]

Abhängigkeitsverhältnisse sind in wahrstem Sinne des Wortes tödlich. »Wer ganz unten in der Hierarchie stand, als Wächter oder Bote etwa, zeigte im Verlauf von 25 Jahren ein viermal so hohes Sterberisiko als die Manager an der Spitze der Ämter.«[9] Auch erhöhter Zigaretten – und Alkoholkonsum spielte dabei eine Rolle. Beide sind jedoch in unteren Schichten stärker vertreten und können letztlich ebenfalls nur »als typische Reaktionen auf Stress gelten.«

LohnarbeiterInnen verkaufen ihre Ware Arbeitskraft und überlassen damit deren Nutzung Anderen. Sie haben die Entscheidung darüber, was sie tun und wie sie es tun, in die Hände der Käufer ihrer Ware Arbeitskraft gegeben. LohnarbeiterInnen sind insoweit nicht Herren ihrer selbst. Sie haben sich »ausgeliefert«. Wenn ArbeiterInnen etwas zu sagen hätten, würde es ihnen besser gehen. Aber da stehen die Eigentumsverhältnisse zwischen.

Die Käufer der Ware Arbeitskraft haben das Interesse, diese möglichst lange und möglichst intensiv für möglichst wenig Lohn zu nutzen. Hans-Peter Klös vom Institut der Deutschen Wirtschaft: »Die Kosten eines Arbeitsplatzes müssen in immer kürzerer Zeit erwirtschaftet werden, dadurch wird die Latte immer höher gelegt.« (BILD 20.10.1999) Die Anforderungen werden dabei durch die Notwendigkeit der Kapitalverwertung geregelt, nicht durch die physischen und psychischen Bedürfnisse der Arbeitskräfte. Warum aber muss das investierte Kapital immer schneller erwirtschaftet werden? Welche Zwänge herrschen da? Warum »muss« es diese ungeheuere Arbeitsverdichtung, die Überforderung, die Rücksichtslosigkeit gegen menschliche Grundbedürfnisse geben?

Die wachsende Rücksichtslosigkeit zeigt wachsende Schwierigkeiten der Kapitalverwertung an. Worin sie bestehen, ist Thema des zweiten und dritten Teils dieses Buchs.

Ob und inwieweit sich LohnarbeiterInnen ausliefern, hängt allerdings auch von ihnen ab. Die Angst vor Arbeitsplatzverlust führt bei vielen Beschäftigten dazu, dass sie versuchen, über das erträgliche Ausmaß hinaus zu arbeiten, um die Anforderungen zu erfüllen. Bis es nicht mehr geht. Ihr Selbstwertgefühl würde steigen, wenn sie Nein sagen könnten und sich gemeinsam mit anderen dagegen wehren. Niemand dankt es einem, wenn man am Ende verschlissen ist und vorzeitig aussortiert wird. Die Notwendigkeit, sich zu wehren, nimmt mit der Überforderung durch das Kapital zu.

Zwei Drittel der Beschäftigten haben das Gefühl, am Arbeitsplatz überfordert zu sein, schreibt BILD.[10] Was bedeutet das anderes, als dass die Verhältnisse die Menschen beherrschen und nicht umgekehrt? Ist das nicht ein Zustand der Unfreiheit? Menschen aber streben nach Freiheit.

 

Kapitel 1.253: Betriebsklima – Problem Chef

Die Chefs verkörpern die rücksichtslosen Ansprüche des Kapitals gegen ihre »MitarbeiterInnen«. Chefs sollen »die Mitarbeiter antreiben, volle Pulle zu leisten und sofort Ergebnisse zu bringen.« »Nicht der pflegliche Umgang mit Menschen steht im Vordergrund (der Unternehmen), sondern der meßbare Wertschöpfungsbeitrag (Beitrag zum Gewinn) des Einzelnen. Das macht das Miteinander sehr viel schwieriger, es gibt viel mehr Druck.«[11]

Die Arbeitsleistung aller Beschäftigten wird mehr und mehr in Zahlen gemessen (Ausstoß pro Tag, Anschläge in der Minute, Umsatz pro Tag, Fallzahlen pro Sachbearbeiter, Verträge pro Monat, Gespräche in der Stunde usw.). Durchschnitte werden gebildet und Vergleichswerte. Und die Chefs müssen für Leistungssteigerung, für höheren output sorgen. Gleichzeitig werden betriebliche Sozialleistungen und übertarifliche Zulagen zusammengestrichen. In vielen Fällen nimmt auch die Verantwortung zu, die man übernehmen soll. Allerdings ohne Lohnerhöhung. Mehr arbeiten und relativ weniger verdienen. Das macht Laune. Leistung wird nicht »anerkannt«.

