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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Editorial zu: Schwarzbuch Hartz IV. Sozialer Angriff und Widerstand – Eine Zwischenbilanz Herausgeberinnen: agenturschluss Editorial Auf einer Konferenz im Januar 2010 zum 5. Jahrestag von Agenturschluss wird im besetzten Jobcenter "Paul Lafargue" in Jüterbog eine landesweite Kampagne unter dem Motto »Dreimal und es gibt Ärger" gegen übereifrige SachbearbeiterInnen vorgeschlagen. JedeR FallmanagerIn, die permanent wegen Schikanen gegen AntragstellerInnen auffällt, sollte zwei schriftliche Verwarnungen erhalten. Werden diese nicht beachtet, wird ein Foto der Person als Plakat gedruckt, auf dem steht, was sie getan hat; das wird dann in der Gegend plakatiert. Gelsenkirchner AktivistInnen schlugen eine andere Strategie vor: Wenn eine Sanktion verhängt wurde, sollte eine Telefonkette von AntragstellerInnen aktiviert werden, die dann zum JobCenter kommen und es besetzen, bis die Amtsleitung die Sanktion zurücknimmt. Die Prüfdienste vom Arbeitsamt werden seit Januar 2006 regelmäßig von freundlichen Nachbarn mit einer Kissenschlacht empfangen. Zahnbürsten regnen auf die Sozialschnüffler herab, im Ehebett tummeln sich die Bedarfsgemeinschaften. Zwangsumzüge scheitern, weil der Möbelwagen nicht kommt, denn viele FreundInnen blockieren die Zufahrt. Die Ein-Euro-JobberInnen der Caritas haben in allen Diözesen (bis auf Fulda) bezahlte Gottesdienstbesuche und zahlreiche Gebets- und Frühstückspausen in der Dienstzeit durchgesetzt, die besonders gern von Atheisten und Protestanten weit weg von der Kirche wahrgenommen werden. Die Ein-Euro-JobberInnen der evangelischen Straffälligenhilfe Wichernhaus e.V., die in der Grünanlagensäuberung in Wuppertal tätig sind, fordern für ihre Arbeit schnellere Minibagger, die sie zur Schwarzarbeit, aber auch zu Aktionen der Kampagne "Agenturschluss" nutzen können. Die Ein-Euro-Köchinnen der Waldorfschulen protestieren seit Wochen im Eurythmieschritt, zitieren unentwegt Rudolf Steiner und servieren für das Lehrerkollegium nur noch ungenießbare Rumford-Suppen[1] . Verdi erkennt bereits 2009, dass die mittlerweile 2 Millionen Ein-Euro-JobberInnen eine Gefahr für die regulär Beschäftigten des öffentlichen Dienstes darstellen. Nach der 2006 verlorenen Kampagne "Rettet die Müllabfuhr" hatten Caritas und Diakonie freundlicherweise die Müllabfuhr übernommen und kurzer Hand Ein-EuroJobberInnen für diese gemeinnützigen und zusätzlichen Arbeiten "eingestellt". Verdi möchte deswegen auch bei der neuen Wohlfahrts-Müllabfuhr die Mitgliederwerbung starten und Betriebsräte sowie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durchsetzen. Wir wissen nicht, ob unsere Wünsche die nächsten Jahre so oder anders in Erfüllung gehen. Aber wir wissen, dass der Widerstand gegen Hartz IV in all seinen Formen und an allen Orten davon lebt, dass wir uns weiter einmischen, Partei ergreifen und die eigenen Interessen wirkungsvoll vertreten lernen. Als wir am 3. Januar 2005 in vielen Städten die Arbeitsämter belagerten und zu besetzen versuchten, war es vollkommen unklar, ob sich nach den Montagsdemonstrationen und den Massendemonstrationen des Jahres 2004 auch nach der Einführung von Hartz IV ein Protestnetzwerk entwickelt, das sich gegen die Zumutungen von Hartz IV wirksam wehren kann. Auch wenn viele von uns den mäßigen Erfolg bei den Mobilisierungen am 3.Januar