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Updated: 18.12.2012 15:51
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Karl Heinz Roth*

Erneuerung des Sozialstaats?

Eine Debatte mit Fallstricken für die Formierung einer vereinigten Linkspartei in Deutschland

Bei der letzten Bundestagswahl haben 4,2 Millionen Wählerinnen und Wähler dem Bündnis aus Linkspartei/PDS und Wahl-Alternative Soziale Gerechtigkeit (WASG) ihre Stimme gegeben und 54 seiner Kandidatinnen und Kandidaten in das oberste parlamentarische Gremium geschickt. Seine Exponenten und Funktionäre haben daraus die Ermächtigung abgeleitet, das Wahlbündnis so zügig wie möglich in eine den Normen der repräsentativen Demokratie unterworfene politische Partei umzuwandeln und der neuen Bundestagsfraktion einen entsprechenden "politischen Unterbau" zu verschaffen. Trotz erheblicher Kritik haben sie an diesem Vorhaben bis heute festgehalten. Obwohl ganze Landesverbände der WASG und einige westdeutsche Ortsgruppen der Linkspartei/PDS darauf hinwiesen, dass bei einer derart rasanten und "von oben" forcierten Vereinigung die Verankerung des Projekts im breiten Netz des basisdemokratischen Aufbruchs aufs Spiel gesetzt werde, [1] und obwohl selbst der DKP-Vorsitzende statt dessen die Konstruktion eines breiten Dachs anmahnte, unter dem die sozialistische Linke in ihrer ganzen Bandbreite über eine angemessene politische Repräsentation diskutieren könnte,[2] rücken die Spitzengremien keinen Deut von ihrer Agenda und ihrer Zeitplanung ab. Durch dieses Vorgehen schließen sie wesentliche Kräfte des kurzen sozialen Aufbruchs aus dem politischen Formierungsprozess aus. Sie zerstören in diesen Wochen die vor etwa zwei Jahren aufgekeimten Hoffnungen auf eine Konsolidierung des sozialen Widerstands gegen die Folgend des gegenwärtigen kapitalistischen Zyklus. Für viele beginnt jetzt einmal mehr eine Periode des Rückzugs, der Schadensbegrenzung und der Suche nach alternativen Wegen.

Um den Kopf frei zu bekommen für die Suche nach alternativen, politischen Wegen, sind einige analytische Anstrengungen erforderlich. Es muss erstens nach den Ursachen und Motiven dieses Vorgehens der verantwortlichen FunktionsträgerInnen des Linkspartei-WASG-Projekts und den durch sie vertretenen Interessen gefragt werden. Zweitens ist über die wesentlichen politischen Konzepte nachzudenken, die dafür als Legitimationsstrategien benutzt wurden und werden. Drittens und letztens sollen die konzeptionellen Defizite der sich formierenden Linkspartei aufgezeigt werden, um den Blick für glaubwürdige Alternativen zu schärfen. Vielleicht ist es dann möglich, die auf Hunderttausende von "Protestwählern" und "Reaktivierten" zukommenden Desillusionierungen aufzufangen, weil der Weg der vereinigten Linkspartei mit sozialistischen Perspektiven nichts zu tun hat.

Im Zentrum meiner Erörterungen wird dabei das Konzept einer "Erneuerung des Sozialstaats" stehen, das von den VordenkerInnen und FunktionsträgerInnen des Linkspartei-WASG- Projekts in zwei recht unterschiedlichen Varianten - einer "keynesianischen" und einer "rechtsliberalen" - vertreten wird. Bevor ich damit beginne, möchte ich einige von mir benutzte Schlüsselbegriffe definieren, um Missverständnissen vorzubeugen.

(1) Keynes, keynesianisch, Keynesianismus.

Die wesentlich auf den britischen Ökonomen John Maynard Keynes zurückgehende Konzeption zur Kontrolle der kapitalistischen Akkumulationsregimes durch nachfrage- und beschäftigungsaktivierende Eingriffe auf der Ebene des Regulationssystems war eine Weiterentwicklung des klassischen liberalen Denkens, die der Zusammenbruch der kapitalistischen Weltwirtschaft in den Jahren 1929 bis 1932 erzwungen hatte. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs machte sich auch die sozialdemokratische Arbeiterbewegung dieses Instrumentarium zu Eigen und entwickelte es zu einem sozialstaatlichen Integrationsmodell weiter. Es blieb dabei in allen wesentlichen Aspekten den strategischen Absichten des erneuerten klassischen Liberalismus verhaftet, das auf der Verwertung von Arbeitsvermögen begründete Akkumulationsregime zu domestizieren und damit dem Kapitalismus in seiner Gesamtheit gesellschaftliche Integrationskraft zu verleihen. Insofern war es nie als eine Programmatik zur sozialistischen Transformation des Kapitalismus misszuverstehen, und daran werden auch die aktuellen "post-keynesianischen" Reaktivierungsversuche nichts ändern. Die Kluft zu sozialistischen Alternativvorstellungen bleibt unüberbrückbar.

(2) Rechtsliberalismus, rechtsliberal, ökonomischer Rechtsliberalismus.

Gegen diesen erneuerten klassischen Liberalismus hat sich im Verlauf der 1970er Jahre eine wirtschaftspolitische Strategie durchgesetzt, deren Hauptziel darin bestand, das Regulationssystem des Kapitalismus in ein Hilfsinstrument zur Ausweitung und Radikalisierung seines Akkumulationsregimes umzuwandeln . Wie beim keynesianischen Modell wurden dabei geld- und fiskalpolitische Hebel zu einer makroökonomischen "Globalsteuerung" des Wirtschaftszyklus entwickelt und eingesetzt,[3] jedoch mit einer vollkommen konträren Zielstellung: Das keynesianische Modell einer "inflationistischen" Vollbeschäftigungsstrategie wurde durch ein Konzept der "deflationistischen" strategischen Unterbeschäftigung abgelöst. Zusätzlich wurde es - ausgehend vom Say´schen Gesetz [4] - mit einer mikroökonomischen Angebotstheorie zur Ankurbelung und Beschleunigung des Wirtschaftswachstums verbunden, wobei sich - unter der Voraussetzung allseits flexibler Preise und Lohnkosten - Angebot und Nachfrage nach Waren und Arbeitskräften in einem selbstregulierten Marktgeschehen automatisch ausgleichen. Dieses wirtschaftstheoretische Modell hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weltweit zur Legitimation einer unkontrollierten kapitalistischen Dynamik durchgesetzt [5] und wird meines Erachtens zu Unrecht als "neoliberal" bezeichnet. Seine Hauptfunktion besteht darin, dem Akkumulationsregime die gesamte gesellschaftliche Sphäre zu unterwerfen, die Verwertung von Arbeitsvermögen zu generalisieren und damit alle Formen von sozialem Leben zu beschneiden. Ein solches Denken war dem klassischen Liberalismus - und mehr noch den hier nicht zu erörternden Strömungen des bürgerlichen Linksliberalismus - immer fremd. Da es letztlich nur im Kontext einer repressiven und gegen die subalternen Klassen gerichteten Staatlichkeit zu funktionieren vermag, trägt es nicht zufällig stark reaktionäre und autoritäre Züge. Ich werde es deshalb nicht als "Neoliberalismus", sondern als "Rechtsliberalismus" bezeichnen.

(3) Sozialismus, sozialistisch, Sozialistisches Transformationsprogramm.

Aufgrund der gerade jetzt um sich greifende Unsicherheit in dieser entscheidenden Fragestellung möchte ich einleitend klarstellen, was ich unter Sozialismus verstehe: Der Sozialismus ist ein handlungsorientiertes Gesellschaftsmodell, das normativ auf die Selbstbefreiung aller jener Menschen fokussiert ist, die ihr Arbeitsvermögen entäußern oder feilhalten müssen, um leben zu können. Diese Selbstemanzipation ist nur möglich, wenn die Ausgebeuteten sich die bislang im Kapital vergegenständlichten materiellen Voraussetzungen ihres Lebens sozial aneignen und in demokratische Selbstverwaltung übernehmen. Die soziale Aneignung der materiellen Kultur macht einen Transformationsprozess erforderlich, in dem die sich emanzipierenden Ausgebeuteten das kapitalistische Weltsystem sozialistisch umgestalten. Diese Umgestaltung ist Vorbedingung für die weltweite Durchsetzung der sozialen, ökonomischen, politischen, kulturellen, ethnischen und genderbezogenen Gleichheit aller Menschen, um ihnen die universelle Entfaltung ihrer sozialen Subjektivität zu ermöglichen. Das sozialistische Transformationsprogramm wird sich in sozialen Räumen - Orte, Regionen, Kontinente usw. -verankern und entsprechend pluralistisch ausgestaltet sein. Es kann aber immer nur in einer globalen Perspektive gedacht und durchgesetzt werden, und deshalb ist es grundsätzlich nur als trans-nationales und trans-kulturelles Projekt realisierbar. Ein sozialistischer Mensch wird sich folglich immer auch als Welt-Citoyenne beziehungsweise Welt-Citoyen verstehen. Als Lebenssphäre wird er ausgehend von seinen jeweiligen sozialen Orten eine sozialistische Weltrepublik anstreben, in der die Klassenstrukturen und die territorial hierarchisierten Wertschöpfungsketten und Herrschaftssysteme des doppelgestaltigen [6] kapitalistischen Weltsystems überwunden sind.