Die Reaktion der Arbeitstiere auf die Chefs, die das durchsetzen, lässt nicht lange auf sich warten. In einer Befragung von 4770 ArbeitnehmerInnen und Führungskräften durch das Münchener Geva-Institut erklärte etwa jeder Vierte seinen offenen Hass auf den Vorgesetzten. Jede zweite Führungskraft hatte das Gefühl, von den eigenen Leuten abgelehnt zu werden.[12]

Es gäbe viel zu sagen, aber 85% der Beschäftigten befürchten, dass ihnen Nachteile entstehen, wenn sie in der Firma offen ihre Meinung sagen. (BILD 10.11.1999)

LohnarbeiterInnen sind abhängig beschäftigt. Ihre Abhängigkeit lässt sie zunächst einmal vorsichtig sein. Die Beschäftigten beschäftigen sich ja nicht selbst, sondern sie werden beschäftigt. Die Inhaber der Unternehmen und die Vorgesetzten dagegen sind in gewisser Hinsicht unabhängig von den LohnarbeiterInnen. Sie sind Eigentümer oder vertreten die Eigentümer. Also haben sie das »Recht«, nichts auf die Meinung der Beschäftigten zu geben.
Auf diesem Hintergrund ist es straflos, abhängig Beschäftigte herabzusetzen, ihre Meinung für wertlos zu halten und sich selbst für den Mittelpunkt der Welt.

Ex-Telekom-Chef Ron Sommer flog gelegentlich mit einem Hubschrauber über Vulkane in Hawaii und versuchte, sich dadurch die Überheblichkeit abzutrainieren, die er bei vielen anderen Managern festgestellt hatte. Nur noch Vulkane waren stärker als er, nur noch sie konnten seine Überheblichkeit in die Schranken weisen. Das sagt alles. Sommer hat sich seine Bescheidenheitsübungen gebührend anerkennen lassen. Seine Bezüge stiegen 2001 um 90% auf 3,6 Millionen Euro. Ein Unternehmensberater: »Viele Führungskräfte halten sich für die Größten. In ihrer Firma sind sie es schließlich auch. Sie umgeben sich mit Schmeichlern und angepaßten Jasagern und werden von diesen ihrer Bedeutung bestätigt. Manager sind anfällig für Arroganz.«[13]

Da die Belegschaften von den Eigentümern und ihrer Vertretern abhängig sind, bilden sich die Eigentümervertreter ein, sie wären etwas Besonderes. Arroganz und Selbstherrlichkeit drücken die Eigentumsverhältnisse aus. Sie steigen mit der Größe des Unternehmens und verkörpern sich in immer höheren Managergehältern.

Die Herabsetzung der Beschäftigten kreist immer nur um ein Thema. Sie leisten nicht genug, arbeiten nicht lang genug, sind zu oft krank, führen Anweisungen nicht präzise aus, gehen zu stark ihren privaten Interessen nach. Sie wollen nur ihren Besitzstand wahren, sind egoistisch, denken zu wenig an die Firma. Mit anderen Worten: sie stören bei der Erfüllung des Betriebszwecks.

Mehr noch, die LohnarbeiterInnen »schmeicheln sich, ihren Wohlstand selbst erarbeitet und mithin redlich verdient zu haben«. In Wirklichkeit ist der »Wohlstand der Massen« aber ein »Wohlstand aus zweiter Hand«. Die LohnarbeiterInnen leben von der Leistung derer, die Wissen haben und Kapital.[14] Die ArbeiterInnen beim Daimler leben also vom Wohlstand, den der Vorstand, die Forschungsabteilung und Aktionäre wie die Deutsche Bank und der Emir von Kuwait mit seinem 7­prozentigen Aktienanteil erschaffen. Es macht also eigentlich gar nichts aus, ob die Malocher arbeiten gehen. Ob sie fehlen, fällt nicht weiter auf.

Die sogenannten MitarbeiterInnen sind allein dadurch schon herabgesetzt, dass sie nur als Werkzeuge in der Hand anderer genutzt werden. »Der Mensch ist sich nicht selbst zum Zweck, sondern Werkzeug«, sagt ein Unternehmensberater über die Mitarbeiter in der heute vorherrschenden Unternehmenskultur.[15] Zwei Drittel der ArbeitnehmerInnen erklären, sie würden nie oder selten gelobt. (metall 1–2/2001, 26) Warum auch? Seit wann lobt ein Handwerker seinen Hammer?

