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Updated: 18.12.2012 15:51 |
"Die Gauner auf der Regierungsbank"* Soziale Proteste kleiner Gruppen Das gemeinsame Merkmal "Erwerbslosigkeit" stellt eine Klammer dar, die außerordentlich wage ist und kaum Zusammengehörigkeitsgefühle hervorbringt. Die Gründe dafür, dass Formen eines kollektiven Bewusstseins kaum wahrnehmbar sind, sind vielfältig. Zu heterogen ist die Zusammensetzung der Erwerbslosen, berücksichtigt man Bildungs-, Qualifikations- und Sozialisationsunterschiede. Darüber hinaus gibt es viele Erwerbslose, die die herrschende Position einnehmen und Diffamierungen selbst internalisiert haben. Andere wiederum sehen sich nicht als Teil der Erwerbslosen, sie definieren ihre Situation als intermediäres Stadium, das mit ihrer gesellschaftlichen Lage eigentlich nichts zu tun hat. Der Propagandadruck, ist immens. Die Bundesregierung und die mit ihr verwobenen Medien sind angestrengt bemüht, Erwerbslosigkeit als Normabweichung und Verstoß gegen die Arbeitsmoral zu interpretieren. Dabei nimmt deren Aggressivität kontinuierlich zu. Es wird der Eindruck erweckt, als schadeten die Erwerbslosen der Allgemeinheit, bis hin zu der in jüngster Zeit erzeugte Stimmung, soziale Leistungen in Anspruch zu nehmen, sei im Grunde illegitim (Kurt Beck). Derartige Botschaften, gepaart mit sachlich falschen Informationen, sprechen erfolgreich Instinkte an und mobilisieren diese. In den großen Tageszeitungen wird unentwegt fabuliert, dass zukünftig Sanktionen bei Arbeitsverweigerung drohen, - man schaut nicht einmal mehr in das hauseigene Archiv um festzustellen, dass der Sanktionsapparat seit Jahren hochgerüstet ist. Das zum 1. August 2006 geplante sog. Optimierungsgesetz war lange Zeit konfus und unrichtig, gerade im Hinblick auf den Arbeitszwang, wiedergegeben worden. Tatsächlich kann die dritte Arbeitsverweigerung dazu führen, dass nicht einmal mehr die Miete übernommen wird. Obdachlosigkeit wird so bewusst herbeigeführt. Da Erwerblose als potentielle Betrüger gelten, kennt man jetzt keine Nachsicht mehr. Dieses aggressive Klima spiegelt sich in den Leitartikeln und Kommentaren. Anfang Juni etwa begrüßte die Redakteurin der Süddeutschen Zeitung , Sibylle Haas, in ihrem Kommentar Niedriglöhne und fragte, so als schwimme sie gegen den Strom: "Warum nicht Schuhe putzen?" Die Würde solle vor allem davon abhängen, ob man überhaupt arbeitet, - "der Lohn und die Art der Arbeit sollten zweitrangig sein" (SZ, 03.06.2006). Nach dieser Logik bewahrt man offenbar auch im Arbeitslager noch seine Würde, weil sie offenbar nur noch etwas Gefühltes ist, jenseits von realen Bedingungen. Eine derartige anbiedernde und zugleich bornierte Haltung, die aus Presse und TV uns ohne Atempause entgegenhallt, untergräbt kritisches Bewusstsein, zumal diese Haltung seit Jahren vor allem immer dann zu schäumen beginnt, wenn Gesetzesverschärfungen anstehen. Der Geist wird dumpf. Gibt sich vor diesem Hintergrund die überwiegende Zahl der Erwerbslosen zufrieden mit dem Platz, den man ihnen zuweist oder herrscht Unzufriedenheit? Und wie setzt sich diese Unzufriedenheit um, - erwächst daraus praktische Widerständigkeit oder eine irgendwie geartete Form der Opposition? Arbeitslosigkeit, die mehr denn je mit materieller Armut gekoppelt ist, muss, wie wir erleben, nicht notwendigerweise zu Unruhen, Protest oder gar gewaltförmigen Auseinandersetzungen führen. Gegen derartige Kurzschlüsse: Arbeitslosigkeit - Hunger - Protest zog Edward P. Thompson bei seiner Analyse