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Updated: 18.12.2012 15:51
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»Die Reichtümer teilen, nicht das Elend«?

Artikel von Werner Imhof zur Kritik einer Losung sowie Anmerkungen zu Werner Imhof von Christoph Jünke. Beide Diskussionsbeiträge sind erschienen in Sozialistische Hefte Nr. 6 vom Mai 2004


»Die Reichtümer teilen, nicht das Elend«? Zur Kritik einer Losung
von Werner Imhof*

»Partager les richesses, non la pauvreté«, »Die Reichtümer teilen, nicht das Elend« ist seit Jahren eine der trotzkistischen Standardlosungen gegen die »neoliberale« Politik. Dass sie inzwischen zum Allgemeingut der sozialen Bewegung geworden zu sein scheint und auch von den SUD-Gewerkschaften und den »libertär-alternativen« Kommunisten propagiert wird, zeugt nicht von der Intelligenz der Losung, sondern von der Zwiespältigkeit der französischen Bewegung einschließlich ihrer aufgeschlossensten Teile. Die Losung läuft aber gerade nicht auf die Forderung nach einer anderen Gesellschaft hinaus, sondern auf die Forderung nach einer anderen – Politik, einer anderen Rolle des Staates.

Umverteilung und Produktionsweise

Zunächst: Um die Verteilung bzw. Umverteilung welcher »Reichtümer« geht es? Nicht um die der Produktionsmittel. Deren »Verteilung«, d.h. ihre Existenz als Privateigentum, stellt die Forderung ebenso wenig in Frage wie die ihr entsprechende Verteilung der »dissoziierten« gesellschaftlichen Arbeitskraft und die daraus folgende Struktur der Warenproduktion. Es geht auch nicht um die unmittelbare Verteilung der Konsumtionsmittel, denn die Forderung richtet sich nicht an den Einzelhandel, sondern an die Regierung. Worum es geht, ist der Teil des in Geld verwandelten gesellschaftlichen Gesamtprodukts, der den »Wirtschaftssubjekten« entsprechend ihrer Stellung im bzw. zum Produktionsprozess als Einkommen oder Revenue zufließt, gleichgültig, welche konkreten Waren das Geld versilbert hat. Pecunia non olet. Da die Einkommen samt den daraus gebildeten Geld(kapital)vermögen ungleich »verteilt« sind, soll der Staat diese Ungleichheit beseitigen oder doch mildern, konkret: die Kapitaleinkommen und großen Vermögen, also die verschiedenen Bestandteile des Mehrwerts, durch höhere Steuern und Abgaben schröpfen und die so gewonnenen Mittel den Beziehern niedriger Einkommen, also Lohnabhängigen, Arbeitslosen und Rentnern, durch Steuersenkungen und höhere Sozialleistungen zugute kommen lassen.

Doch was würde – einmal unterstellt, es fände sich eine Regierung, die sich darauf einließe – mit den umverteilten Reichtümern passieren? Sie würden durch Austausch gegen Konsumtionsmittel in die Zirkulation zurückkehren und aufgrund der gesellschaftlichen Arbeitsteilung im Großen und Ganzen wieder dorthin fließen und erneut Mehrwert realisieren, wo sie entstanden waren. Das Problem der ungleichen Einkommen wäre nicht beseitigt, sondern nur reproduziert, und der Staat müsste aufs Neue eingreifen. Vorausgesetzt, dass das Kapital »mitspielt«, läuft die Losung also darauf hinaus, als Dauerzustand zu erhalten, was sie beseitigen möchte. Die Gesellschaft soll ihre Produktionsweise unverändert fortsetzen, damit der Staat permanent deren Ergebnisse korrigieren (können) soll. Das Privateigentum soll sich weiterhin ordentlich vermehren, aber nur zu dem Zweck, dass der Staat den Mehrwert »sozialisieren« kann (genauer: den theoretisch abschöpfbaren Teil des Mehrwerts, denn Handel, Kreditwesen und einige andere Branchen müssten schließlich weiter aus dem Mehrwert unterhalten werden). Das wäre allerdings eine bequeme, wenn auch paradoxe Art, gesellschaftliche Armut zu beseitigen, ohne die gesellschaftliche Produktionsweise umkrempeln zu müssen. Die ständig beschworene »soziale Transformation« würde überflüssig, durch staatliches Handeln ersetzt. Oder vielmehr: Was als »soziale Transformation« bezeichnet wird, meint tatsächlich oft nur ihre Ersetzung durch staatlich organisierte »Verteilungsgerechtigkeit«. Exemplarisch dafür ist die »Universelle Deklaration des Rechts auf Steuergerechtigkeit als Element sozialer Gerechtigkeit«, verabschiedet auf dem Weltsozialforum 2002 in Porto Alegre und mitunterzeichnet von der Gewerkschaft französischer Finanzbeamter, SNUI, Mitgliedsverband in der »Groupe des 10 Solidaires«.

Ökonomisches Wunschdenken

Die Konstruktion hat nur einen Haken: Sie beruht auf ökonomischem Wunschdenken – von der Frage der politischen Realisierbarkeit mal ganz abgesehen. Sie setzt voraus, dass erstens eine konfiskatorische Gewinn- und Vermögensbesteuerung die kapitalistische Produktion unberührt ließe und zweitens der Staat daher überhaupt eine ernsthafte Option hätte, sie einzuführen und durchzuhalten.

