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Updated: 18.12.2012 15:51 |
"Hungerstreikaktion" Kommentar von Dirk Vogelskamp* Lieber Peter, liebe MitstreiterInnen, besten Dank für die Zusendung des überarbeiteten Entwurfs für eine "Hungerstreikaktion". Ich möchte zumindest dieses Mal kurz darauf eingehen, sorry, dass ich’s vorher nicht geschafft habe. Eingangs versucht das Papier angesichts des "schwachen Widerstands" gegen die Verarmungspolitik von oben, den Pauperismus des 21. Jh., die sozialen und politischen Kräfte (Linkspartei, Gewerkschaften, soziale Bewegungen, Verbände, attac ...), die nach Ansicht der AutorInnen dagegenhalten könnten, auf der Suche nach einer "übergreifenden Gegenstrategie" ab- und einzuschätzen. Da sich die neuen und alten Armen weder so ohne weiteres politisieren noch massenhaft zum Protest mobilisieren lassen, sondern vielfach ihre prekären Arrangements mit der Armut treffen und Überlebensstrategien suchen, die jenseits der gewohnten politischen Artikulationen angesiedelt sind (s. auch Christa Sonnenfelds aktuellen Beitrag im Linksnetz), zielen die AurorInnen des Papiers mit ihren Überlegungen, den sozialen Protest zu dynamisieren, wieder auf die abgewrackten Polittanker (Gewerkschaften, Parteien ...), als ob diese nicht ihre je eigenen, machterhaltenden Strategien im Herrschaftsgefüge verfolgten. Der Demonstrationsanbiedrungsslogan "Das geht besser. Aber nicht von allein" spricht Kapitalbände. Laßt sie doch ihren Protest inszenieren! Aber warum sollten sich 3,5 Mio. arbeitende Arme, Millionen Arbeitslose und aussortierte Arme im phantasielos drohenden "Wir können es besser" zu Fußtruppen Michael Sommers, Gregor Gysis, Oskar Lafontains und anderer Protest- und Bewegungsmanager degradieren lassen. Auch im WASG-Managment sitzen brave Sozialisten, die lauthals blöken: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Sozialtechnische Arbeits- und Knechterhaltungsutopien so weit das träumende Auge reicht. Ich kann den Frust der schreibenden GenossInnen ob solcher sozialdemokratisch rot-roter Reformmitmachphantasien gut nachvollziehen. Ich fürchte nur, dass aus diesem Frust heraus ein Aktionskurzschluss entstanden ist, der zu alledem hoffend glaubt, das Geisterschiff SPD in eine "Glaubwürdigkeitskrise" stürzen zu können, wenn’s nur ordentlich existenziell zugeht. Die Reinigungskrise hat die SPD längst hinter sich gebracht und damit den Genossen Lafontaine an die sozialistische Fremdarbeiterfront gehievt, als sie samt grünen Menschenrechtskriegern den Menschen messertief ins Fleisch schnitten – recht erfolgreich. Die Armen sterben wieder früher, sind öfters krank, bleiben dummm und 2,5 Mio. unter Armut aufwachsende Kinder erwartet sozialdemokratische Chancengerechtigkeit, währenddessen fährt die BA 10 Mrd. Euro Reformrendite ein. Die Funktionärspartei SPD ist doch schon lange so glaubwürdig wie ein Frischhalteetikett an der Fleischtheke im Supermarkt (s. Wahlen in Meck-Pom und Berlin). Wer SPD wählt, hält die die hauchdünnen Wurstscheibchen der Armen für immer noch zu dick. Warum sollte eine medial inszenierte Hungerstreikaktion von Menschen, die Verzicht schließlich gewohnt sind und die mit etwas mehr als 4 Euro täglich ihren Lebensbedarf decken müssen, der wohl noch unterhalb des Gammelfleischniveaus angesiedelt sein dürfte, die Menschenschinder der SPD jetzt noch schrecken? Ein selbstbestimmtes und sozialverträgliches Frühableben ist bekanntlich allen Sozialtechnikern recht. Gäbe es Menschen, die verzweifelt genug sind, sich in einen Hungerstreik zu begeben, könnten sie meines tiefen Mitgefühls und meiner Solidarität sicher sein – aber als