1. Soziale Motive und Interessenlagen im Kontext des politischen Formierungsprozesses zur vereinigten Linkspartei

Doch damit zurück in die Niederungen der deutschen Gegenwart und zur eingangs gestellten Frage nach den Motiven und Interessenkonstellationen hinter dem beschleunigten Fusionstrend zwischen Linkspartei und Wahlalternative. Ganz offensichtlich geht es dabei um Zweierlei: Einmal um die Ausgrenzung aller jener sozialen, politisch-ökonomischen und kulturellen Strömungen des vielschichtigen gesellschaftlichen Widerstands, die von den InitiatorInnen des Projekts "Vereinigte Linkspartei" als Gefährdung ihrer eigenen und der durch sie vertretenen spezifischen gesellschaftlichen Interessen angesehen werden; zum andern ist aber auch über die Rangfolge der innerhalb der künftigen Partei vertretenen Konzepte, Kaderinteressen und symbolischen Repräsentationen zu entscheiden, und dabei möchten die beiden führenden Aktionskerne nicht gestört werden. Auf diese Weise bedingen sich Exklusion und - die in ihrer hierarchischen Abfolge erst noch auszuhandelnde - Inklusion der Konzepte und gesellschaftlichen Gruppeninteressen wechselseitig. Und dies ist wiederum mehr als ein - nicht gerade ermutigendes - Machtspiel: Dieser Prozess ist vielmehr konstitutiv für einen Formierungsprozess, der zu den unhinterfragt bleibenden Strukturen nationalstaatlicher Gouvernementalität aufschließt.

Die dominierende Strömung des Formierungsprozesses wird von den Leitfiguren und Funktionsträgern der ostdeutschen Linkspartei/PDS angeführt. Ihren Kern bildet eine Gruppe von Intellektuellen und politischen Kadern, die zur Zeit des DDR-Anschlusses bei ihren Bemühungen um eine Öffnung und Reorganisation der Staatspartei SED von der westdeutschen Übernahme-Elite überrollt und marginalisiert worden war. Es gelang ihr jedoch in einem zähen Überlebenskampf, eine den politischen Normen der übernehmenden Macht äußerlich angepasste politische Struktur aufzubauen, während die gesamte übrige Funktionselite der DDR zusammen mit ihrer Führungsschicht politisch, sozial und kulturell ausgegrenzt wurde. In dieser Situation profilierte sich die PDS als Kristallisationskern eines Neuanfangs. Als das westdeutsche Übernahmekonzept mit seiner Doppelstrategie von sozioökonomischer Ressourcenzerstörung und monetär-politischer Normenanpassung an seine Grenze stieß, schlug die Stunde der in der PDS überlebenden Restelite. Sie entwickelte ein Überbrückungskonzept, das sich eineinhalb Jahrzehnte lang bewährt hat und erst durch das jüngste Hinzukommen des westdeutschen WASG-Partners auf den Prüfstand geraten ist. Zum Einen besetzte sie viele Stellen in den neuen ostdeutschen Behördenstrukturen und die diesen zugeordneten parlamentarischen Körperschaften; zum andern passte sie sich schrittweise an die neuen Machtkonstellationen an, um ihre nichts desto trotz anhaltende Marginalisierung zu konterkarieren, den Status einer nachgeordneten Elite des Anschluss-Gebiets zu überwinden und schließlich in Augenhöhe "anzukommen". Dem PDS-Archipel sind inzwischen etwa 8.000 bis 10.000 Kader zuzurechnen, die sich in der ostdeutschen Exekutive und Legislative gut etabliert haben und mit ihrem autoritären Effizienzdenken die sozioökonomischen Deregulierungsprozesse umzusetzen helfen. In vielen Kommunal- und Kreisverwaltungen sowie in den Landesregierungen Mecklenburg-Vorpommern und Berlin vertreten sie eine Politik rechtsliberaler Haushaltssanierungen, Privatisierungskampagnen und Lohn- und Einkommensrestriktionen.

Dessen ungeachtet verfügt dieser "demokratisch-sozialistisch" überbaute Rechtsliberalismus bis heute in Ostdeutschland über eine stabile soziale Basis. Aus westdeutscher Perspektive mag dieser Befund überraschend und befremdlich erscheinen, aber aus ostdeutscher Sicht ist er sehr wohl nachvollziehbar. Die DDR-Bevölkerung ist 1990/91 mit einem schockartigen Prozess der rechtsliberalen Deregulierung ihrer Lebensverhältnisse konfrontiert worden, den ihr nicht die eigenen, sondern die westdeutschen Eliten auferlegt hatten. Diese Politik wurde jedoch durch kompensatorische Transferleistungen abgeschwächt, in deren Verwaltung und Verteilung sich PDS-Politiker schrittweise einschalteten und allein durch ihre Präsenz als parlamentarische Appellationsinstanz zu ihrer bis heute andauernden Fortschreibung beitrugen. Mehr als eine einigermaßen "gerechte" Verwaltung des Mangels war dabei nicht möglich, und Aufsehen erregte die von den Transfergebern vorgesehene rechtsliberale Austeritätspolitik erst in dem Augenblick, als sie nach der Streichung der Berlinsubventionen von PDS-Politikern auch auf die Westberliner Gesellschaft übertragen wurde. Spätestens hier hätten sie freilich zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie inzwischen zu einer Art bundesdeutscher Avantgarde der kommunalen und landespolitischen Deregulierung aufzurücken begannen, was die seit längerem betriebene "gesamtdeutsche" Ausweitung ihres "demokratischen Sozialismus" unglaubhaft machte.

Die soziale Basis der Linkspartei/PDS ist recht heterogen zusammengesetzt, umfasst aber trotzdem nur einen spezifischen Ausschnitt der Gesellschaftspyramide des deutschen Mezzogiorno. Den Kern bildeten in den 1990er Jahren die marginalisierten DDR-Eliten, die inzwischen überwiegend das Rentenalter erreicht haben. Nach und nach kam eine Fraktion der neuen Selbständigen hinzu, und inzwischen hat die Linkspartei/PDS auch in wichtigen Teilbereichen der nachwachsenden akademischen Schichten Fuß gefasst. Hinzu kommen, wie schon erwähnt, stabile Positionen in den ostdeutschen Behörden und Gebietskörperschaften, die in einigen Fällen bis in die Länderministerien hineinreichen. Am wenigsten ist die Linkspartei/PDS hingegen in den großindustriellen Restenklaven und der breiten Masse der prekarisierten und erwerbslosen underclass verankert. Das hat verständlicherweise Rückwirkungen auf die sozioökonomischen Optionen einer politischen Partei, der es erst nach fünfzehn Jahren gelungen ist, aus ihrer Marginalisierung auszubrechen und ihren subalternen Status abzustreifen.