Doch Kapital tauscht sich nicht gegen Arbeitskräfte und Produktionsmittel, um sich nur als Wert zu erhalten, sondern um sich zu vermehren. Es kann sich nur erhalten, indem es sich vermehrt, und das unaufhörlich. Es muss also akkumulieren, und zwar mit ständig wachsendem Anteil des konstanten, in Produktionsmittel ausgelegten Kapitals gegenüber dem variablen, in Arbeitskraft investierten Kapital. Dass es damit langfristig seine eigene Verwertung untergräbt, indem es die durchschnittliche Profitrate senkt, interessiert es nicht und muss es nicht interessieren, solange gesamtgesellschaftlich die Akkumulationsrate die Steigerung der Arbeitsproduktivität übertrifft, die produktive Beschäftigung insgesamt also noch zunimmt. Doch mit steigender Zusammensetzung des Gesamtkapitals oder sinkender Profitrate sinkt auch die Akkumulationsrate und muss irgendwann ein Stadium erreichen, wo sie die Einsparung lebendiger Arbeit nicht mehr kompensieren kann, die produktive Beschäftigung also stagniert oder gar schrumpft. Auch das ist für das Kapital noch nicht unmittelbar bedrohlich, solange die Profitrate reicht, eine absolut wachsende Profitmasse zu realisieren. Dennoch eröffnet sich ein Horrorszenario für das Kapital: die Möglichkeit, dass sinkende Beschäftigung nicht mehr oder kaum noch durch eine schneller steigende Mehrwertrate ausgeglichen werden kann, was eine kaum noch wachsende, stagnierende oder gar schrumpfende Profitmasse zur Folge hätte. Damit aber würde der Akkumulationstrieb erlöschen und mit ihm der Motor der kapitalistischen Produktion überhaupt. Eine allgemeine Depression mit ungewissem Ausgang wäre die Folge.

Eine Steuerpolitik, die – sofern sie denn griffe – die Profitmasse kontrahieren oder auch nur stagnieren ließe, hätte einen ähnlichen Effekt. Die Produktion von Produktionsmitteln für die Erneuerung und Erweiterung des fixen Kapitals würde als erstes einbrechen, gefolgt von allgemeiner Desinvestition des Kapitals aus allen anderen Bereichen, begleitet von Produktionsverlagerungen ins Ausland, massiver Flucht von Geldkapital, Steuerhinterziehung, Zunahme der Schwarzarbeit u.a.m. Die vorübergehend gestiegenen Staatseinnahmen würden schnell wieder schrumpfen und wegen zunehmender Arbeitslosigkeit den vorherigen Stand unterschreiten bei gleichzeitig wachsenden Belastungen des Staatshaushalts. Der Regierung bliebe nur die Wahl, die Steuerpolitik zu stornieren und zu dem zurückzukehren, was seit zwei, drei Jahrzehnten die Regierungen aller kapitalistischen Länder mit unterschiedlicher Energie und unterschiedlichem Erfolg betreiben und betreiben müssen: durch Kostenentlastung und Subventionierung des Kapitals das Wachstum der Profitmasse, damit den Fortgang der Akkumulation und das Wirtschaftswachstum überhaupt zu sichern.

Das Kapital, die verselbstständigte Macht der vergangenen, in Produktionsmitteln und Geld vergegenständlichten Arbeit, sich auf Kosten der lebendigen Arbeit zu vermehren, hält nicht nur die Gesellschaft in Geiselhaft, sondern auch den Staat, der längst nur noch ein Geschöpf von seinen Gnaden ist, weil er keine andere ökonomische Basis hat als die erfolgreiche Kapitalverwertung. Die aber lässt sich eben nicht ewig als immer gleicher, nur von Konjunkturkrisen unterbrochener Kreislauf fortsetzen. Sie muss auf ein Stadium zusteuern, wo sie an ihrem eigenen Erfolg zu ersticken droht. Weil zuviel Kapital akkumuliert ist, gemessen an der Menge lebendiger Arbeit, die es kommandieren kann, um mit der damit gegebenen Profitrate progressiv wachsende Profitmassen zu produzieren. Und weil gleichzeitig die akkumulierbare Profitmasse zu gering ist, um bei gegebener Wertzusammensetzung des Kapitals eine wachsende Menge lebendiger Arbeit in Bewegung zu setzen. Keine bürgerliche Regierung kann es sich erlauben, die drohende Akkumulationsblockade nicht ernst zu nehmen und dem »armen« Kapital keine Akkumulationshilfe zu leisten, nicht zuletzt dadurch, dass sie sich Teile des Mehrwerts ausleiht, um sie in Form von Steuergeschenken und Subventionen wieder ans Kapital zu verteilen. Um Umfang, Tempo, Formen und öffentliche Darstellung dieser Art von »Sozialhilfe« mögen die bürgerlichen Parteien streiten, und insofern hat die Politik durchaus ihre »Spielräume«. Ihre generelle Ausrichtung aber ist durch die kapitalistische Produktionsweise vorgegeben, wie inzwischen auch die PDS erfahren hat.

Revolutionäre Fragestellung?

Ein Trotzkist würde hier möglicherweise einwenden, dass die Losung natürlich »revolutionär« zu stellen bzw. zu verstehen sei, also voraussetze oder doch darauf hinauslaufe, dass nur eine »Regierung der Arbeiterklasse« willens und imstande sei, sie zu realisieren. Und tatsächlich betonen die Trotzkisten ja auch ständig, dass das »herrschende System« nicht reformierbar sei. Doch erstens wird die Losung seit Jahren sehr wohl ohne jeden »revolutionären« Vorbehalt an die gerade amtierende Regierung gerichtet, weshalb sie auch jene »Experten« auf den Plan ruft, die ihre Kapitalverträglichkeit zu beweisen suchen. Und die »Alternative libertaire« hat die Forderung an die derzeitige Regierung Raffarin gar noch mit der abenteuerlichen Drohung »oder man wird sich bedienen« (»ou on se servira«) bekräftigt, was einem Aufruf zur Plünderung der Banken, Kaufhäuser und Supermärkte gleichkommt.

Zweitens aber wäre auch eine »Regierung der Arbeiterklasse«, die verspräche oder auch versuchte, auf dem Boden fortgesetzter kapitalistischer Produktionsverhältnisse »Verteilungsgerechtigkeit« herzustellen, entweder zum Scheitern verurteilt oder sowieso nur ein Etikettenschwindel. Denn wenn der konkrete Geschichtsverlauf auch grundsätzlich unvorhersehbar ist, möchte ich doch eine bedingte Prognose wagen: dass nämlich eine »Regierung der Arbeiterklasse« – wenn darunter denn ihre Selbstregierung zu verstehen sein soll und nicht eine Regierung im Namen der Klasse über sie – unmöglich ist, solange die Lohnabhängigen nur gegen die herrschende Verteilungsweise rebellieren, ohne die Produktionsweise in Frage zu stellen, die sie hervorbringt. Oder positiv formuliert: dass sie sich überhaupt nur dann zur Klasse »für sich« vereinigen und zur Selbstregierung befähigen können, wenn sie sich als Glieder eines kollektiven Gesamtarbeiters begreifen, die mit der gesellschaftlichen Produktion auch die Verteilung der Produkte unter ihre gemeinsame Kontrolle bringen können und wollen, und zwar nicht in ihrer Eigenschaft als organisierte politische Macht, sondern als freie Assoziation selbstbewusster Produzenten.