politische Aktion, ausgedacht von Bewegungskadern, ist diese "Protestform", erwartungsbeladen wie sie ist, geradezu unpolitisch. Mag Wompel hat ja einige Argumente vorgebracht, denen ich mich anschließen kann. Kurz: Ich halte nichts davon, die Ohnmachtshaltung zur politischen Aktion zu erklären. Was tun? Ich weiß es, ehrlich gesagt, auch nicht! Wenn schon Aktionen, spontan eingefallen und undurchdacht: warum laden wir nicht ein zu einem Tag der offenen Türen bei denjenigen, die, hochentlohnt und diätenschwer, tagtäglich in nicht zu überbietender Leichtigkeit über die Zumutbarkeit von Jobs, von Niedriglöhnen, von Zuzahlungen, von Armutsrisiken und Kürzungsmöglichkeiten schwadronieren. Hin in Bettel- und Arbeitskolonnen zu unseren Bundestagsabgeordneten nach Hause. Wie leben die, die über unser Leben debattieren, als könnte man dasselbe mit Hartz IV anständig bestreiten. Konfrontieren wir sie mit Armut, mit den unzähligen Nöten aus unserer Nachbarschaft. Begeleiten wir sie beim Einkauf – Weihnachten steht vor der Tür, drehen wir ihre Mülltonnen nach Brauchbarem um ...., sonnen wir uns in der Herbstsonne auf ihrem Rasen, nachdem wir ihn kostenfrei zu mähen angeboten haben. Trinken wir Tee und Kaffee aus der Thermoskanne mit den Familien der Abgeordneten am Straßenrand und debattieren. Lassen wir sie unseren Unmut mit Armutsmahnwachen und -gesängen und Theaterspiel ein paar Wochen spüren. Terror, Neid, wird die Blödzeitung grölen. Na und! Besuchen wir ihre Kneipen und Restaurants, schauen wir ihnen mal über die Schulter, wie’s sich so leben läßt als Abgeordneter, der über die Lebensbedingungen anderer entscheidet. Mitesseraktion statt Hungerstreik! 10 Euro mehr oder weniger für ein Fläschchen für‘s Volk. Was kostet’s die Herren und Damen Abgeordneten. Stoßen wir mit unseren vollcaskoversorgten Volksvertretern an, die das Volk allzu derb zu treten belieben. Volksvertreter finden sich in jedem Wahlkreis, Aktionen lokal, spaßig und konfrontativ sind leicht umzusetzen. Die Anfahrtswege sind kurz und für jedermann und jedefrau erreichbar. Es braucht kein bundesweites Planungsbüro, lediglich ein paar Leute (Aktivisten), die vor Ort anfangen und andere einladen mitzutun. Selbstredend kann auch eine weniger aktionistische Ebene ergänzend gefunden werden (Protestbriefe, Veranstaltungen etc.). Die Herren und Damen Abgeordneten möchte ja wieder gewählt werden. "Sie sollen nicht ungeschoren davon kommen", sprachen die Schafe und wetzten die Messer. Und: Über die mögliche Beteiligung linker Reformagenten brauchen wir uns keine Illusionen zu machen. Ernsthaft: Die Kluft zwischen denen, die die Armut per Gesetz produzieren, und denen, die sie zu erleiden haben, ist ungeheuer groß. Sie leben geradezu in unterschiedlichen Welten. Die müssten vielleicht nur kurzgeschlossen werden, damit‘s funkt. Ich schalte inzwischen Radio und Fernsehen ab, wenn gut entlohnte JournalistInnen, WissenschftlerInnen und PolitikerInnen über zumutbare Einschränkungen, über die horrenden Gesundheits- und Alterskosten oder über Bildungsfortschritte zum Wohle "unserer" Wettbewerbsfähigkeit palavern. Wenn man sie wieder mit dem Leben der Armen konfrontierte, vielleicht entzündete sich dann etwas – diesseits und jenseits der Barrikaden. Solche direkteren Aktionen erscheinen mir jedenfalls allemal politisch ergiebiger zu sein als der Versuch, mit einem Hungerstreik den Kurs der Parteitanker ändern zu wollen. Das ginge wohl nur mit Dynamit. Anmerkung: Kommentar zu "Hungerstreik gegen Hartz IV-Abbau - existenzielle Zumutungen mit existenziellen Protestformen beantworten!"
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