Im Gegensatz zu dieser aufreibenden Überlebens- und Anpassungsgeschichte ist der Aufbruch des westdeutschen Fusionspartners erheblich jüngeren Datums. Er hat erst um die Jahrtausendwende begonnen, als der SPD-Flügel der politischen Klasse zusammen mit erheblichen Teilen der Gewerkschafts- und Betriebsratsapparate die bisherige Sozialstaatspolitik aufkündigte und als ausgesprochener late comer in den rechtsliberalen Kurswechsel der europäischen Sozialdemokratie einschwenkte. Da diese Wende mit der Regierungsübernahme auf Bundesebene einherging, waren die Folgen für die marginalisierten Traditionskeynesianer der Sozialdemokratie und mehr noch die mittleren Funktionsträger der Gewerkschaftsapparate dramatisch: Ausgerechnet im Augenblick des sozialdemokratischen Machtwechsels verloren sie jenen politischen Rückhalt, der sie trotz des seit den achtziger Jahren anhaltenden Rückgangs ihrer Basis in den großindustriellen Kernbelegschaften und der damit einher gegangenen Mitgliederverluste notdürftig über Wasser gehalten hatte. Und damit sie auch wirklich bemerkten, was ihnen bevorstand, propagierten die Vordenker der rechtsliberalen Wende nicht nur die Abkehr der "neuen Sozialdemokratie" von der inzwischen entstandenen prekären underclass , sondern auch den Bruch mit den traditionellen Lohnarbeiterschichten, weil ihr neuer sozialer Favorit, die "Wissensarbeiter des digitalen Kapitalismus", zu steuerfinanzierten Abgaben an deren soziale Sicherungssysteme angeblich nicht mehr bereit war.[7] Damit waren aber auch ihre eigenen Positionen als Funktionselite des asymmetrischen Arbeitgeber-Arbeitnehmerverhältnisses zur Disposition gestellt. Die nun auch von der bisherigen Arbeiterbewegung mitgetragene Politik der rechtsliberalen Deregulierungen auf den Arbeitsmärkten, bei den betrieblichen Arbeitsverhältnissen und in den sozialen Sicherungssystemen musste über kurz oder lang ihre eigenen beruflichen Positionen gefährden. Daraus ließen sich unschwer die Konsequenzen ziehen: Um sich innerhalb des schrumpfenden - und zusätzlich von den Gesamtbetriebsräten der transnationalen Unternehmen in die Zange genommenen - Gewerkschaftskolosses zu behaupten, mussten sie ihre rechtsliberal gewendete politische Repräsentation verlassen und sich auf dem politischen Feld neu etablieren. In der neu zu schaffenden politischen Struktur mussten aber auch die Interessen der durch sie vertretenen großindustriellen Kernbelegschaften neu artikuliert werden, denn wenn sie weiter schrumpften, dann wurden auch ihre eigenen Funktionsstellen innerhalb der Regulationsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern hinfällig. Bei der Ausarbeitung eines entsprechenden Programms zur Revitalisierung der Lohnarbeitsgesellschaft - mit Kernbelegschaften und politisch-gewerkschaftlicher Repräsentation - konnten die Funktionsträger der Gewerkschaftssekretariate und der marginalisierten sozialpolitischen SPD-Gremien auf die sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Kompetenz der akademischen Restlinken zurückgreifen.

Somit handelte es sich um zwei recht heterogene politisch-gewerkschaftliche Funktionseliten, die sich im Verlauf des Jahrs 2004 zusammensetzten, um über ein gemeinsames Vorgehen zu beraten. Dabei kam ihnen entgegen, dass sie beide nur über einen subalternen Status verfügen und - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen - an die Grenze ihrer bisherigen Gestaltungsmöglichkeiten und Eigeninteressen gestoßen waren. Den Funktionsträgern der PDS dürfte seit der Bundestagswahl 2002 und ihrem Eintritt in die Berliner Landesregierung klar geworden sein, dass ihre Rolle als Mediatoren der ostdeutschen Strukturkrise zum mittelfristigen Überleben in der "gesamtdeutschen" Wirklichkeit nicht ausreichte; sie mussten sich notgedrungen auf eine politische Partnerschaft einlassen, die ihnen einen Weg aus den ständig fortgeschriebenen und zunehmend mitverantworteten rechtsliberalen Deregulierungen aufzeigte. Dabei stießen sie auf die inzwischen ihrerseits marginalisierten Funktionsreste der westdeutschen Arbeiterbewegung.

Da die PDS jedoch gleichzeitig mit Vertretern der rechtsliberalen Mehrheit in Berlin und Schwerin koalierte, war ein Ziel-Mittel-Konflikt vorprogrammiert, der rasch eskalierte und die Handlungsspielräume der Fusionsverhandlungen mit der WASG-Führung zunehmend einengt. Hinzu kommen Verwerfungen durch die heterogene Zusammensetzung der sozialen Basis beiderseits, als deren politische Interessenvertretung sich die miteinander verhandelnde PDS-WASG zu profilieren gedenkt. Die westdeutsche Gruppe hat sich im Wesentlichen auf die in Krise geratene Lohnarbeitsgesellschaft - und dabei insbesondere ihre schwindenden Kernbelegschaften - festgelegt. Damit können ihre ostdeutschen Fusionspartner wenig anfangen, denn die dortigen industriellen Arbeiterschichten wurden schon 1990/91 weitgehend geschleift und überwintern nur noch in einigen Innovationsreservaten. Sie sind stattdessen weitaus stärker in den post-fordistischen Gesellschaftsstrukturen verankert: Den neuen Selbständigen, den administrativ-parlamentarischen Funktionsschichten, der nachwachsenden akademischen Intelligenz und einer spezifischen Gruppe von 1990/91 ausgeschalteten Funktionseliten, die inzwischen überwiegend die Grenze zum Rentenalter überschritten haben.

Diese Ambivalenz sowohl auf der politischen Gestaltungsebene als auch hinsichtlich der sozialen Verankerung lässt den Fusionspfad der Linkspartei/PDS und der WASG als ein wahres Labyrinth erscheinen. Der Weg, der sich - unter Umgehung aller "störenden" Alternativvorstellungen seitens der neuen Sozialbewegungen - verfolgen lässt, ist die von allen Beteiligten geforderte "Erneuerung des Sozialstaats". Ist eine derartige programmatische Konsensbildung überhaupt möglich, und wie soll es gelingen, sie zu jenem roten Faden zu spinnen, der den Weg aus dem Labyrinth weist? Soll sie den aktuellen Spagat der ostdeutschen Fusionspartner zwischen rechtsliberaler Praxis und keynesianischen Absichtserklärungen für die nationale Repräsentation festschreiben? Oder werden sich die westdeutschen Gewerkschaftler mit einer "demokratisch-sozialistisch" überbauten Variante des Rechtsliberalismus arrangieren? Oder werden die ostdeutschen Fusionspartner letztendlich doch nachgeben und die keynesianische Revitalisierung der Lohnarbeitsgesellschaft auf ihre Fahnen schreiben? Um diese drei möglichen Varianten abzuklären, werde ich im nächsten Abschnitt die bisherigen Pläne bei den beiden Fusionspartnern skizzieren und auf die jüngsten Versuche zur Formulierung eines konzeptionellen Kompromisses eingehen.

2. Erneuerung des Sozialstaats - rechtsliberal oder keynesianisch ?

In den neunziger Jahren konzentrierten sich die sozialpolitischen Fachgremien der PDS im Wesentlichen auf die Schließung jener Lücken, die jenseits der Elbe bei der Implementierung der westdeutschen sozialen Sicherungssysteme sichtbar geworden waren, und übertrugen ihre Vorschläge - angesichts der auch in Westdeutschland mit einer gewissen Zeitverzögerung um sich greifenden Prekarisierungsprozesse - nach und nach auf eine "gesamtdeutsche" Ebene. Um den Absturz breiter Rentner- und Erwerbslosenschichten in die Massenarmut abzubremsen, forderten sie auf der Basis der bestehenden Strukturen die Errichtung eines speziellen Fonds, der teilweise durch Versicherungsbeiträge und teilweise durch Steuern finanziert werden sollte. Zusätzlich wurde die Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht vorgeschlagen, die jedoch auf die Erwerbstätigen beschränkt bleiben sollte.[8] Nach einem mehrjährigen Schweigen kam die Bundestagsgruppe der PDS 2001 auf das Problem einer umfassenden sozialen Grundsicherung zurück und votierte alternativ zur damaligen Debatte über die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe für die Einführung einer Mindestrente in Höhe von etwa 800 Euro, die aber nur denjenigen zustehen sollte, die mindestens 30 Jahre lang in die Rentenversicherung eingezahlt und dabei 15 Rentenpunkte erworben hatten.[9] Es handelte sich um eine graduelle Ausweitung der Bezugsberechtigten, und die PDS-Experten hielten auch weiterhin an der Kopplung der Ansprüche auf soziale Transferleistungen mit einer fast lebenslangen Integration in die Lohnarbeitsgesellschaft fest.