Mangelnde Anerkennung, Willkür und Selbstherrlichkeit von Vorgesetzten werden zum Krankheitsfaktor und wecken Empörung. »Konflikte zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten gehören heute zu den größten Problemen in der Wirtschaft«, so Henner Ertel, Leiter des GRP Instituts für Rationelle Psychologie in München. (Wirtschaftswoche 07.01.1999, 61) Sie fressen einen wachsenden Teil der Energien von LohnarbeiterInnen auf.

Vorgesetzte heißen nicht umsonst so. Sie sind einem vor (die Nase) gesetzt.

Fast alle LohnarbeiterInnen halten ein gutes Betriebsklima für sehr wichtig bzw. wichtig.[16] Menschen fühlen sich nämlich nur in befriedigenden sozialen Beziehungen wohl. Die Eigentumsverhältnisse aber, die darauf beruhenden Abhängigkeitsverhältnisse, die Kapitalverwertung als Zweck der Wirtschaft und der Warencharakter der Arbeitskraft stören das Wohlbefinden.

Kraft können LohnarbeiterInnen vor allem daraus schöpfen, dass sie sich gegen das Kapital zusammenschließen. Kein Wunder, dass das Kapital alles daransetzt, diesen Zusammenschluss zu untergraben und die Konkurrenz unter den Beschäftigten zu fördern.

 

Kapitel 1.254: Angst vor Entlassung

Unter Leitung von Prof. Wittchen (TU Dresden) wurden im Jahr 200020.000 Patienten und 550 Ärzten zu Angststörungen befragt. Es war die bis da weltweit größte Untersuchung ihrer Art. 27% der Patienten von Hausärzten gaben an, unter wochenlangen Angstbeschwerden und ängstlicher Anspannung zu leiden. (FR 26.06.2001) Angst kann dazu führen, dass die Beziehungen zu KollegInnen, Freunden und Nachbarn leiden und dass man nicht mehr aus sich »herausgehen« kann. Angst isoliert Menschen von Menschen. Und das wiederum drük-kt das eigene Selbstbewußtsein noch weiter nach unten.[17]

Zu den wichtigsten Ängsten gehört die Angst vor Entlassung. Die Hälfte der gewerblichen Arbeitnehmer und jeder dritte Angestellte haben Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren.[18] Nach einer anderen Umfrage hatten sogar zwei von drei Beschäftigten Angst um ihren Arbeitsplatz.[19]

Die IG Metall befragte 120.000 LohnarbeiterInnen. Jeder Fünfte hatte eine konkrete Angst vor Arbeitsplatzverlust und knapp die Hälfte hielt den Verlust ihres Arbeitsplatzes für möglich. Nur 31% der Befragten waren der Meinung, dass ihr Arbeitsplatz sicher sei.

Nahezu alle Befragten hielten einen sicheren Arbeitsplatz für sehr wichtig oder für wichtig.[20] Der Wunsch nach Existenzsicherheit entspricht einem natürlichen Bedürfnis des Menschen. Er wird jedoch überwiegend nicht befriedigt, wenn die Arbeitskraft eine Ware ist. Die Arbeitskraft wird nicht gekauft, damit sie einen dauerhaften Arbeitsplatz hat. Sie muss den Zweck erfüllen, dem Käufer Profit einzubringen. Die Kapitalverwertung aber wird immer schwieriger. (Teil 2 und 3) Angst um den Arbeitsplatz ist eine notwendige Folge der Lohnarbeit.

Befragungen in einzelnen Unternehmen haben ergeben, dass bis zu 90% der MitarbeiterInnen Angstgefühle haben können. (Süddeutsche Zeitung 18.02.1998) In Unternehmen, die ankündigen, demnächst soundsoviele Beschäftigte zu entlassen, kann die Angst sprunghaft zunehmen. Berufstätige, deren Arbeitsplatz über 21/2 Jahre dauerhaft unsicher ist, leiden etwa doppelt so häufig unter Krankheiten und Depressionen wie Berufstätige, deren Arbeitsplatz dauerhaft sicher ist. Wird der Arbeitsplatz sicherer, nehmen Krankheiten und Depressionen deutlich ab.[21]

Die Angst, arbeitslos zu werden, steigt mit der Zahl der Arbeitslosen. Arbeitslosigkeit führt den LohnarbeiterInnen vor Augen, wie leicht sie ersetzbar sind.