Für die Trotzkisten ist die Losung »Verteilung (oder Umverteilung) der Reichtümer« eine ihrer instrumentellen »Übergangsforderungen«, die »die Massen an die Revolution heranführen« und der »Avantgarde« zur politischen Macht verhelfen sollen, damit sie dann ihr Programm durchführen kann, das den Massen anders nicht zu vermitteln sei. Es ist ja nicht einmal ausgeschlossen, dass eine breite soziale Bewegung einmal eine linksradikale Regierung mit trotzkistischer Beteiligung oder gar Führung ins Amt spült. Doch das Schicksal der Bewegung würde dann abhängen – nicht von den politischen Maßnahmen und Manövern der Regierung im Kampf gegen die todsichere wirtschaftliche Obstruktion und Sabotage des vereinten Privateigentums. Es würde allein davon abhängen, ob die Bewegung selbst vorbereitet und in der Lage wäre, der ökonomischen Macht des Kapitals die praktische (und nicht etwa bloß die juristische) Existenzgrundlage zu entziehen, also die private Produktion für den Austausch von Arbeitszeitäquivalenten, der in der unmittelbaren oder privaten Produktion selbst notwendig sein Gegenteil, die Leistung unbezahlter Arbeit, einschließt, zu ersetzen durch die gemeinschaftliche Selbstorganisation der Produktion ohne Austauschbeziehungen und Geld. Was dauerhaft wiederum wohl kaum im nationalen Alleingang möglich wäre, sondern nur in einer Reihe wirtschaftlich und geografisch verbundener Länder, die zusammen nicht existenziell vom Weltmarkt, also vom Austausch mit dem Kapital, abhängig sind. Wenn nicht, wäre das Scheitern der Bewegung wie die Kapitulation der Regierung nur eine Frage der Zeit. Das ist die historische Lektion des gesamten 20.Jahrhunderts.

Für eine andere Gesellschaft oder für eine andere Politik?

Die Losung von der »Verteilung der Reichtümer« – so »sympathisch« sie im ersten Moment auch wirken mag – ist eben deshalb so fatal, weil sie nicht nur dem aktuellen Widerstand gegen die Regierung illusionäre Ziele setzt, sondern weil sie damit gleichzeitig den Zugang versperrt zu den praktischen Perspektiven der sozialen Bewegung in einer möglichen revolutionären Situation, die in Frankreich in Form einer sozialen Explosion durchaus vorstellbar ist. Die Losung greift den Protest gegen die fortschreitende Verarmung und Prekarisierung auf, um die nahe liegende Kritik der gesellschaftlichen Produktionsweise zu ersetzen durch die Anrufung der politischen Macht. Sie lenkt den Blick ab von der ökonomischen Praxis der Gesellschaft, an der die Lohnabhängigen durch ihre fraglose Unterwerfung unter die Produktion für den Austausch tagtäglich beteiligt sind, und richtet ihn auf eine »höhere«, scheinbar über der Gesellschaft thronende Instanz, den Staat, der doch nur der abhängige Überbau jener Praxis ist, ihre institutionelle Ergänzung. Sie reproduziert so die Subalternität und Selbstentfremdung der Lohnabhängigen noch im Protest gegen ihre Folgen.
Trotzdem könnte die Losung immer noch eine nützliche Rolle spielen, wenn sie denn zum Anlass genommen würde, eine öffentliche Debatte über die Produktionsweise des gesellschaftlichen Reichtums, den Formwandel seiner Bestandteile und deren Verteilung zu entfalten. Doch eine solche Debatte findet nicht statt, jedenfalls nicht in den mir bekannten Medien. Dass eine andere, solidarische Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums (bzw. des Teils davon, der überhaupt nur zur Verteilung unter die Individuen anstehen kann) auch eine andere, solidarische Art und Weise seiner Produktion erfordern könnte, scheint ein unbekannter Gedanke. Was diskutiert wird, ist allein das Verhältnis der sozialen Bewegung zur politischen Macht, zum Staat – wie man ihn am besten unter Druck setzt, wie man ihn langfristig erobern könnte oder auch, wie man ihn ummodeln müsste. Selbst die erklärten »Anti-Etatisten« der »libertären Alternative« diskutieren die »soziale Transformation« nur in politischen Kategorien, als Transformation des bürokratischen Zentralstaats in eine selbstverwaltete Föderation (»fédération autogérée«) nach dem Vorbild der Pariser Kommune, ohne die Transformation der kapitalistischen Produktionsweise als Problem gesellschaftlicher Praxis zu thematisieren.

Das erscheint umso erstaunlicher, als sich die soziale Bewegung in Frankreich (angemessener wäre eigentlich der Plural, wie ihn die Franzosen selbst gebrauchen) nun wirklich nicht auf eine Bewegung »für eine andere Politik« reduzieren lässt. Das Bedürfnis nach einer anderen Form der Gesellschaftlichkeit, nach solidarischen und zugleich selbstbestimmten Formen des praktischen Zusammenlebens, ist überall spürbar. Es hat die Atmosphäre des Dezember 1995 geprägt und in der scheinbar so simplen Losung des »tous ensemble« Ausdruck gefunden. Es motiviert den Protest gegen jede Form sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung und drückt sich gleichzeitig in der sog. »Krise der Repräsentation« aus, in der ständig betonten Autonomie der sozialen Bewegungen wie in der Selbstorganisation von Streikkämpfen. Und es stellt die Logik der herrschenden Produktionsweise (die Logik, nicht die sie erzeugende Praxis!) in Frage, indem die SUD-Gewerkschaften wie auch die Confédération Paysanne gegen die nackte Geldbeziehung und das rein betriebswirtschaftliche Kalkül die Verantwortung der Produzenten für gesellschaftlich nützliche und ökologisch verträgliche Produktion, die Solidarität von Produzenten und Nutzern verfechten.