Dann aber brachten einige VertreterInnen der nachwachsenden PDS-Generation frischen Wind in die Debatte. Sie schlossen zu den Kampagnen für eine bedingungslose Grundsicherung auf, die seit Mitte der achtziger Jahre von einigen Sozialverbänden und den neuen Sozialbewegungen propagiert wird. Vor allem die sächsische Landtagsabgeordnete Katja Kipping machte ihren Parteioberen klar, dass das Wissen um die "doppelte Krise der Lohnarbeit" nun auch in der PDS angekommen war: Die Massenerwerbslosigkeit wächst, und immer mehr Menschen verlangen dessen ungeachtet nach selbstbestimmter Tätigkeit jenseits der entfremdeten Arbeit sowie nach sozialer Absicherung unabhängig von ihrem Arbeitsstatus.[10] Da mit der schrumpfenden Lohnarbeit auch die mit ihrer verknüpften sozialen Sicherungssysteme austrocknen, forderte Kipping einen Ausstieg aus dieser nach unten gerichteten Spirale durch die Einführung eines "garantierten Grundeinkommens". Allen in der BRD lebenden Menschen sollten monatlich bis zu 1.000 Euro überwiesen werden, um die - inzwischen für eine breite Schicht labil gewordenen Existenzbedingungen oberhalb der Armutsgrenze zu sichern. Auf diese Weise sollten den immer brüchiger gewordenen Erwerbsbiographien Rechnung getragen, der Weg zu mehr selbstbestimmten Tätigkeiten geöffnet und das weitere Fortschreiten der Spaltung und Verarmung der Gesellschaft gestoppt werden. Im Gegenzug könne man dann das mehrstufige Sicherungssystem auflösen. Die für eine monatliche Grundzahlung von 1.000 Euro erforderlichen Beträge (etwa eine Billion Euro im Jahr) könnten auf dem Steuerweg aufgebracht werden, während in der Gegenrechnung die Transferleistungen in ihrer derzeitigen jährlichen Höhe von 680 Milliarden Euro und die erheblichen Aufwendungen für die Aufrechterhaltung der Sozialbürokratie entfielen. Arbeitszwang und Bedarfsprüfung würden der Vergangenheit angehören, und im Übrigen würde der makroökonomische Umverteilungseffekt zu einer erheblichen Ankurbelung der Binnennachfrage führen. Darüber hinaus sollte die Einführung des garantierten Grundeinkommens "mit einer Arbeitszeitverkürzung sowie einem gesetzlich garantierten Mindestlohn verbunden werden."[11]

Dieser Aufbruch zu neuen Ufern löste im politisch-wissenschaftlichen Umfeld der PDS und ihres westdeutschen Fusionspartners heftige Gegenreaktionen aus, in denen alle diejenigen Argumente mobilisiert wurden, mit denen sich Kipping vorbeugend auseinandergesetzt hatte.[12] Die Perspektive eines vermeintlichen "Schlaraffenlands" musste vor allem die behördlichen Funktionsträger der PDS provozieren, die seit Jahren im Dienst restriktiver Haushaltssanierungen für den Ausbau immer rigider gewordener Bedürftigkeitsprüfungen und Kostenverschiebungen auf Familienangehörige und Lebenspartner mitverantwortlich zeichnen. Katja Kipping wurde zur Ordnung gerufen. Ein Jahr später veröffentlichte sie einen glatten Widerruf, den - wohl zur Demonstration der inneren Geschlossenheit des PDS-Apparats - je ein Spitzenpolitiker und ein sozialpolitischer Experte mit unterzeichneten.[13] Dabei blieben die vorherigen Ausflüge ins Reich der Egalität unerwähnt, denn eine wie auch immer geartete Distanzierung hätte die Kehrtwende zu grell beleuchtet. Die "neue Sozialpolitik" solle sich jetzt auf das "Wesentliche" konzentrieren, die "Leistungsfähigkeit aller Beteiligten berücksichtigen" und innerhalb wie außerhalb des lohnabhängigen Erwerbslebens "einen Anreiz zu Beschäftigung und Leistung geben." Entsprechend wurde das Volumen des "existenzsichernden Grundeinkommens" auf 700 bis 750 Euro monatlich - den faktischen Durchschnittsbetrag des gegenwärtigen "Arbeitslosengelds II" - zurückgefahren und indirekt wieder an die Arbeit gekoppelt: "Wer nicht für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen möchte, erhält weiterhin das Grundeinkommen, wovon ein Teil (max. 50 Prozent) als Darlehen gezahlt würde".[14] Wie soll sich aber ein erwerbsloser und auf Sozialhilfeniveau angekommener Mensch auf Kredit von der Arbeitspflicht freikaufen? Er wird weiterhin dem Arbeitsmarkt "zur Verfügung stehen" und jede "zumutbare Arbeit" annehmen müssen. Und obwohl die Forderung nach flankierenden gesetzlichen Mindestlöhnen - nicht aber nach konsequenter Arbeitszeitverkürzung - wiederholt wird, verkehrt sich das Votum für eine "große Sozialreform" als Kern eines "realistischen Umbaus des Sozialstaats" [15] in das, was es wirklich ist: In ein Angebot zu einer Armenhauspolitik, die sich den Vorgaben des Rechtsliberalismus verpflichtet weiß. Im Ergebnis der Anbindung des Grundeinkommens an die Arbeitspflicht und der zusätzlichen Einführung einer reformierten Krankenversicherung sollen die Sozialsteuern von derzeit 41 bis 42 auf durchschnittlich 25 Prozent fallen.[16] Und so fällt es alles in allem schwer, substantielle Unterschiede zur neo-sozialdemokratischen Variante des Rechtsliberalismus auszumachen - trotz der diesbezüglichen Anstrengungen Michael Bries, der das Projekt Linkspartei kürzlich als "Emanzipative Reformalternative" ausgemacht hat, um sie im selben Atemzug der Neo-Sozialdemokratie als künftigen Regierungspartner anzubieten.[17]

Im Vergleich mit diesen Wendungen und Rück-Wendungen sind die in der Wahl-Alternative dominierend vertretenen politischen und gewerkschaftlichen Gruppierungen aus anderem Holz geschnitzt. Sie bewegen sich außerhalb einer Mentalität des "Großhungerns und Ankommens", die im Fall der Linkspartei/PDS auch im Bereich sozialstaatlicher Reformvorstellungen über Mitgestaltungsansprüche an einem als unaufhaltsam eingeschätzten rechtsliberalen Gesamttrend nicht hinausgelangen will. Dabei erhalten die in die WASG übergewechselten "Traditionalisten" der Gewerkschaftsapparate und SPD-Gremien Unterstützung von vielen Seiten. Vor allem eine Gruppe oppositioneller deutscher Wirtschaftswissenschaftler hat zu ihnen aufgeschlossen, die seit Jahr und Tag mit alternativen Memoranden zur Wirtschaftspolitik der BRD vor die Öffentlichkeit tritt und zusätzlich seit 1995 im Rahmen eines europäischen Netzwerks von Sozialwissenschaftlern und Ökonomen gegen den monetaristischen Rechtsliberalismus der Europäischen Union Front macht. [18] Ein wesentlicher Rückhalt kommt auch von französischen sozialkritischen Soziologen die die gesellschaftsdestruktiven Auswirkungen des aktuellen Zyklus umfassend dokumentiert und sich zunehmend auf ein Projekt zur sozialstaatlichen Rehabilitation der Lohnarbeitsgesellschaft festgelegt haben. Dabei spielen vor allem die Vorschläge des Bourdieu- Schülers Robert Castel eine entscheidende Rolle. Seit Castel in einer groß angelegten Studie die sozialstaatlich verankerte Asymmetrie der Lohnarbeit als Fortschrittsgeschichte sozialer Integration neu bewertet und dem Nationalstaat die Aufgabe zugewiesen hat, die "Nutzlosen" und "Überflüssigen" zu reintegrieren und einen neuen sozialen Zusammenhalt durch den Wiederaufbau der soziale Sicherungssysteme zu erzwingen,[19] ist er zum Kronzeugen für alle jene avanciert, die davon überzeugt sind, dass es bis heute keine glaubwürdige Alternative zur Lohnarbeitsgesellschaft gibt.