der englischen Unterschichten im 18. Jh. konsequent zu Felde. Viel wichtiger scheint ihm die Frage: Was tun Menschen, wenn sie hungrig sind, worin sehen sie die Ursachen und wie verändert sich kulturspezifisch ihr Verhalten? Menschen haben alltäglich Vorstellungen davon, was legitim und was illegitim ist. Und es gibt spezifische Konstellationen, in denen sie ihre Normen des Zusammenlebens angegriffen sehen und reagieren. [1] Übertragen auf die gegenwärtige Situation der Erwerbslosen könnte die Spur Thompsons auf diese Weise weiter gesponnen werden, ohne die Lebensbedingungen im Rahmen der Hungeraufstände auf heute übertragen zu wollen, - es geht um den analytischen Blick: die hohe Arbeitslosigkeit hat bislang nur in wenigen Fällen zu einer kontinuierlichen, kollektiven Reaktion auf Verarmung, Verletzung der Persönlichkeitsrechte und Zwang geführt. Viele sind mit ihrer Situation unzufrieden, fluchen, leiden in Demut oder führen ihren einsamen Kampf mit der Sozialbürokratie. Bisher waren dies offenbar keine Voraussetzungen, um elementar verschlechterte Lebensbedingungen im sichtbaren Protest zu überwinden. Herrschender Konsens ist - und diese Moral ist nach wie vor prägend - dass man nur mit Lohnarbeit aus diesem Zustand heraustritt. Man gehört dann wieder zu den Anständigen. Real aber wird für viele, dass sie trotz Jobs an der Armutsgrenze leben müssen. Das Versprechen, durch Lohnarbeit diesen Zustand überwinden zu können, ist nur noch ein ideologisches. Protest wird vor allem dadurch verhindert, dass die Werte Konformität, Anpassung und Pflichterfüllung auch bei den Erwerbslosen dominant und bewusstseinsbildend sind. Unzufriedenheit führt hier eher zum Wunsch nach der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die höherwertig scheint. Diese Analyse beschreibt jedoch nicht lückenlos, warum das "field-of-force" (Thompson), das Spannungsfeld, das die Lage der Erwerbslosen ausmacht, neben der überwiegende Duldsamkeit und passiven Unterwerfung eben auch vereinzelt eruptiven Aktionen und Attacken Raum gab und gibt. Insbesondere im Jahr 2004, als die geplanten Hartz-IV-Gesetze in ihren Inhalten in die Öffentlichkeit drangen, kam es zu zahlreichen, individuell angelegten Farbbeutelattacken, Übergriffen, Brandanschlägen bis hin zu Selbstmorden (vgl. "Spricht jetzt die Tat?"[2]). Bei diesen Aktionen war rückblickend Neues zutage getreten:
Die Polizei vermutet "Kleinstgruppen" Im Jahr 2005, als die Gesetzgebung in Kraft trat, drangen nur noch spärlich Meldungen über Attacken an die Öffentlichkeit, wobei nicht zu klären sein wird, ob die Medien diese Informationen über Konsens-Abweichungen hermetisch abschnürten oder, ob die Polizeistellen die Informationen nicht mehr an die Presse weitergaben. Meldungen beinhalten deshalb immer auch den konformen Blick und sind insoweit verzerrt, wenn sie überhaupt auftauchen. Wenn doch immer wieder Berichte an die Öffentlichkeit kommen, so könnte dies darauf hinweisen, dass die Ereignisse aus herrschender Sicht nicht länger ignoriert werden können. Hinzu kommt, dass es zunehmend Internetseiten gibt, die von den Agierenden mit Informationen ausgestattet werden. Wie jüngste Meldungen erkennen lassen, haben offenbar Aktionen von Kleingruppen kontinuierlich - so auch 2005 - stattgefunden, waren aber bislang in den Medien kaum aufgetaucht. Massenhaft geschieht dies nicht. Und die Übergriffe in den Arbeitsagenturen ("Gewalt gegen Arbeitsberaterin") finden parallel dazu auch weiterhin statt. Für den Zeitraum von 2004 bis 2005 hatte das "Schwarzbuch Hartz IV"[3] eine Chronik der Protestaktionen erstellt. Seit Beginn diesen Jahres sind weitere Angriffe bekannt geworden, wobei durch Erklärungen der Polizei mitunter deutlich wird, dass sie nicht erst jetzt durchgeführt wurden. Hierzu einige Beispiele, soweit sie mir zugänglich waren, die Übersicht wäre möglicherweise zu ergänzen [4]:
Besonderheiten fallen auf:
Die Unterprivilegierten geben sich nicht immer mit dem Platz zufrieden, den man ihnen zuweist (Wirtz 1981 [5]), man kann deshalb nicht pauschal von einer kohärenten Struktur sprechen, etwa in der Weise, dass Erwerbslose generell nicht in der Lage seien, sich zu widersetzen, wie oft behauptet wird (kritisch dazu Rein 2005 [6]). Denn es gibt eben parallel dazu vereinzelt die Ausbrüche aus Lethargie und Ergebenheit, egal, wie man sie bewerten will. Die Anschläge bedeuten nicht, dass die überwiegende Mehrheit der Erwerbslosen Regelverletzungen mittrügen bzw. akzeptierten. Pflichterfüllung und Untertanengeist sind mentalitätsgeschichtlich zu intensiv verinnerlicht. Die oben beschriebenen Aktionen dürfen deshalb weder überbewertet noch generalisiert werden, aber sie sind - auch in ihrer Singularität - Ausdruck eines Transformationsprozesses, innerhalb dessen die Armut zunimmt und Staat und Unternehmen die soziale Sicherung nur noch als Hindernis begreifen. In diesem Prozess lösen sich Menschen aus ihren bisherigen Vorstellungen von Legitimität, ohne sogleich ein verändertes Gefüge gefunden zu haben. Die Ideologie der sozialen Sicherheit durch Vollbeschäftigung stimmt immer weniger mit der Wirklichkeit überein. Erlebt werden Statusverlust, Existenzkampf und Angst vor der Zukunft. Der gleichzeitig erlebte Reichtum Anderer und die stetig wachsenden Gewinne von Kapitalgesellschaften ist nur noch schwer mit dem Ideal von einem einigermaßen funktionierenden Gemeinwesen in Deckung zu bringen, - und dies wird gesellschaftlich ganz unterschiedlich verarbeitet. Der Blick auf die gegenwärtigen Protestformen, wenn sie denn überhaupt stattfinden, zeigt das Phänomen, dass kleine Gruppen (offenbar mit Ausnahme der "Militanten Gruppen") symbolische Orte bzw. Objekte suchen. Sie existieren neben den Gehorsamen und neben den vereinzelten Demonstrationen auf der Straße. Durch eine genauere Analyse der (kurzfristigen) Manifestationsbedingungen, der verschiedenen Formen der Widerständigkeit (wie z.B. auch "Ungehorsam" und Regelverstöße) sowie der Widersprüche in den Zielsetzungen ließe sich das Verhältnis von Konformität und Widerstand präzisieren. Christa Sonnenfeld Anmerkungen: *) Aus einem Bekennerschreiben Anfang Mai 2006 1) Thompson, Edward P., Die ,sittliche Ökonomie' der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: Puls, Detlev (Hrg.), Wahrnehmungsformen und Protestverhalten. Studien zur Lage der Unterschichten im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt 1979 2) Sonnenfeld, Christa, Spricht jetzt die Tat?, in: www.links-netz.de 3) Agenturschluss (Hrg.), Schwarzbuch Hartz IV. Sozialer Angriff und Widerstand - eine Zwischenbilanz, Berlin/Hamburg 2006 4) Meldungen aus Tageszeitungen, Der Spiegel, www.germany.indymedia.org , www.labournet.de 5) Wirtz, Rainer, ,Widersetzlichkeiten, Excesse, Crawalle, Tumulte und Skandale'. Soziale Bewegung und gewalthafter Protest in Baden 1815-1848, Frankfurt 1981 6) Rein, Harald, Gegenwehr von Erwerbslosen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus und heutige Erwerbslosenproteste, in: FALZ (Hrg.), Arbeitsdienst - wieder salonfähig!, Frankfurt 2005 |