Was LohnarbeiterInnen Angst einflößt, weckt beim Kapital Hoffnungen. Unter dem Stichwort »Hoffnung« meldete die Financial Times Deutschland, dass die Deutsche Bank »dank des Abbaus von Arbeitsplätzen« und Lohnsenkungen ihren Personalaufwand um 20% gesenkt habe. Ein Vorstandssprecher kündigte an, dass durch den Abbau von 9.200 Arbeitsplätzen bis Ende 2003 die Kosten weiter gesenkt werden sollen. »Deutsche Bank wirft Ballast ab«, so der Titel. (FTD 30.04.2002) LohnarbeiterInnen sind Ballast. Man muss sie abwerfen, damit der Profitballon wieder steigt. Als Menschen sind sie nebensächlich. Das macht Angst. »›Wer braucht mich?‹ ist eine Frage, die der moderne Kapitalismus völlig zu negieren scheint. Das System strahlt Gleichgültigkeit aus(…), wo Menschen behandelt werden, als wären sie problemlos ersetzbar oder überflüssig.«[22]

Wer braucht eigentlich ein System, das so vielen Angst einflößt und ihnen das Gefühl gibt, überflüssig zu sein?

 

Kapitel 1.255: Depressionen

Alle Krankenkassen stellen fest, dass vor allem Depressionen (starke Niedergeschlagenheit) stetig zunehmen. Inzwischen sind sie die vierthäufigste Krankheitsursache. Acht Millionen Menschen in Deutschland sollen an einer behandlungsbedürftigen Depression leiden. Aber nur ein Drittel von ihnen suche Hilfe. Von diesen wiederum werde bei höchstens der Hälfte eine Depression festgestellt, so Freya Wenzel, Oberärztin der Psychosozialen Ambulanz der Uniklinik Frankfurt.

Der Landesgeschäftsführer der Deutschen Angestelltenkasse (DAK) in Hessen, Willi Leber, »nimmt an, daß immer mehr Menschen auf die Anforderungen im beruflichen wie privaten Umfeld mit psychischen Schwierigkeiten reagieren.« (FAZ 03.07.2002) »Eine mögliche Ursache für den Anstieg seien Arbeitsverdichtung und Stress,« so Judith Berger vom Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialforschung, aber auch der steigende Konkurrenzdruck. (FR 04.07.2001)

Beispiel:

Judith Arndt arbeitete in einem Möbelhaus als Verkäuferin. Sie erhielt nur ein sehr knappes Festgehalt. Sie war also gezwungen zu verkaufen, um Provisionen zu bekommen. Der Zwang zu verkaufen und die Konkurrenz unter den VerkäuferInnen waren so hart, dass sie mehrmals einen Nervenzusammenbruch hatte. Als sie krank war, warb ein Kollege ihr einen wichtigen Kunden ab, mit dem sie schon alle Vorverhandlungen getroffen hatte. Ihr entging die Provision. Sie kündigte aus »nervlichen Gründen« und konnte am letzten Arbeitstag nur noch weinend die Verkaufsgespräche führen. Die Arbeitslosigkeit fand sie deshalb »gar nicht so schlimm«.[23]

Depressionen entstehen, wenn einem alles zu viel wird. Sie entstehen, wenn Bedingungen, die belastend sind, als unveränderbar empfunden werden, wenn einem alles über den Kopf wächst. Sie entstehen, wenn man sich ohnmächtig fühlt, Einfluss zu nehmen. Lohnarbeit ist in erster Linie nicht das Heilmittel gegen Depressionen, sondern eine ihrer wichtigsten Bedingungen.

Die Zahl der Krankheitstage wegen psychischer Störungen nahm 2001 um über 50% zu. (FAZ 03.07.2002) Gerade in der von der Wirtschaft begehrten Altersgruppe der bis zu 44­ährigen Arbeitskräfte »sind psychische Probleme inzwischen weltweit (…) das häufigste Gebrechen. In Deutschland sind sie Hauptursache für einen vorzeitigen Berufsausstieg wegen Arbeitsunfähigkeit.«[24]

Beschäftigte mit psychischen Erkrankungen können aufgrund ihrer Fehlzeiten krankheitsbedingt gekündigt werden. Als Arbeitslose sehen sie gesund aus und sind es doch nicht. Sie sehen arbeitsfähig aus und sind es doch nur eingeschränkt. Sie scheinen nicht arbeiten zu wollen, obwohl sie eigentlich nur Angst haben, wieder zu »versagen«.