Aufgrund dieser Verankerung in der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Linken ist der Programmpunkt "Erneuerung des Sozialstaats", den die Protagonisten der Wahlalternative verantwortet haben, weitaus systematischer begründet. Sie setzen sich bewusst mit den Strategien der rechtliberalen "Gegenreform" auseinander und fordern einen alternativen Typ sozioökonomischer Entwicklung, der an den gegebenen national- und supra-nationalstaatlichen Regulationssystemen BRD und EU ansetzt "und die Dynamik der Märkte und privates Gewinnstreben in einen Rahmen gesellschaftlicher und politischer Vorgaben" einbindet.[20] Dadurch soll eine Trendwende in Richtung Vollbeschäftigung und verbesserter Arbeitsplatzstrukturen erzwungen werden, und daraus wird dann eine mehr oder weniger automatische Wiederherstellung der sozialen Umverteilungs- und Sicherungssysteme abgeleitet. Zu diesem Zweck sollen die klassischen Instrumente der keynesianischen Globalsteuerung - expansive Budgetpolitik, antizyklische Investitionsprogramme, beschäftigungsintensive öffentliche Infrastrukturprojekte, Arbeitszeitverkürzung usw. - mit umfangreichen regional- und strukturpolitischen Eingriffen verbunden und durch Rückgriffe auf die im Konzept der "Wirtschaftsdemokratie" verankerten Mitverfügungsrechte der Arbeitervertretungen abgesichert werden.[21]

Das alles ist nicht neu, aber innerhalb dieses "traditionalistischen" Gegen-Rahmens findet in Teilbereichen eine bemerkenswerte Annäherung an die reale Verfasstheit einer Gesellschaft statt, diese sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten unter der rechtsliberalen Konzeption von strategischer Unterbeschäftigung und Arbeitserzwingung massiv verändert und polarisiert hat. Hinzu kommt die wachsende Einsicht, dass die Rückwende zur Vollbeschäftigung und zu dem mit ihre gekoppelten "Sozialeigentum" nicht nur erhebliche Ressourcenverschiebungen, sondern auch Zeit benötigt, und dass es deshalb ratsam erscheint, die starre Kopplung zwischen dem Leitbild des männlichen Kernschicht-Lohnarbeiters und den sozialen Sicherungssystemen aufzulockern.

An diesem Scharnierpunkt setzen die neuesten arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Überlegungen des WASG-Spektrums an, um den keynesianischen Traditionsrahmen flexibler zu machen und die sozialstaatliche Reintegration der prekarisierten Arbeiterschichten und der wachsenden Massenarmut zu beschleunigen. Dabei werden verschiedene Strategien diskutiert und hinsichtlich ihrer möglichen Rückkopplungseffekte untersucht, und zwar vor allem die Beziehungen zwischen der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, der Wiederherstellung der Arbeitslosenversicherung, einer "bedarfsabhängigen Grundsicherung" und einer breiten Umverteilung des Arbeitsvolumens durch Arbeitszeitverkürzung und Streichung der Überstunden. [22] Aber diesem sich allmählich konturierenden facing reality sind Grenzen gesetzt. Die Doppelkrise der Lohnarbeitsgesellschaft wird nach wie vor nur in einer Hinsicht zur Kenntnis genommen, nicht aber die hinter der Massenerwerbslosigkeit auch versteckte Abkehr der Unterklassen von autoritären und entfremdeten Arbeitsverhältnissen Vor allem bei der Abwehr aller Bestrebungen zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens wird nach wie vor Klartext geredet: Wer sich für sie einsetze, betreibe eine besonders elegante Variante der "Entsorgung" der Erwerbslosen.[23] Auf die umgekehrte Frage, ob ihr eigenes starres Festhalten an den Kernbelegschaften der doppelt freien Lohnarbeiter nicht seinerseits zur Zementierung patriarchal-hierarchischer Strukturen beitrage und die Klassenfragmentierung im Fall einer Rückkehr zur Vollbeschäftigung sogar weiter vertiefen könnte, wollen sich auch die ins WASG- Lager gewechselten Gewerkschafter gar nicht erst einlassen.

Zwischen den beiden Referenzpfaden sozialstaatlicher Erneuerung bestehen gravierende Unterschiede, aber auch einige gewichtige Übereinstimmungen. Vor allem die beiden Fusionspartnern gemeinsame Ablehnung eines von der Erwerbsarbeit abgekoppelten Anspruchs auf das soziale Existenzrecht macht das drastisch deutlich: Auf die disziplinierende Ethik der kapitalistisch verwerteten Arbeitsverausgabung mögen sie beide nicht verzichten. Für die gewerkschaftlichen Keynesianer ist und bleibt die Lohnarbeitsgesellschaft elementare Grundlage ihrer Bemühungen um die "Re-Regulierung des Sozialen", und das sicher auch deshalb, weil sie dadurch auch selbst als Tarifspezialisten und Arbeitsmarktpolitiker wieder "re-reguliert" werden. [24] Im Gestaltungsbereich der "demokratisch-sozialistischen" Rechtsliberalen sind hingegen die Kernbelegschaften der doppelt freien Lohnarbeiter weitgehend zu Museumsstücken geworden, und deshalb wollen sie an die frohe Botschaft ihrer WASG- Partner nicht so recht glauben.

Erneuern wollen sie aber beide den Sozialstaat, und das möglichst gemeinsam. Deshalb haben sie eine gemeinsame Programmkommission gebildet und im Februar dieses Jahrs "Programmatische Eckpunkte auf dem Weg zu einer neuen Linkspartei in Deutschland" verabschiedet.[25] Gemeinsames Ziel soll danach eine "friedliche, gerechte und demokratische Gesellschaft" sein, "in der jede und jeder selbstbestimmt und in Würde leben kann."[26] Dem können wir alle zustimmen, auch der daraus abgeleiteten Forderung nach einer Unterordnung der Wirtschaft "unter soziale und ökologische Zielsetzungen", einer Politik zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, zur "Demokratisierung der Eigentumsverhältnisse", und selbstverständlich auch einem gemeinsamen "Kampf gegen jede Form gesellschaftlicher Unterdrückung, gegen patriarchale und kapitalistische Machtstrukturen" sowie für die "Erneuerung und den Ausbau öffentlicher Dienstleistungen und solidarischer Sicherungssysteme." An allen diesen wahrhaft herkulischen Aufgaben wollen wir uns alle gern beteiligen. Aber wie soll das geschehen, und wo liegen die Prioritäten? Dort, wo es darauf ankommt, bleiben die vorgeschlagenen Handreichungen überaus vage.[27] Das Eigentum soll nicht sozialisiert, sondern nur "die Verfügung über sämtliche Formen des Eigentums sozialen Kriterien" unterworfen werden. "Öffentliche Beschäftigungssektoren" sollen eine neue Brücke "zwischen Privatwirtschaft und Staat" herstellen, das Tarifsystem als Grundlage der Beschäftigungsverhältnisse gestärkt, ein "nachhaltiges Wirtschaften" in Gang gebracht, eine "bedarfsorientierte Grundsicherung" aus der Taufe gehoben, ein Mindestlohn gesetzlich verankert sowie die "Wirtschaftsdemokratie" durch eine "Geschlechterdemokratie" ergänzt werden, und schließlich bedarf auch die "Integration von Eingewanderten und bereits hier Lebenden . der gesellschaftlichen und politischen Gestaltung."[28] Ein solches Sammelsurium wirkt wenig überzeugend, und hinter den post-modernen Begriffshülsen sind die Selbstzweifel und Ungewissheiten mit den Händen zu greifen. Was unter dem Strich herauskommt, ist ein Mix aus "sozialer Marktwirtschaft" und gemäßigtem Keynesianismus. Das Positive an dem Papier ist, dass es an einigen Punkten die dahinter stehenden Divergenzen aufdeckt und die unterlegenen Minderheitspositionen mitteilt: Lohnarbeitsgesellschaft gegen "alternative" Gesellschaftsmodelle, "bedarfsorientierte Grundsicherung" gegen "bedingungsloses Grundeinkommen" , "Haushaltsstabilisierung" gegen eine expansive und "defizitfinanzierte Haushaltspolitik" der Gebietskörperschaften, "Konzentration auf Wachstumskerne und Schwerpunktbranchen" oder bevorzugte Förderung "peripherer Regionen", Pro und Contra Regierungsbeteiligung auf Länderebene, Führungsrolle der Partei statt ergebnisoffener Umgang mit den außerparlamentarischen Sozialbewegungen auf gleicher Augenhöhe . Man hat sich für einen Spagat entschieden, der es den beteiligten Fusionspartnern genau so recht macht wie den von diesen vertretenen Interessenkonstellationen. Alles in allem ist eine Koexistenz zwischen Rechtsliberalen und gemäßigtem Keynesianern vorgezeichnet, die nicht nur mit emanzipatorischen Perspektiven wenig zu tun hat, sondern auch von der aktuellen CDU-SPD-Koalition bald "links" überholt werden könnte. Anzeichen für eine solche Trendwende gibt es. Im Anschluss an die marktradikalen Exzesse der SPD-grünen Regierung beginnen sich unter der umsichtigen Regie der neuen Kanzlerin Herz-Jesu-Sozialisten und Sozialstaatserneuerer die Hand zu reichen. Wenn sie Erfolg haben, dann ist eine unter diesen Prioritäten vereinigte Linkspartei überflüssig.