Und doch stehen – auch in Frankreich – die elementarsten Formen bürgerlicher Beziehungen, der Austausch und die Produktion für den Austausch, außerhalb jeder Kritik und Reflexion, damit aber auch die »Dissoziierung« der gesellschaftlichen Arbeit in privat wirtschaftende Betriebe wie auch die Warenform des gesellschaftlichen Produkts und seine Verdoppelung in Ware und Geld. Das »Einfache, aber (scheinbar) schwer zu Machende« (Brecht), weil schwer zu Denkende – die Möglichkeit gemeinschaftlicher Produktion mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln – kommt daher nicht in den Blick. Bei der Confédération Paysanne ist das verständlich, weil die Erhaltung (klein-)bäuerlicher Privatwirtschaft Teil ihres Programms ist. Aber auch bei den SUD-Gewerkschaften fehlt jede Infragestellung oder gar Kritik der Waren- oder Wertform von Arbeitsprodukten und ihres praktischen Grunds, des Austauschs. Nicht anders bei der »extremen Linken«, die Libertär-Alternativen inbegriffen.

Zwiespältige Warenkritik

Dem scheint zu widersprechen, dass die derzeit populäre Variante der Warenkritik gerade in Frankreich ihren Ursprung hat (José Bové: Die Welt ist keine Ware). Doch tatsächlich ist diese Kritik sehr zwiespältig. Sie richtet sich – allgemein gesprochen – bisher nur gegen die Logik der kapitalistischen Produktionsweise, nicht aber gegen die praktische Grundlage, auf der diese Logik entsteht, die privat betriebene Produktion für den Austausch. Das heißt, die Kritik richtet sich gegen die Verselbstständigung des kapitalistischen, also profitträchtigen, Tauschwerts gegenüber dem Gebrauchswert (nicht gegen die Aufspaltung des Produkts in Gebrauchs- und Tauschwert überhaupt), und das auch nur in bestimmten Teilbereichen der gesellschaftlichen Arbeit, nämlich in der bäuerlichen wie industriellen Nahrungsmittelproduktion und in den öffentlichen Diensten. Sie zielt darauf ab, den Konflikt zwischen Gebrauchswert und Tauschwert sektoral zu versöhnen oder zu entschärfen, ohne ihn aufzulösen.

Aufzulösen wäre er nur durch die gesamtgesellschaftliche Vereinigung der Produzenten zu gemeinschaftlicher Produktion. Da diese Perspektive aber verschlossen ist, bleibt als einziger Ausweg die Hoffnung auf die »Politik«, also den Staat, in welcher Form auch immer, oder wie Bové es ausdrückt: auf den »Primat der Politik gegenüber der Ökonomie«. Tatsächlich läuft die französische Warenkritik in der Landwirtschaft auf das Projekt einer (durch begrenzte Betriebsgrößen und Produktionsmengen) staatlich geschützten kleinbäuerlichen Warenproduktion hinaus, und in den öffentlichen Diensten erschöpft sich die Perspektive weitgehend in der Erhaltung eines »gemäßigten« Staatskapitalismus sowie des steuerfinanzierten, unentgeltlichen Bildungssektors.

In der zwiespältigen Warenkritik drückt sich die Widersprüchlichkeit der sozialen Bewegung insgesamt aus. Einerseits entwickelt sie wesentliche Elemente für eine freie Vergesellschaftung oder Assoziierung der Produzenten (gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein, Bedürfnis nach Selbstorganisation, Abkehr von parlamentarischen und bürokratischen Vertretungs- oder Herrschaftsstrukturen), andererseits ist sie befangen in der Zwangsvorstellung des unaufhebbar scheinenden Austauschs und damit notwendig gefesselt an den Staat als illusorische Ersatzgemeinschaft der in Verkäufer und Käufer zerrissenen Gesellschaft. Sie kann daher eine »andere« als die nach ständiger »Liberalisierung« und »Deregulierung« drängende kapitalistische Produktion nur in konservativen und etatistischen Formen denken. Diese Widersprüchlichkeit scheint zumindest gespürt zu werden. Denn die häufigste Losung ist gerade nicht die Forderung nach einer »anderen Politik«, sondern die bewusst darüber hinaus gehende Beschwörung »Eine andere Gesellschaft (Welt) ist möglich«. Doch es bleibt eben eine Beschwörung, eine trotzige, aber unbestimmte Negation, die keine praktischen Konturen annehmen kann, ebenso wie die Vorstellung der »sozialen Transformation« nicht über den gemeinsamen Generalstreik des privaten und öffentlichen Sektors hinauskommt.

Die »Krise der politischen Repräsentation« ist also bei weitem noch keine Krise der Staatsfixierung und -gläubigkeit. Und sie wird es wohl auch nicht werden können, solange die Kritik der Tauschwertdominanz über den gesellschaftlichen Gebrauchswert oder Nutzen nicht umschlägt in eine Kritik des Austauschs selbst. Dazu aber ist sicher mehr nötig als eine theoretische Kritik der Warenproduktion, so wichtig sie auch heute schon wäre. Eine notwendige weitere Bedingung ist wahrscheinlich, dass sich eine praktische Entwicklung fortsetzt und verallgemeinert, die gerade erst begonnen hat: die Formierung eines gesellschaftlichen Produzententypus, wie ihn die SUD-Gewerkschaften und (obwohl Privateigentümer) auch die Confédération Paysanne verkörpern. Auch wenn deren Ausstrahlung weit größer ist als ihre nominelle Stärke, so stellen sie doch innerhalb der lohnabhängigen und selbstständigen Produzenten erst eine kleine und relativ isolierte Minderheit dar. Die SUD-Gewerkschaften repräsentieren nur etwa 3% aller gewerkschaftlich Organisierten und sind zudem – trotz einiger Organisationsansätze im privaten Sektor – weitgehend auf den öffentlichen Dienst beschränkt; und in der Confédération Paysanne sind gerade mal 2% der französischen Bauern organisiert.