 

Kapitel: 1.256: Vorsorge eher für Maschinen als für Menschen

Betriebe haben für ihre technischen Geräte zahllose Wartungsverträge abgeschlossen. Die Geräte werden regelmäßig überprüft, damit sie möglichst lange störungsfrei laufen. Das beugt Reparaturen und Ausfallzeiten vor. Was für Maschinen gilt, gilt aber in der Regel nicht für Menschen.

Arbeitsbedingungen werden nicht gründlich untersucht, ob sie die Störanfälligkeit und den Reparaturbedarf von Menschen fördern. Menschen sind nicht so wichtig. Der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaft fragt zu Recht: »Prävention (Vorbeugung) nur für Maschinen?« und mahnt: »Kein Zweifel: Prävention kostet Geld. Deshalb wird sie oft vernachlässigt.«[25] Bei Maschinen nicht, wohl aber bei Menschen.

Im 1996 verabschiedeten Arbeitsschutzgesetz steht zwar: »Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei ihrer Arbeit beeinflussen.« (§ 3) Das neue Gesetz drückt die Notwendigkeit von Veränderungen aus. Aber es gibt »in der betrieblichen Praxis ein beträchtliches Umsetzungsdefizit.«[26] Könnte man es nicht auch Rechtsbruch nennen?

Nach einer Umfrage der Süddeutschen Zeitung bei 47 großen Unternehmen hat nur eine einzige Firma es ermöglicht, dass die Gesamtbelegschaft sich während der Arbeitszeit kostenlos im firmeneigenen Gesundheitszentrum untersuchen lassen kann und dabei auch geprüft wird, ob die Arbeitsplätze etwas mit gesundheitlichen Problemen zu tun haben. Im allgemeinen herrscht die Einstellung vor, dass Vorbeugemaßnahmen den betrieblichen Profit verringern.

Der Medizinsoziologe Johannes Siegrist fasst zusammen: »Krankheiten werden diagnostiziert und medizinisch therapiert. Prävention dagegen ist kaum ein Thema.« Und er nennt auch den Grund: »Investitionen in die Gesundheit der Mitarbeiter rentieren sich – grob gesagt – erst mittelfristig.«[27] Die Missachtung der Prävention, anders ausgedrückt: das »Umsetzungsdefizit« bei der Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes erhöht den Profit des Kapitals. Die Laufzeiten von Maschinen sind wichtiger als die Laufzeiten von Menschen. Ihre Gesundheitsinteressen werden vom Kapital nur insoweit gefördert, als sie die »Wettbewerbsfähigkeit« d.h. die Profitraten fördern. Die Mißachtung der Gesundheit aber fördert die Profitraten im Großen und Ganzen mehr als ihre Förderung. Es ist von daher nicht möglich, »die Interessen der Menschen an positiven, gesundheits- und persönlichkeitsfördernden Arbeitsbedingungen mit der Notwendigkeit wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze«[28] zu verbinden, wie es Bundesregierung, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften im Mai 2002 formuliert haben. Die Herstellung der »Wettbewerbsfähigkeit« ist doch gerade die Ursache der Mißachtung der »Interessen der Menschen« an ihrer Gesundheit und nicht das Mittel zu ihrer Verwirklichung.

 

Kapitel 1.2571: Erst krank, dann entlassen

Die LohnarbeiterInnen haben erkämpft, dass Unternehmen bei Krankheit sechs Wochen den Lohn weiterzahlen müssen (die sogenannte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall). Das Kapital unterstellt, dass LohnarbeiterInnen krank machen, um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall als eine Art soziale Hängematte für Faulenzer in Anspruch zu nehmen. Es bedroht Kranke mit Entlassung. Deswegen beißen viele die Zähne zusammen. »Es geht schon«, heißt es.

Beispiel:

Hans-Jürgen Honisch, 46 Jahre alt, arbeitet seit 30 Jahren als Dreher. Dutzende Male am Tag hebt er fünf bis fünfzehn Kilo schwere Werkstücke ins Futter seiner Drehmaschine. Rumpf vorbeugen, Werkstück nach links wuchten, einspannen. »Immer drüber heben, immer den Oberkörper verdrehen, und das seit dreißig Jahren schon.« Die Rechnung: mit 42 Jahren der erste Bandscheiben-Vorfall, mit 45 Jahren der zweite. Honisch ließ sich nach dem zweiten Vorfall wie ein Hochleistungssportler fitspritzen, nahm Tabletten, bis er nach Wochen die Kur antreten konnte. Er wollte sich nicht krankmelden. »Entlassungen werden den Arbeitgebern zu leicht gemacht«, sagt er.[29] Die Angst vor Arbeitslosigkeit treibt ihn, die Schmerzen auszuhalten. Aber irgendwann ist er trotzdem fertig.