3. Einige Nachbemerkungen und Alternativüberlegungen

Wenn man bedenkt, dass sich die InitiatorInnen des aus dem Wahlbündnis zwischen Linkspartei/PDS und WASG hervorgegangenen Projekts nicht einmal auf eine einigermaßen kohärente keynesianische Variante sozialstaatliche Re-Regulierung zu verständigen vermochten, dann ist das Ergebnis ernüchternd. Jedoch besteht für den außen stehenden Beobachter zu Häme (? Zur Freude?) über das sich abzeichnende Scheitern der Akteure kein Anlass. Ihr Agieren auf dem politischen Feld verweist vielmehr auf die Verfasstheit des sozialen Widerstands zwischen Rhein und Oder zurück, der über zersplitterte Regungen und Manifestationen einfach nicht hinauskommen will.

Macht es angesichts eines solchen Befunds noch Sinn, die Denkwelten und Zielprojektionen der beiden dominierenden Fusionspartner aus sozialistischer Perspektive zu analysieren? Je intensiver ich über die - für mich selbst in vielem überraschenden - Ergebnisse meiner Analyse nachdenke, desto stärker werden meine Zweifel über die Sinnhaftigkeit eines solchen Vorgehens. Ich werde mich deshalb im Folgenden auf einige grundsätzliche Überlegungen beschränken. Dabei geht es mir nicht mehr - wie ursprünglich beabsichtigt [29] - um die Klarstellung von Differenzen, sondern um die Präsentation völlig anders gelagerter Sichtweisen.

(1) Gesellschaftliche Entwicklung und erste Übergangsforderungen

Im Ergebnis einer mehr als zwanzigjährigen Konstellation strategischer Unterbeschäftigung und einer dessen ungeachtet anhaltenden Flucht aus den Zumutungen entfremdeter Arbeitsverhältnisse hat sich die westdeutsche Gesellschaft dramatisch verändert. Während sich die Kapitalvermögensbesitzer, die Führungsschichten und die schmale Schicht der Deregulierungsgewinner zunehmend in ihre luxuriösen Lebenssphären und eine repressive Herrschaftspraxis zurückziehen, zeigen die Mittelschichten Auflösungserscheinungen und die Zahl der Erwerbsabhängigen und Eigentumslosen nimmt nach unten und oben zu. Eine breite Fragmentierung der Unterklassen hat eingesetzt, die nach oben zu den hochqualifizierten Scheinselbständigen der IT-Sektoren und nach unten zur neuen Massenarmut aufschließen. Die schrumpfenden großindustriellen Kernbelegschaften sind nur noch eine Komponente dieser vielschichtigen Menge. Typisch sind inzwischen komplexe multikulturelle proletarische Gemengelagen, die sich zunehmend sozialgeographisch verdichten. Diese Menschen haben die materiellen Voraussetzungen für eine einigermaßen sozial gesicherte Zukunftsplanung verloren. Die Erwerbsbiographien sind brüchig geworden und die geschlechtsspezifischen Grenzen zwischen Produktions- und Reproduktionsarbeit haben sich verwischt. Wenn es für diese wiedergekehrte Proletarität überhaupt ein übergreifendes Charakteristikum gibt, dann ist es die "prekäre" Verfasstheit der Arbeitsverhältnisse: Die Menschen sind auf der beständigen Suche nach selbstbestimmten Tätigkeiten, müssen dabei aber immer schlechter bezahlte und zunehmend ungesicherte Jobs in Kauf nehmen. Dabei wechseln sie zwischen Erwerbslosigkeit, Teilzeitbeschäftigungen, scheinselbständigen Kontraktarbeiten und befristeten Festanstellungen hin und her. Auch ihre familiären Bindungen sind zunehmend brüchig geworden: Lebensabschnitssbeziehungen und pseudofamiliäre Patchwork- Strukturen haben die patriarchale Kernfamilie abgelöst.

Diese Entwicklung steckt voller Ambivalenzen. Die Proletarität ist wiedergekehrt und hat den großindustriellen, sozialstaatlich geschützten und sich patriarchal-kleinfamiliär reproduzierenden Hochlohnarbeiter in sich aufzulösen begonnen. Auch in Deutschland hat sich der Anteil der "typischen" Vollzeitbeschäftigten inzwischen mehr als halbiert, und mehr als ein Drittel der Volluzeitbeschäftigten bezieht inzwischen Lohneinkommen, die zur kleinfamiliären Lebensplanung nicht mehr ausreichen. Von diesen Befunden ist auszugehen. Ein solches facing realities erscheint mir aber auch deshalb vordringlich, weil der Weg zur Wiederherstellung sozialstaatlich abgesicherter patriarchaler Arbeits- und Lebensverhältnisse auch mental kaum möglich ist. Wir sollten uns von den Vorstellungen eines sozialstaatlichen Zurück zur Lohnarbeitsgesellschaft und einer damit verknüpften Wiederherstellung ihrer kollektiven Repräsentationen in Gestalt von nationaler Einheitsgewerkschaft und politischer Partei verabschieden.

Trotzdem besteht kein Anlass, der weiteren Entwicklung untätig zuzusehen. Die Klassenfragmentierung schreitet voran. Das rechtsliberale Regulationssystem stellt den Akteuren der Kapitalverwertung immer raffiniertere Sozialtechniken zur Verfügung, um die Massenbedürfnisse nach selbstbestimmter Arbeit und sozialer Subjektivität in Instrumente der Überausbeutung und der Produktivitätssteigerung zu verwandeln. Wenn dieser Prozess nicht aufgehalten wird, dann führt er zu fortschreitender sozialer Fragmentierung und Massenverarmung. Deshalb genügt es nicht, die illusorischen Bestrebungen zur Reaktivierung überlebter symbolischer Repräsentationen zurückzuweisen. Dem Prozess der fortschreitenden Klassenfragmentierung sollte eine Konzeption der Klassenformierung entgegen gesetzt werden, die von denjenigen Massenbedürfnissen ausgeht, die in allen Teilen der neuen Unterklassen lebendig sind. Aus ihnen könnten erste Übergangsforderungen entwickelt werden: Umverteilung der Arbeit durch radikale Arbeitszeitverkürzung, Existentsicherung durch die Durchsetzung obligatorischer Mindestlöhne und Überwindung des normativen Arbeitszwangs durch die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Dabei ist die Kopplung dieser drei Übergangsforderungen entscheidend. Nur im Ensemble zwingen sie das Kapital in die Defensive, weil sie den verwertenden und steuernden Zugriff auf die Massenbedürfnisse nach selbstbestimmter Tätigkeit und nach der Gewinnung ihrer sozialen Individualität in egalitär verfassten kleinen Gemeinschaften erschweren.

(2) Von der Klassenfragmentierung zur Klassenformierung durch soziale Aneignung auf kommunaler Ebene

Bei den ersten Schritten zur Umsetzung dieser Übergangsforderungen sollten wir uns auf soziale Räume konzentrieren, in denen die verschiedenen Teile der neuen Unterklasse besonders breit vertreten sind. Dies sind die Zusammenballungen der "wachsenden" Metropolen und ihrer Subzentren, in denen sich die neuesten Wissensindustrien und Logistik-Zentren befinden und die sozialen Infrastrukturen der Kommunen und Gebietskörperschaften der Profitlogik der post-fordistischen cluster economy ausgeliefert werden. Genau hier ist die neue Proletarität in ihrer ganzen Vielschichtigkeit vertreten. Und deshalb sollten alle Initiativen hier ansetzen, ihre Übergangsforderungen nach selbst bestimmtem Leben in sozialen Orten verdichten und den Kampf um die Wiederaneignung des sozialen Reichtums aufnehmen.

Ein solcher Schritt setzt voraus, dass die neuen sozialen Bewegungen ihren Widerstand mit den Erfahrungen und Ressourcen der jeweiligen lokalen Gewerkschaftslinken verbinden und gemeinsam mit den sozialistischen Initiativen des politischen Felds eine gesellschaftliche Gegenmacht hervorbringen, die zu allererst kommunal verankert ist. Nur auf der kommunalen Ebene der "Metropolenregionen" und ihrer Subzentren können die Kämpfe für Mindestlohn, radikale Arbeitszeitverkürzung und bedingungsloses Sozialeinkommen konkret geführt und exemplarisch mit der sozialen Wiederaneignung der privatisierten infrastrukturellen Ressourcen (Wohnungswesen, Transportsysteme, Bildungswesen und Gesundheit, Kommunalwirtschaft, Sozialkassen) verbunden werden.