Unter diesen Bedingungen können sich die SUDler schlecht als Teil eines produktiven Gesamtarbeiters begreifen, der mit vereinten Kräften die kapitalistische Welt aus den Angeln heben könnte. Und die Bauern können die Lohnabhängigen kaum als potenzielle Verbündete betrachten, wenn die ihnen am nächsten stehenden Beschäftigten der Nahrungs-, Futtermittel- und Chemieindustrie sich nicht wenigstens ansatzweise zum gemeinsamen Kampf für eine nutzenorientierte und nachhaltige Produktion aufraffen. Neben dem Bündnis mit Verbrauchern und Umweltschützern bleibt ihnen vorerst nur der Staat als Adressat ihrer Forderungen – und darüber hinaus die Hoffnung auf »neue Strukturen politischer Repräsentation« (Bové). Erst wenn sich mehr und mehr auch in allen anderen wichtigen Produktionszweigen Lohnabhängige als selbstbewusste Produzenten formieren, kann die Erkenntnis Fuß fassen, dass die private Form der gesellschaftlichen Teilarbeiten (oder der gesellschaftlichen Arbeitsteilung) und der Zwang zum Austausch nicht nur gesellschaftlich kontraproduktiv, sondern auch überflüssig sind, kann die Vorstellung einer gemeinsam organisierbaren unmittelbar gesellschaftlichen Produktion reifen. Doch das ist nur eine mögliche, keineswegs eine ausgemachte oder gar zwangsläufige Entwicklung. Ausgemacht ist für mich nur, dass Losungen wie »Die Reichtümer verteilen, nicht das Elend« sie nicht fördern, sondern nur behindern.

*) Werner Imhof ist ehemaliger Betriebsrat bei Mannesmann und lebt in Essen. Der Beitrag geht zurück auf eine politische Gruppenreise deutscher Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter nach Frankreich, über die in SoZ 8/2003 berichtet wurde.


Anmerkungen zu Werner Imhof
von Christoph Jünke*

An sich betrachtet ist der in die Parole »Den Reichtum verteilen, nicht das Elend« gegossene Gedanke einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten durchaus nicht »trotzkistisch«. In Deutschland bspw. ist sie ein »eherner« Bestandteil des linken Reformismus (bspw. der Memorandum-Gruppe, der Crossover-Zusammenhänge oder der PDS), der mittels Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zur Reregulierung von Produktions- und Konsumtionsweise beitragen möchte. In Frankreich mag dies anders erscheinen, weil dort die trotzkistische Strömung der Linken einen gewissen Avantgardecharakter gerade auch in politisch-strategischen Diskussionen einnimmt. Der Druck, sich konkret politisch zur Programmatik einer reformerischen Linken zu verhalten, mag dort dazu geführt haben, diese Parole in die eigene Strategieentwicklung zu integrieren. Das ändert aber nichts daran, dass sie zuerst und vor allem eine »reformistische« Forderung ist. Beide Aspekte sollten genauer auseinandergehalten werden, als es Werner Imhof in seiner auch sonst wenig überzeugenden Kritik tut.

I. Reichtumsverteilung als Reformismus

Die wie auch immer umfangreiche Umverteilung der gesellschaftlichen Reichtümer überwindet, so Imhof, nicht das Grundübel unserer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, das ihr zugrunde liegende Privateigentum an Produktions- oder auch Konsumtionsmitteln. Was er hierzu ausführt, ist sicherlich richtig. Und dem Prinzip nach stimmt dies auch für Imhofs Aussage, dass eine staatlich organisierte Verteilungsgerechtigkeit noch keine Transformation der sozialen Grundlagen unserer Gesellschaft bewirkt. In der Tat ist es paradox, auf der einen Seite die gesellschaftliche Produktionsweise unverändert zu lassen und auf der anderen Seite zu fordern, dass der Staat deren Ergebnisse immer wieder aufs Neue korrigieren soll. Und zum handfesten Widerspruch wird es, wenn man meint, mit der Umverteilung auch die Produktionsverhältnisse umwälzen zu können.
Aber erstens dürfte ein rundum erneuertes System staatlich organisierter Umverteilung von oben nach unten zu einer nachhaltigen (auch sozialen) Umgruppierung der herrschenden Fraktionen des Kapitals führen, die nicht uninteressant wäre. Und zum zweiten haben konsequentere Reformisten, wohl wissend um die von Imhof aufgezeigten Probleme, das Konzept eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors entwickelt, der durchaus nicht nach der Logik des Kapitals funktionieren soll. Damit setzt sich Imhof jedoch nicht auseinander. Bei einem solchen Modell würde eine andere Logik institutionalisiert, die sich sicherlich nicht organisch in den herrschenden Kapitalismus einfügen würde. Könnte der damit entstehende fundamentale Widerspruch zweier Logiken dann nicht praktisch-politisch zugespitzt, politisiert werden? Steht dann nicht die Frage ganz praktisch: Soll sich Verteilungs»gerechtigkeit«, sollen sich öffentlich geförderte Beschäftigung und Investition dem Primat der marktwirtschaftlichen Logik unterordnen und sich so immer wieder selbst ad absurdum führen? Oder soll sich die marktwirtschaftliche Logik dem Gedanken einer gerechten, emanzipativen Gesellschaft unterordnen? Und was hieße eine solche Unterordnung ganz praktisch, was bliebe dann noch von der Logik kapitalistischer Produktion?

Wir haben es hierbei natürlich auch mit der altbekannten Frage zu tun, ob es im Kapitalismus Gerechtigkeit geben kann. Und Imhof ergreift engagiert Partei für jene ebenso altbekannte Parole, dass es im falschen Leben kein wahres geben könne. Ich will nicht bestreiten, dass sich hier ein ausgesprochen wahrer - und nicht zu Unrecht traditionell von Marxisten vertretener - Gedanke verbirgt. Doch je näher man der gesellschaftlichen Praxis, zumal der emanzipativen Politik kommt, desto unwahrer wird der Gedanke. Gerade hier geht es immer und zuallererst darum, nicht für das abstrakt wahre und richtige Leben zu streiten, sondern für jenes wahrere und richtigere Leben, das das herrschende Elend anprangert, gegebenenfalls mildert und auf jeden Fall ein besseres Leben antizipiert.