Wenn er dann arbeitslos ist und die Schnauze voll von Lohnarbeit hat, wird er der Faulheit verdächtigt.

Muskel- und Skeletterkrankungen verursachen mit Abstand die meisten Ausfalltage in der Produktion. Und sie haben nicht selten auch psychische Ursachen. »Schlechte Arbeitsbedingungen sind schuld an jedem dritten kaputten Rücken.«[30] Honischs und Freitags gibt es zu Hunderttausenden, in den Werkshallen und Büros. Im Auftrag der Gmünder Ersatzkasse fand die Sozialforschungsstelle Dortmund heraus, dass zwei Drittel von 2.000 Bürofachkräften unter Rücken- und Gelenkschmerzen leidet. (Weserkurier 07.07.1999) Jede dritte Frührente hat als Ursache Muskel- und Skeletterkrankungen. Und oft geht der Frühverrentung Arbeitslosigkeit voraus.

 

Kapitel 1.2572: Krankenstand fällt

Der Krankenstand (Zahl der Kranken pro 100 Pflichtversicherten) stand noch zwischen 1991 und 1995 auf 4,9 bis 5,2. Seit 1997 ist er von 4,1–4,2 auf 4 im Jahre 2002 gefallen.[31] Je niedriger der Krankenstand ist, desto länger wird – bei gleichem Lohn – die effektive Arbeitszeit der Arbeitskräfte. Insgesamt stieg dadurch zwischen 1991 und 2000 das verfügbare Arbeitsvolumen um 320 Mio. Arbeitsstunden oder umgerechnet 200.000 Vollzeitkräfte. Das steigerte den Profit um viele Milliarden. Die Ausgaben für Lohnfortzahlung sanken im Produzierenden Gewerbe von 1992 bis 2000 um rund 15%.[32]

Zu den Ursachen für den Rückgang des Krankenstandes auf das bisher tiefste Niveau der Nachkriegszeit zählt mit Sicherheit die wachsende Angst vor Arbeitslosigkeit.

Ein bedeutender Teil der Senkung des Krankenstandes und der dementsprechenden Lohnkosten dürfte aber darauf zurückzuführen sein, dass Betriebe die Minderleister in verstärktem Maße entsorgt haben. Besonders seit der Krise 1992/93 wird der Krankenstand ins Visier genommen. Viele Betriebe gehen auf Krankenjagd.[33] Die Betriebszeitung »Kollegen von Daimler informieren« aus Bremen schrieb dazu: »Krank ist die Fabrik. Krank ist die Personalpolitik. (…) Krank sind die, die nur noch von ›Wirtschaftlichkeit‹ und ›Wertschöpfung‹ faseln, die aber gleichzeitig die einzigen ›Wertschöpfer‹, nämlich die Kollegen am Band, nur noch als Unkostenfaktoren sehen.«[34]

»Niedriger Krankenstand kann bei schwächerer Wirtschaftslage und mehr Spielraum bei der Arbeitszeit(…) dazu führen, dass Neueinstellungen unterbleiben und Entlassungen eher ausgesprochen werden – gerade für Leistungsschwächere mit hohen Krankheitszeiten.«[35]

Niedrigerer Krankenstand der Einen fördert verrückterweise die Arbeitslosigkeit der Anderen.

Die »Minderleister« sammeln sich im großen Auffangbecken Arbeitsamt (oder in der Rente). 1990 wiesen z.B. 25,9% der westdeutschen Arbeitslosen gesundheitliche Beeinträchtigungen auf, im Jahre 2000 waren es 29,2%.[36] Zwei Drittel der gesundheitlich beeinträchtigten Arbeitslosen sind zwischen 45 und 65 Jahre alt, verschlissen durch das Kapital.

Beispiel:

Die Abteilungsleiter eines Siemens-Betriebs in München sind aufgefordert worden, Listen mit den 10–15% »Minderleistern« im Personal abzugeben. Diese werden dann zu Aufhebungsverträgen gedrängt oder mit Kündigung bedroht.[37]

Da es gefährlich ist, krank zu sein, nutzen nur jede dritte Frau und jeder sechste Mann die Möglichkeiten zur Vorsorge. »Diese Gesellschaft redet nicht über Krankheiten«; stellt CDU-Politiker Ulf Fink fest. (FTD 16.05.2002) Schwächen zuzugeben, kann eben dazu führen, dass man vom Kapital aussortiert wird.