Ein solcher Prozess kann nur in Gang kommen, wenn sich die drei derzeit vorhandenen Impulsgeber (neue Sozialbewegungen, der linke Flügel der "alten " gewerkschaftlichen Sozialbewegungen und die verschiedenen sozialistischen Gruppierungen des politischen Felds) auf ihn verständigen. Der dafür erforderliche Konvergenzprozess ist überaus schwierig, denn die gegenseitigen Ressentiments sitzen tief und erscheinen kaum überwindbar. Trotzdem gibt es zu einem derartigen Vorgehen keine Alternative, denn nur auf dieser Basis vermag eine "kritische Masse" zu entstehen, die zur Verankerung in den neuen Unterklassen in der Lage ist, um gemeinsame Lernprozesse in Gang zu bringen, die exemplarisch auf die gesamte Gesellschaft ausstrahlen. Er kann nur dann auf den Weg gebracht werden, wenn die Kerne der neuen Sozialbewegungen die punktuelle Begrenztheit ihrer Initiativen zur Disposition stellen, wenn die VertreterInnen der Gewerkschaftslinken mit den undemokratisch-hierarchischen Strukturen der Einheitsgewerkschaften brechen und ihre einseitige Fixierung auf die großindustriellen Kernbelegschaften aufgeben, und wenn die sozialistischen Gruppierungen und Initiativen die normativen Strukturen des repräsentativen Parteienstaats hinter sich lassen: Statt ihr Engagement als Randströmungen in die entstehende Linkspartei zu investieren, sollten sie ihre Perspektiven umkehren und sich am basisdemokratischen Aufbau der ersten sozialen Orte beteiligen.

(3) Überwindung der Nationalstaatlichkeit und Entwicklung globaler Perspektiven der Befreiung

Die Konzentration der alternativ anzueignenden sozialen Räume auf die Metropolenregionen und ihre Subzentren würde auch neue Wege zu einer übergreifenden territorialen Klassenformierung eröffnen: Sie könnte die Fallstricke der nationalstaatlichen Einfriedung aufsprengen, in denen die Arbeiterbewegung seit dem ersten Weltkrieg befangen ist. Von den sozialen Orten könnten Initiativen zur regionalen, kontinentalen und weltweiten Vernetzung ausgehen, in die die Sozialbewegungen der global cities des Nordens genau so integriert sind wie diejenigen der slum cities des Südens. Das Rückgrat dieser sich weltweit ausbreitenden Rätestrukturen könnten die kontinentalen und transkontinentalen Migrationsströme sowie die weltweit miteinander verbundenen Transport- und KommunikationsarbeiterInnen aufbauen, und in diesem Kontext wäre eine trans-nationale Reorganisation der zuständigen Gewerkschaften zu diskutieren. Die objektiven Vorbedingungen dafür haben seit den 1970er Jahren die transnationalen Konzerne geschaffen, die den technischen Fortschritt in der Informations- und Logistikbranche zur weltweiten Diversifikation ihrer Produktionsstandorte und Wertschöpfungsketten genutzt haben.

Von solchen Perspektiven einer weltweiten Globalisierung von unten sind die ProtagonistInnen der Linkspartei weit entfernt. Ihre sozialstaatlichen Reaktivierungsmodelle sehen sie wie selbstverständlich im Kontext der Nationalstaatlichkeit (BRD und Europäische Union). Im gemeinsamen Programmentwurf haben sie festgeschrieben, dass den "in Deutschland und in den Ländern der Europäischen Union lebenden und arbeitenden Menschen gleiche BürgerInnen- und Menschenrechte unter angeglichenen materiellen und sozialen Bedingungen" einzuräumen seien. [30] Was aber ist mit den Menschen, die Woche für Woche an der Schengener Grenze zugrunde gehen? Mehr als die Wiedereinführung des Asylrechts fällt den AutorInnen des Programmentwurfs nicht ein. Aber auch sonst spürt man nichts von der kritischen Hinterfragung der Nationalstaatlichkeit durch die Sozial- und Geschichtswissenschaft der vergangenen Jahrzehnte. Der Nationalstaat ist und bleibt der zentrale Bezugsrahmen für die Wiederherstellung der Lohnarbeitsgesellschaft und ihres kompensatorischen sozialen Eigentums: "Der Nationalstaat soll wieder zu einem rechtlichen, sozialen, kulturellen und politischen Feld werden."[31]

Die in solchen Erklärungen zutage tretende mentale Symbiose von Lohnarbeitsideologie und Nationalismus hat zur Folge, dass ihre AutorInnen sich noch nicht einmal die Frage nach den Erfolgsaussichten ihrer germano- und eurozentristischen Programmatik vorlegen. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die Führungsgruppen der Weltunternehmen längst begonnen haben, den Nationalstaaten und supranationalen Machtblöcken in Gestalt der global cities und der diesen zugeordneten Subzentren Konkurrenz zu machen. Inzwischen sind die politischen Klassen der Nationalstaaten durch die Expansion der an den Küsten der Kontinente und Weltmeere entstandenen Metropolenregionen derart unter Druck geraten, dass sie ihre schrumpfenden Souveränitäten und Steuerkassen nun ihrerseits in eine bedingungslose Standortkonkurrenz geschickt haben. Über diese "Flexibilisierung" und Aushöhlung ihrer nationalstaatlichen Orientierung verlieren die Ordoliberalen noch die Keynesianer der Linkspartei- Initiative kein Wort. Der Übergang des kapitalistischen Weltsystems zu mehrschichtigen Regulationssystemen und folglich zur Relativierung der Nationalstaatlichkeit scheint aber irreversibel zu sein. Wer sich für die Reaktivierung nationaler Sozialstaatlichkeit einsetzt, sollte zumindest überlegen, was im Fall einer erfolgreichen Inbesitznahme der politischen Macht geschehen würde. Wenn es einem "linken" parteipolitischen Projekt wirklich gelänge, ihren deregulierten "Wettbewerbsstaaten" in einen vollbeschäftigungs- und hochlohnstabile Sozialstaat zurückzuverwandeln, würden sie sich sehr schnell mit einer Kettenreaktion von Kapitalflucht, Währungsabwertung und umfassenden Diskriminierungen durch die globalen Energie-, Rohstoff- und Finanzmärkte konfrontiert sehen. Ihre Chancen zur Gegensteuerung wären gering, und sie würden ihr Experiment wahrscheinlich rasch wieder aufgeben müssen - so wie beispielsweise die Mitterrand-Regierung zu Beginn der 1980er Jahre.

Ich behaupte jedoch keineswegs - wie etwa die meisten Globalisierungskritiker -, dass ein solcher Weg zur keynesianischen Re-Regulierung von Sozialstaatlichkeit völlig verbaut ist. Nur müssten sich die ExpertInnen dann der Mühe unterziehen, ihre Modelle zur keynesianischen Umsteuerung auch auf Weltebene durchzuspielen. Sue könnten ausgehend von den vier größten Reservewährungen der Welt eine neue Weltwährung kreieren, feste Wechselkurse einführen, die weltwirtschaftlichen Steuerungsinstrumente unter ihre Kontrolle bringen und die Voraussetzungen für eine weltweit greifende antizyklische Wirtschaftspolitik schaffen, um die Massenarmut zu überwinden und die dramatisch vertieften Entwicklungs- und Wohlstandsgefälle zwischen den Weltregionen zu überbrücken. Solche "post-keynesianischen" Modelle gibt es durchaus.[32] Aber sie wurden im Umfeld der Formierungsdebatte zur Linkspartei bislang nirgends zur Diskussion gestellt, obwohl es an der dafür erforderlichen wirtschaftswissenschaftlichen Kompetenz nicht mangelt und Ignoranz deshalb als Ursache ausscheidet. Die Ursache liegt wohl darin, dass die global-politischen Voraussetzungen für eine wirklich erfolgreiche Umsetzung der keynesianischen Variante von sozialstaatlicher Erneuerung allzu utopisch erscheinen: Um eine neue Weltwährung zu kreieren und den globalen Akkumulationszyklus re-regulierbar zu machen, müssten die Keynesianer simultan auf die politischen Schalthebel in Washington, Brüssel, Tokio und Peking Einfluss bekommen. . Da bleibt man doch lieber zu Hause und müht sich dort redlich - wenn auch vergeblich.