Historisch gesättigte Erfahrung, d.h. Fakt, ist, dass die überwiegende Mehrzahl aller Kämpfe (bleiben wir mal nur in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung) Auseinandersetzungen um die Umverteilung des gesellschaftlichen Kuchens waren und sind. Der Kampf um die Aneignung des gesellschaftlich produzierten Mehrwerts - hier trage ich wahrscheinlich Eulen nach Athen - ist ein Verteilungskampf. Ist dieser defensive Kampf um Umverteilung ungerechtfertigt? Das hieße nichts weniger, als dass der gewerkschaftliche Kampf als solcher Unsinn wäre. Ist dies die Meinung eines alten Betriebsrats wie Imhof?

Dass der Kampf um Umverteilung keiner ist, der gleichsam automatisch die gesellschaftliche Produktionsweise in Frage stellt, auch diese Erkenntnis kann nach zwei Jahrhunderten industriellem Kapitalismus als historisch gesättigtes Faktum betrachtet werden. Auch insofern ist Imhof zuzustimmen. Aber ist dies wirklich die zur Diskussion stehende Frage? Ist es nicht mindestens ein quantitativer Unterschied, ob wir in einer Gesellschaft relativen Wohlstands und ökonomischer Prosperität oder in einer Gesellschaft sich verbreitender Armut und ökonomischer Unsicherheit leben? Und wäre dies nicht einen Kampf wert?

Werner Imhof sagt nein, aus zwei Gründen. Zum einen sei dies ökonomisches Wunschdenken, weil das Kapital es strukturell nicht tolerieren kann, seinen Teil des Kuchens zu verkleinern und es heute ja gerade auf eine Vergrößerung des Teils angelegt hat. Würde es trotzdem entsprechende Zugeständnisse machen, würde das Erlöschen des Akkumulationstriebs und damit die Blockierung des kapitalistischen Produktionsmotors drohen. Zum anderen handele es sich dabei um politisches Wunschdenken, da der Staat keinerlei Autonomie mehr gegenüber den Kräften des Kapitals besitze. Der Staat ist »längst nur noch ein Geschöpf von seinen Gnaden ... weil er keine andere ökonomische Basis hat als die erfolgreiche Kapitalverwertung«.

Beide Argumente Imhofs sind mehr als fraglich und Ausdruck eines zutiefst ökonomistischen Denkens.

Das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital ist zweifelsohne abhängig davon, ob die kapitalistische Produktionsweise in der Lage ist zu akkumulieren und zu prosperieren. Aber es bleibt ein gesellschaftliches Verhältnis zwischen Menschen und Klassen. »Das Kapital« hat in seiner nun bereits allzu langen Geschichte mehrfach unter Beweis gestellt, dass es jede Form von sozialen oder politischen Zugeständnissen zu machen fähig und bereit ist, solange man ihm nur seine Verfügungsgewalt über das Privateigentum an Produktionsmitteln nicht nimmt, da dieses die Basis ist, die gemachten Zugeständnisse später wieder zurückzunehmen. »Das Kapital« hat schon einmal einen Sozialstaat zugestanden - warum nicht ein zweites Mal, wenn es denn unbedingt sein muss, damit nichts Schlimmeres passiert? Sicher, die mittlerweile klassische Antwort des radikalen Linken ist: Das geht diesmal nicht, weil das Kapital sich in einer strukturellen Akkumulationskrise befinde. Doch verbirgt sich in dieser Argumentation nicht gerade jener ökonomistische Determinismus, jenes ökonomistische Zusammenbruchsdenken, den oder das zu hinterfragen uns die bisherige Geschichte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft mindestens nahe legt?
Ein solcher Ökonomismus ist auch Imhofs Staatsdenken eigen. Der Staat ist noch immer nicht unwesentlich ein Steuerstaat, und damit relativ, ich betone: relativ, unabhängig von der Kapitalakkumulation. Wenn sich die linke, marxistische Staatsdebatte der letzten Jahrzehnte in einem einig ist, dann doch darin, dass der moderne bürgerliche Staat durch eine relative, ich betone: relative, Autonomie gekennzeichnet ist. Dass der Neoliberalismus seit langem und auf vielfältigste Weise bemüht ist, diese relative Unabhängigkeit einzuschränken und den Staatsapparat wieder enger an die Bedürfnisse und Ziele des Kapitals zu binden, ändert an dieser grundsätzlichen Situation nur wenig. Auch die Übertreibungen des Beginns der 90er Jahre, die Globalisierung mache den (National-)Staat überflüssig, haben sich zwangsläufig als reichlich hohle Luft erwiesen. Zwangsläufig deswegen, weil sich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft strukturell verdoppelt in das Reich der Ökonomie und das Reich der Politik. Private Kapitalakkumulation kann aus sich heraus keine Gesellschaftlichkeit herstellen. Sie bedient sich deswegen der bürgerlichen Staatsform, weil in ihm der politische Zusammenhang in einer Form garantiert wird, die die Herrschaft »des Kapitals« strukturell nicht in Frage stellt, sondern mehr noch stabilisiert.

Beide Argumente Imhofs sind deswegen nicht nur falsch, sie sind auch bemerkenswert selbstwidersprüchlich. Wäre es richtig, dass das herrschende Kapital keinerlei materielle Zugeständnisse (= Umverteilung) mehr machen kann, ohne sich selbst zu zerstören, und wäre es fernerhin richtig, dass Staat und Kapital eins sind, dass also auch der Staat keine Zugeständnisse mehr machen könnte, ohne unmittelbar das Kapital in Frage zu stellen - dann wäre ja die Forderung nach einer über den Staat vermittelten Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums gerade jene direkte Infragestellung der gesamten bürgerlich-kapitalistischen Produktions-, Verteilungs-, Konsumtions- und Lebensweise, von der Imhof bestreitet, dass sie es sein kann.

II. Reichtumsumverteilung als Übergangsprogrammatik

Soviel zum reformistischen Gehalt der Parole. Die darüber hinaus gehende Frage ist nun, ob die Parole wenn schon nicht direkt, so wenigstens indirekt einen systemkritischen Sinn entfalten, und so bspw. als Teil eines sozialistischen Übergangsprogramms Sinn machen könnte.