 

Kapitel 1.258: Leiden und Distanzierung/Empörung nehmen zu

Unternehmen sind eine bedeutende Quelle der Zunahme psychischer Erkrankungen, von Sucht und gesundheitlichem Verschleiß. Aber sie produzieren nicht nur Leid, sondern auch Ablehnung und den Widerstand gegen diese Verhältnisse.

In der Metall-Umfrage erklärte rund die Hälfte der Befragten: »Arbeit ist etwas, womit ich mein Geld verdiene; mehr ist es eigentlich nicht.«[38] Das bedeutet nicht, dass diejenigen, die so etwas sagen, überhaupt keinen Spaß an der Arbeit hätten. Rund 80% haben Spaß an ihrer Arbeit und finden sie interessant, aber bezeichnenderweise hielten sie ihr Privatleben für wichtiger als die Arbeit. In der Familie leben sie für sich selbst, in der Firma leben sie überwiegend für fremde Zwecke.

Die innere Distanzierung von fremdbestimmten Verhältnissen kann bis zur inneren Kündigung führen. Jeder fünfte Un- und angelernte Arbeiter oder Angestellte und jeder achte Facharbeiter geht ohne Lust und Motivation zur Arbeit und hat innerlich gekündigt.[39] Nach einer Gallupumfrage aus dem Jahre 2001 sind von 100 MitarbeiterInnen 69 sogar unengagiert, 15 sind aktiv unengagiert und nur 16 engagiert.

Die innere Kündigung ist eine Form der Selbstverteidigung. Man identifiziert sich nicht mehr mit dem Unternehmen, das Angst erzeugt und individuelle Bedürfnisse mißachtet. Man tut nur noch das Notwendigste. Angst vor Entlassung schränkt die Risikobereitschaft weiter deutlich ein.

Die innere Distanzierung ist eine Folge der Eigentumsverhältnisse, die dazu führen, dass »die da oben sowieso machen, was sie wollen«. Wenn die Unteren nicht gefragt sind, warum sollen sie sich dann engagieren?

»Nicht mit Worten kann gegen das Phänomen der inneren Kündigung angegangen werden, sondern nur mit einem Handeln, das die Firma für die Beschäftigten als verläßlichen und gestaltbaren Raum erscheinen läßt.«[40] Unternehmen werden aber in erster Linie von denen gestaltet, denen sie gehören. Unternehmen, die ihnen nicht gehören, können LohnarbeiterInnen letztlich auch nicht gestalten. Verlässlichkeit d.h. Existenzsicherheit ist nicht möglich, wenn das Kapital den technischen Fortschritt nutzt, um immer mehr Menschen überflüssig zu machen. (Kap 2.1) Und wenn es Krisen produziert, in denen es einen Teil von dem wieder vernichtet, was aufgebaut worden ist. (Kap 2.3)

Mehr Sport, gesünder essen, weniger rauchen – die meisten Formen, den wachsenden Stress zu managen, setzen an den Arbeitskräften an, nicht am Arbeitsplatz (und schon gar nicht am Wirtschaftssystem). »Statt einer individuellen Symptombekämpfung fordern deshalb viele Wissenschaftler eine tiefgreifende Wurzelbehandlung: die Schaffung ›gesunder Organisationen‹.«[41] Mit gesunden Organisationen sind Unternehmen gemeint, die den Selbstrespekt, das soziale Klima und die Zusammenarbeit fördern. Die Notwendigkeit dafür nimmt zu, wenn die Produktivkräfte der Menschen entwickelt und nicht immer stärker gehemmt werden sollen. Der zerstörerische Stress in den Unternehmen ist jedoch gerade die Folge der Logik der Kapitalverwertung, die alles beherrscht. (Kap 3.11–3.13)

LohnarbeiterInnen spüren in wachsendem Maße Gegensätze zwischen sich und dem Kapital. Die Feststellung: »Es ist richtig, vom Klassenkampf zu sprechen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben im Grunde völlig unvereinbare Interessen«, antworteten 1980 noch 25% mit Ja, 1997 aber schon 44%. Die Zahl derjenigen, die für eine partnerschaftliche Verständigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern eintraten, nahm von 58% auf 41% ab. (Allensbach-Institut für Demoskopie 1997)

Angst kann Ausgangspunkt für den Rückzug auf sich selbst sein, wenn man Probleme nur individuell mit sich selbst verarbeitet statt mit anderen zusammen.