So steht Utopie gegen Utopie. Und da mir die soziale Selbstbefreiung der der Ausgebeuteten sympathischer erscheint als eine mindestens genau so schwer zu bewerkstelligende sozialstaatliche Erneuerung als Aufgabe einer technokratischen Weltelite, ziehe ich es vor, an meinen Alternativvorschlägen festzuhalten.

*) Diskussionsbeitrag von Karl Heinz Roth, zuerst erschienen im Supplement der Zeitschrift Sozialismus 5/2006 - wir danken dem Autor für die Freigabe!

Anmerkungen

1) Vgl. die laufende Dokumentation auf der von Egbert Scheunemann betreuten Website www.egbert-scheunemann.de externer Link

2) Heinz Stehr, Die DKP und ihr Verhältnis zur Linkspartei. PDS und WASG, in: Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung, Nr. 65, März 2006, S. 38-41.

3) Ausgangspunkt dazu ist die These, dass zwischen der Steuerung der jeweiligen Geldmenge und dem Preisniveau einer Volkswirtschaft eine direkt proportionale Beziehung bestehe. Die öffentlichen Haushalte werden in dieser "monetaristischen" Theorie dann zu nachgeordneten Parametern einer makroökonomischen Gleichgewichtspolitik.

4) Das "Say´sche Gesetz" behauptet, dass im Marktgeschehen jedes Angebot in der Lage sei, eine ihm adäquate Nachfrage zu schaffen.

5) Das heißt jedoch keineswegs, dass es von den herrschenden Eliten auch wirklich praktiziert wird. Sie kombinieren seine makro- und mikroökonomischen Selbststeuerungselemente immer wieder mit spezifischen Varianten der keynesianischen Theorie, insbesondere für Rüstungs-, Kriegs- und territoriale Expansionszwecke (Rüstungskeynesianismus der Reagan-Ära, expansive Haushaltspolitik zur Finanzierung des DDR-Anschlusses usw.).

6) Nämlich Akkumulationsregime und Regulationssysteme. Im Akkumulationsregime sind die Abläufe des unmittelbaren kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozesses (Verwertung des kollektiven Arbeitsvermögens, profitorientierte Wertschöpfung und daraus gespeiste erweiterte Kapitalbildung) zusammengefasst. Es ist mit gouvernementalen Regulationssystemen verknüpft, die die erforderliche Infrastruktur und die Ressourcen zur Produktion, Reparatur und Reproduktion des kollektiven Arbeitsvermögens zur Verfügung stellen und darüber hinaus die Gesellschaftsformation in ihrer Gesamtheit normativ absichern.

7) Wolfgang Clement, Durch innovative Politik zur gerechten Teilhabe, Berlin 2000; Peter Glotz, Die soziale Selbstgerechtigkeit, in: Die Zeit (Hamburg), 8.5.2003.

8) Antrag der Gruppe der PDS/Linke Liste über Vorlage eines Gesetzes über eine soziale Grundsicherung in der Bundesrepublik Deutschland. Deutscher Bundestag, Drucksache 12/504, Berlin 1993; Antrag der Gruppe der PDS über Soziale Grundsicherung gegen Armut und Abhängigkeit, für mehr soziale Gerechtigkeit und ein selbstbestimmtes Leben. Deutscher Bundestag, Drucksache 13/3628, Berlin 1996.

9) Dieter Zahn, Grundsicherung bedarfsorientiert gestalten, in: Utopie kreativ, H. 186 (April 2006), S. 337-345, hier S. 338.

10) Zum Folgenden Katja Kipping, Und weil der Mensch ein Mensch ist: Garantiertes Grundeinkommen, in: Utopie kreativ, H. 176 (Juni 2005), S. 520-524.

11) Kipping, Und weil der Mensch ein Mensch ist, S. 520.

12) Vgl. die Beiträge zur Kontroverse um ein "bedarfsgerechtes" oder "bedingungsloses" Grundeinkommen in: Sozialismus (Hamburg), Jg. 2004 ff.; Utopie kreativ (Berlin), Jg. 2004 ff.

13) Katja Kipping, Michael Opielka und Bodo Ramelow, "Sind wir hier bei ´Wünsch dir was?´" Thesen für einen neuen Sozialstaat, in: Utopie kreativ, H. 186 (April 2006), S. 333-336.

14) Kipping/Opoelka/Ramelow, "Sind wir hier bei ´Wünsch dir was?´", S. XXX

15) Ebenda, S. 335.

16) Und zwar ohne Beitragsbemessungsgrenze bei gleichzeitiger Reduzierung der Spitzensteuersätze auf 25 Prozent.

17) Michael Brie, Die Linke - was kann sie wollen? Politik unter den Bedingungen des Finanzmarkt-Kapitalismus. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 3/2006, Hamburg 2006.

18) Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 1975 ff., Köln 1975 ff.; Europäische Memorandum-Gruppe, EuroMemo 1996 ff., Hamburg 1996 ff.

19) Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000; exemplarisch für die Adoption dieses Ansatzes durch das WASG-Umfeld Joachim Bischoff, Emanzipation der Lohnarbeit im 21. Jahrhundert, in: Sozialismus, H. 7-8 (2004), S. 5-12.

20) Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2005, Köln 2005, S. 27.

21) Joachim Bischoff, Das Ende des Neoliberalismus und die Zukunft der Wirtschaftsdemokratie, in: Utopie konkret, H. 173 (März 2005), S. 200-211; Heinz- J. Bontrup, Wirtschaftsdemokratie statt Shareholder-Kapitalismus, in: Utopie konkret, H. 186 (April 2006), S. 299-310.

22) Heinz-J. Bontrup, Arbeitszeitverkürzung statt Wachstumsfetischismus, in: Sozialismus, H. 12 (2005), S. 16-24; Richard Detje, Otto König und Sybille Stamm, Weltmeister beim Export - Europameister beim Niedriglohn. Kommt der Mindestlohn unter Schwarz-Rot? In: Sozialismus, H. 3 (2006), S. 12-20; Michael Schlecht, Bedingungsloses Grundeinkommen, ebenda, S. 21-23;

23) Schlecht, Bedingungsloses Grundeinkommen, S. 21.

24) Bernd Riexinger, Re-Regulierung des Sozialen und der Arbeitsbeziehungen, in: Sozialismus, H. 12/2005, S. 12-15.

25) Programmatische Eckpunkte auf dem Weg zu einer neuen Linkspartei in Deutschland. Diskussionsgrundlage der gemeinsamen Programmkommission von Linkspartei. PDS und WASG, Februar 2006.

26) Ebenda, S. 1. Die folgenden Zitate ebenda.

27) Vgl. zum Folgenden ebenda: III. Politische Alternativen, S. 4 ff.

28) Ebenda, S. 11..

29) Am 21. Januar 2006 fand in Düsseldorf ein "Ratschlag" der Linkspartei/PDS über ihre Beziehungen zu den außerparlamentarischen Sozialbewegungen statt, zu dem ich als Gast eingeladen war und auf dem ich zusammen mit Wolfgang Dreßen im Rahmen eines Workshop die nationalstaatliche Fokussierung der aktuellen Debatten über eine "Erneuerung des Sozialstaats" kritisierte. Der Verlauf der Veranstaltung machte mir klar, dass die Kluft zu den dort vertretenen Vorstellungen groß und eine wie auch immer geartete Verständigung schwer möglich war. Deshalb hielt ich es für sinnlos, meine in Düsseldorf vorgetragenen Hypothesen weiter auszuarbeiten. Statt dessen habe ich mich im vorliegenden Papier in erster Linie darum bemüht, die hinter den programmatischen Vorstellungen des sich vereinigenden Linkspartei-WASG-Projekts verborgenen Interessenkonstellationen zu analysieren, um zu verstehen, warum die Kluft so groß ist.

30) Programmatische Eckpunkte auf dem Weg zu einer neuen Linkspartei in Deutschland, S. 11.

31) Ebenda, S. 15.

32) Vgl. vor allem Paul Davidson, Reforming the world money, in: Journal of Post-Keynesian Economics, vol. 15, Winter 1992-1993; Kai Eicker-Wolf, Wilfried Mahlmann, Sabine Reiner, Mythos und Realität der Globalisierungs- und Standortdiskussion, Marburg 1999 (Schriftenreihe der Forschungsgruppe Politische Ökonomie, Nr. 2), S. 115.


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