Auch hier muss aber erneut betont werden, dass eine solche Übergangsprogrammatik spezifisch trotzkistisch nur insofern ist, als die trotzkistische Bewegung hier ein politisch-strategisches Erbe wach hält, das dem Ursprunge nach revolutionär-sozialistisch und kommunistisch im vorstalinschen Sinne ist. Werner Imhof scheint mit dieser Tradition wenig vertraut zu sein, da, was er dazu ausführt, ausgesprochen verzerrt daherkommt. Übergangsforderungen sind weniger dazu da, eine Arbeiterpartei an die politische Macht zu bringen, schon gar nicht eine Arbeiterregierung »auf dem Boden fortgesetzter kapitalistischer Produktionsverhältnisse«, die dann fröhlich auf Verteilungsgerechtigkeit machen würde. Das ist kaum mehr als die Karikatur eines ernsthaften Problems.

Gerade weil die Kämpfe der modernen Arbeiterbewegung dem Prinzip nach Kämpfe um Tages- oder Sofortforderungen, um Forderungen nach Umverteilung des gesellschaftlichen Kuchens oder nach Kodifizierung bestimmter Rechtsformen waren, sind und bleiben; gerade weil diese Kämpfe nicht von sich aus revolutionären Charakter tragen, d.h. weder die Verfügungsgewalt des Kapitals über Produktionsmittel und Arbeitskraft noch den bürgerlichen Staatsapparat als die politische Macht des Kapitals bewusst angreifen; gerade weil es einen praktischen Unterschied gibt zwischen den Tageskämpfen und den Kämpfen um das Ziel einer grundsätzlich anderen, emanzipativen Gesellschaft - gerade deswegen steht die Frage, wie sich Minimal- und Maximalprogramm zueinander verhalten. In der theoretischen wie praktischen Kritik des sozialdemokratischen Reformismus entwickelte deswegen die revolutionäre Arbeiterbewegung aus diesem realen Problem die Idee der Übergangsforderungen.

Gerade weil es in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft mit ihren Methoden alltäglicher Entfremdung keine Forderung gibt, die der Mehrheit der Bevölkerung unmittelbar einleuchtet und gleichzeitig auf einen Bruch mit der bestehenden Gesellschaft hinausläuft, geht es im Konzept einer Übergangsprogrammatik darum, Forderungen zu entwickeln, die gesellschaftliche Kämpfe, vorwiegend natürlich Arbeiterkämpfe, weitertreibt und zuspitzt, die an Teilen der vorherrschenden Logik anknüpfen, aber nur schwer mit ihr vereinbar sind. Die Funktion dieser Forderungen ist, real existierende Bedürfnisse zu entwickeln und zu verfestigen, die letztendlich unvereinbar sind mit den Grundlagen kapitalistischer Akkumulationsweise, und diese Bedürfnisse auch organisationspolitisch zu festigen, in Organisationsformen einer Gegenmacht einfließen zu lassen, die sich dann zu einer möglichen Situation der Doppelherrschaft entwickeln - deren Logik oder unsere, deren Organe oder unsere!

Dabei geht es auch um wirkliche politisch-programmatische Forderungen wie bspw. die nach einer gleitenden Lohnskala. Dabei geht es aber vor allem um Forderungen und Logiken, die sich in einer Gegenüberstellung von Organisationsformen niederschlagen. Und es geht bei der »trotzkistischen«, sich von erziehungsdiktatorischen Strömungen des »Kommunismus« abgrenzenden Fassung dieser Idee gerade nicht um jenes »instrumentelle« Heranführen der Massen an die Wahl einer trotzkistischen Regierung, das Imhof suggeriert. Es geht dabei um ein Hinführen der Massen zu jener breiten, aktiven und realen Selbsttätigkeit/ Selbstregierung, die auch Imhof erklärtermaßen am Herzen liegt und die wesentlich an dem anknüpft, was Marxisten bekanntlich den Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital nennen. Die alltäglichen Kämpfe der lohnarbeitenden Klasse um Verteidigung und Erhöhung des Lohnniveaus, um Verteidigung und Verbesserung des Arbeitszeitniveaus, um Humanisierung der Arbeitswelt o.ä. stellen die kapitalistische Profitlogik zwar nicht automatisch, wohl aber strukturell, dem Prinzip nach in Frage. Des Einen Vorteil ist des Anderen Nachteil. Die Bedürfnisse der Produzenten sind den Bedürfnissen der sie Ausbeutenden mindestens partiell entgegengesetzt und geraten deswegen auch immer wieder aneinander. Es ist dieser antagonistische Kern kapitalistischer Produktionsverhältnisse, auf den Sozialisten ihr Prinzip Hoffnung gründen, denn er erlaubt ihnen, das sich immer wieder elementar entwickelnde Klassenbewusstsein unterdrückter und/oder ausgebeuteter Produzenten (und Konsumenten) zu politisieren.

Das historische Modell ist klar, es ist die sog. »rotgardistische Attacke« gegen das russische Kapital von 1917/18. Dort hat eine Arbeiterregierung die politische Macht erobert und transformiert, obwohl es noch kapitalistische Eigentümer gab. Sie hat ihre politische Macht dazu benutzt, einen autonomen Prozess der realen Aneignung betrieblicher Macht durch die betriebliche Arbeiterschaft zu befördern und Warenproduktion und -wirtschaft grundsätzlich auszuhebeln. Die entscheidende Übergangsforderung war damals die »Arbeiterkontrolle«, also eine Forderung, die weniger auf materiellen Vorteil orientiert war als auf gesellschaftliche Kontrolle und Gegenmacht. Ernest Mandel hat 1971 eine dicke Anthologie veröffentlicht, in der anhand von Quellentexten aufgezeigt wird, wie sich die Klassenkämpfe auch der späteren Jahrzehnte um Arbeiterkontrolle, Arbeiterräte und Arbeiterselbstverwaltung zentriert haben. Dass dieser historische Faden einer um die Idee von Produzentenkontrolle zentrierten Infragestellung des Kapitals nicht abgerissen ist, zeigt bspw. der Fall des heutigen Argentinien.