Sie kann aber auch Ausgangspunkt sein, sich mit anderen zusammenzuschließen, um aus der Verbindung mit anderen Kraft für Veränderungen zu schöpfen. Sie kann Ausgangspunkt dafür sein, die Gefühle der Unzufriedenheit zu äußern und etwas verändern zu wollen.

Wenn man sich in sich selbst zurückzieht, hat man nichts zu lachen. Nicht lachen können, drückt nicht nur die Stimmung, sondern ist auch schlecht für die Gesundheit. Wenn man etwas zu lachen haben will, muss man aus sich herausgehen wollen.

Psychische Erkrankungen sind eine unbewußte Rebellion dagegen, dass Menschen Nebensachen sind. Sie drücken aus, dass die Verhältnisse nicht von Menschen beherrscht werden. Angstgefühle, die die Oberhand über Menschen gewinnen, drücken aus, das Lebensbedingungen bedrohlich für Menschen sind und anders eingerichtet werden müssten. Und wer kann es außer denen, die unter ihnen leiden? Wenn Menschen sich dagegen auflehnen, als Nebensache behandelt zu werden, geht es ihnen auch psychisch besser.

 

Anmerkungen

1) Horst Opaschowski in BILD 20. 10. 1999

2) Bäcker 2000, 337

3)  IGM, Gesünder arbeiten, März 2001

4) IG Metall-Zukunftsreport, Frankfurt 2001, 22 f.

5) Wolfgang Schmidbauer, Die Geheimsprache Krankheit, Reinbek 1998

6) Stress, Wie meistern wir die schöne neue Arbeitswelt?, in: GEO 03/2002, 161

7) Robert Karasek, Töres Thorell, Healthy Work, Basic Books 1990

8) GEO 03/2002, 159

9) GEO 03/2002, 159

10) Paul C. Martin, Johannes Marten, Warum wird der Stress im Job immer größer, BILD 10.11. 1999

11) Psychologe Oswald Neuberger (Uni Augsburg); Wirtschaftswoche 07. 01. 1999

12) Wirtschaftswoche 07. 01. 1999, 62

13) Jörg Staute, Das Ende der Unternehmenskultur, München 1997, 89

14) Miegel 2002, 129–131

15) Reinhard K. Sprenger, Aufstand des Individuums, Frankfurt 2000, 31

16) siehe Fußnote 4

17) Jürg Jegge, Angst macht krumm, Bern 1991

18) Michaela Böhm, Wenn Psychostress krank macht, metall 1–2/2001, 24

19) Winfried Panse, Wolfgang Stegmann, Kostenfaktor Angst, Landsberg 1996

20) siehe Fußnote 4

21) GEO 03/2002, 154

22) Richard Sennett, Der flexible Mensch, Berlin 1998, 201

23) Nach Annelinde Eggert, Selbstbildnis mit abgeschnittenem Haar, Zur Balance der Geschlechterrollen in Arbeitslosengruppen, aus: C. Büttner, H.­G. Trescher, Chancen der Gruppe, Mainz 1987, 73 f.

24) GEO 03/2002, 149

25) Arbeit und Gesundheit, November 2000, 13

26) Bäcker 2000, 454

27) GEO 03/2002, 160

28)  nach Klaus Pickshaus, Hans Jürgen Urban, Die Utopie von der guten Arbeit, FR 02. 01. 2003, 12

29) Fritz Arndt, »Bis zur Rente arbeiten kannst du vergessen«, metall 3/96, 10–13

30) IG Metall, Referat Arbeit und Gesundheitsschutz, Gesünder arbeiten Ausgabe 13 Mai 2001

31) IdW 2001, 79

32) IdW 2001, 50

33) dazu: Mag Wompel, Krankenverfolgung – Aktuelle betriebliche und gesellschaftliche Strategien im Umgang mit Kranken, Offenbach 1998

34) 02. 03.2000 aus www.labournet.de/branchen/auto/dc/417.html

35) Hans Kohler, Krankenstand – ein beachtlicher Kostenfaktor mit fallender Tendenz, IAB Werkstattbericht Nr.1/2002, 7

36) Arbeitsmarkt 2000, 140; Bäcker 2000, 331

37) Fred Schmidt, Tatjana Fuchs, Bilanz 2001, isw-wirtschaftsinfo 33, März 2002, 31

38) siehe Fußnote 4

39) Doris Becherer, Karl-Heinz Deichelmann, Ulrich Krystek, Innere Kündigung. Ursache, Wirkungen und Lösungsansätze auf der Basis einer empirischen Untersuchung, München 1995

40) Jörg Staute, a. a. O., 127

41) GEO 03/2002

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