Die entscheidende Frage ist also, ob und wie eine Forderung wie die nach der Umverteilung des Reichtums in ein solches Programm eingebettet ist. Darüber erfahren wir von Imhof allerdings reichlich wenig in seiner Diskussion des französischen Falls. Bleiben wir auf derselben Abstraktionshöhe wie er, so lässt sich immerhin feststellen, dass diese Parole nicht gerade eine originäre Übergangsforderung ist. Was sie jedoch leistet, und dies ist in der Tat nicht hoch genug zu schätzen und kommt dabei auch einer Übergangsforderung mindestens nahe, ist, dass sie ein nicht gerade Kapital-freundliches Bedürfnis ausdrückt und propagiert: das Bedürfnis, dass gesellschaftlich hergestellter Reichtum auch gesellschaftlichen Bedürfnissen gerecht werden sollte. In einer Zeit wie der unseren, in der die intellektuelle Hegemonie neoliberalen Denkens trotz aller Bewegung so ungebrochen wie selten dominiert, wäre die massenhaft propagierte Parole nach einer erneuten Umverteilung des Reichtums - diesmal zugunsten jener, denen in den letzten 30 Jahren genommen wurde, ohne dass dies etwas an der gesellschaftlichen Misere geändert hätte, wie ihnen vom Neoliberalismus weis gemacht wurde - immerhin ein immenser Fortschritt. Die linken Reformisten setzen nicht zu Unrecht gerade auf diese Parole, eben weil sie das zutiefst widersprüchliche Alltagsbewusstsein der empörten Bevölkerung ziemlich getreulich ausdrückt.

III. Politisieren statt denunzieren

Das Komische ist, dass auch Imhof dies zugestehen muss, obwohl er das Gegenteil behauptet. Er beschreibt die widersprüchliche Situation in Frankreich sehr gut, zeigt auf, dass und wie die globalisierungskritische Bewegung mehr fordert als nur eine andere Politik, dass »das Bedürfnis nach einer anderen Form der Gesellschaftlichkeit, nach solidarischen und zugleich selbstbestimmten Formen des praktischen Zusammenlebens, überall spürbar« ist, und dass die selbstorganisierten Streikkämpfe »die Logik der herrschenden Produktionsweise (die Logik, nicht die sie erzeugende Praxis!) in Frage stellt«. Genau in dem von ihm in Klammern hinzugesetzten Halbsatz offenbart sich dagegen Imhofs Unverständnis dessen, um was es bei den Übergangsforderungen geht. Gerade dies haben sie nämlich zu leisten: der vorherrschenden Logik eine andere Logik entgegenzusetzen, diese gesellschaftlich zu verbreitern und zu politisieren.
Dass dies ausgesprochen widersprüchlich vonstatten geht, zeigt Imhof am französischen Beispiel auf. Doch er versteht nicht, dass diese Widersprüchlichkeit weniger Produkt der Forderung als solcher ist, sondern Produkt der widersprüchlichen französischen Situation. Die Frage ist doch, ob man sich in einen solchen Kampf einmischt, ihn weiter zu treiben, zu politisieren versucht, oder ob man sich von diesem Kampf abwendet, weil er so widersprüchlich ist. Gerade letzteres vertritt Imhof und er bestätigt damit jenes Sprichwort, dass wer kämpft, verlieren kann, dass jedoch der, der nicht kämpft, bereits verloren hat.

Und um seine Unwilligkeit oder Unfähigkeit vor sich selbst und anderen zu rechtfertigen, setzt Imhof sogar noch einen drauf. Die Parole der Reichtumsverteilung sei nicht nur ungeeignet als Übergangslosung (das ließe sich ja diskutieren), mehr noch: sie sei sogar »fatal«, da sie vom sozialrevolutionären Ziel ablenke und die Energien der Bewegung auf den Staat zentriere. So kann allerdings nur jemand reden, der in klassisch linksradikaler Manier ignoriert, dass Politik in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft strukturell, d.h. zwangsläufig und unabdingbar nicht ausschließlich, aber wesentlich über die bürgerliche Öffentlichkeit einer parlamentarisch verfassten Demokratie organisiert wird. Das kampflose Preisgeben dieses überaus wichtigen Kampfterrains ist nicht nur fahrlässig, sondern unverantwortlich sektiererisch - wohl eher ein Produkt der eigenen gesellschaftspolitischen Ohnmacht als theoretisch verarbeiteter historischer Erfahrung.
Wird eine solche Haltung ideologisch rationalisiert, führt sie zudem zwangsläufig zur Denunziation linker politischer Praxis, leider auch bei Imhof. Selbst in Frankreich, wo der globalisierungskritische Kampf eines seiner weltweiten Zentren hat, stünden, so Imhof, »die elementarsten Formen bürgerlicher Beziehungen, der Austausch und die Produktion für den Austausch, außerhalb jeder (!) Kritik und Reflexion«. Im Heimatland des Slogans Die Welt ist keine Ware »fehlt jede (!) Infragestellung oder gar Kritik der Waren- oder Wertform«. Die Logik solchen Kurz-Schlusses ist die Denunziation einer linken Praxis, die zum fortgeschrittensten gehört, was wir derzeit europaweit aufzuweisen haben.

Einmal mehr widerspricht sich hier Imhof selbst: Er kritisiert die reale Bewegung, dass sie nicht genug oder die falsche Theorie besitze und räumt gleichzeitig ein, dass mehr nötig sei als eine rein theoretische Kritik der Warenproduktion. Notwendig sei, »dass sich eine praktische Entwicklung fortsetzt und verallgemeinert, die gerade erst begonnen hat: die Formierung eines gesellschaftlichen Produzententypus, wie ihn die SUD-Gewerkschaften und (obwohl Privateigentümer) auch die Confédération Paysanne verkörpern«. Warum denunziert er dann gerade diese Anfänge einer praktischen Infragestellung kapitalistischer Logik als »trotzige, aber unbestimmte Negation, die keine praktischen Konturen annehmen kann«?
Die Parole der Reichtumsumverteilung von oben nach unten mag sich in der praktisch-politischen Bewegung als unzweckmäßig herausstellen (um dies zu bestätigen, müsste man in der Tat genauer das französische Beispiel studieren und darstellen). »Hinderlich«, wie es Werner Imhof explizit behauptet, kann sie aber kaum sein, da sie Bedürfnisse artikuliert, an die nicht anzuknüpfen die Linke nur fester in ihrem Ghetto einschließen dürfte. Nicht in der abstrakten Ablehnung solcher Gedanken und Parolen sollten sich Linke bewähren, sondern in ihrer Politisierung.

Christoph Jünke ist verantwortlicher Redakteur der SoZ.


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