beklagen, schätzen wir "Agenturschluss" als Versuch, auf dem Felde der sozialen Auseinandersetzung wieder eine explizit linke Alternative zu entwickeln. Wir wollen anknüpfen an die widerständigen Traditionen der Schwarze Katze- und Erwerbslosengruppen der 80iger Jahre in der BRD[2] , und lassen uns inspirieren von den Kämpfen der US-amerikanischen Erwerbslosenbewegungen in den 30er und 60er Jahren[3]. Wir schrieben vor einem Jahr im Aufruf "Wir wollen die Nötigung und Beschneidung unseres Lebens anhalten und einen Raum schaffen für den Ausdruck unserer Ängste, unserer Wut und unserer eigenen Vorstellungen von einem würdigen Leben. Ob wir mit den jetzt stattfindenden Demonstrationen, Kundgebungen und Aktionen die notwendige gesellschaftliche Kraft entfalten, damit die Regierung die »Hartz-Gesetze« zurücknimmt, wissen wir nicht. Unsere Wut und unsere Phantasie sind aber noch lange nicht aufgebraucht. Selbst wenn die »Hartz-Gesetze« Alltag werden, wird der soziale Protest und Widerstand dagegen nicht zu Ende sein. Es sind schon andere Gesetze wieder gekippt worden. Weisen wir das gesellschaftliche Elend, das uns jetzt versprochen wird, zurück (.) Viele Menschen begreifen, dass der Angriff auf uns und unsere Bedürfnisse gleichermaßen für Erwerbslose wie für Lohnarbeitende gilt. Für diejenigen, die lohnarbeiten, als Erpressung zu Mehrarbeit und Lohnverzicht. Für diejenigen, die erwerbslos sind, als Leistungskürzung und Zwang in Billigjobs. Immer mehr Aufwendungen für Renten- und Krankenversicherung kommen für alle dazu. Dass ausgerechnet die großen Sozialverbände wie Caritas, Diakonie oder AWO von der Einführung des nur symbolisch entlohnten Pflichtdienstes für »Arbeitslosengeld-II-BezieherInnen« profitieren wollen, macht sie zu klaren Gegnern im Widerstand gegen die »Hartz-Gesetze«. Im gemeinsam und gleichzeitig erlebten Alltag der Bedrohung mit Arbeit und Arbeitslosigkeit gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen. Darin liegt aber auch die Möglichkeit, im Protest und Widerstand, nicht nur gegen die »Hartz-Gesetze«, zusammen zu kommen."[4] Agenturschluss ist auch heute noch eine Initiative von sozialpolitisch engagierten Gruppen aus mehreren Städten. Sie entstand 2004 auf dem Kongress »Die Kosten rebellieren - Internationale Versammlung zu Prekarisierung und Migration« und wurde auf einem bundesweiten Treffen Anfang August 2004 konkretisiert. Als ebenfalls im August 2004 urplötzlich in vielen Städten Ostdeutschlands Montagsdemonstrationen entstanden, wurde es richtig interessant. Nicht nur wir waren sehr gespannt, ob die Einführung von Hartz IV problemlos und ohne Widerspruch gelingt. Auch nach dem 3. Januar 2005 haben wir weitergemacht, im Bewusstsein, dass jetzt die Auseinandersetzungen um Hartz IV erst anfangen und dass wir einen langen Atem brauchen. Unser erstes Projekt nach dem 3. Januar 2005 war daher der Beginn einer umfassenden Untersuchungsarbeit. Für unsere weiteren politischen Interventionen in den Ämtern, auf den Straßen, an den Ein-Euro-Einsatzstellen und vor den Privathäusern von unverschämten Amtsleitern benötigen wir Informationen. Zusammen mit Labournet, der BAG-SHI und Tacheles e.V entwickelten wir eine Umfrage zu den Auswirkungen von Hartz IV und zu den Ein-Euro-Jobs, die seit März 2005 im Internet online war, die aber auch in gedruckter Form überall von Erwerbslosengruppen und MontagsdemonstrantInnen eingesetzt wurde. Wir woll(t)en alles wissen: wer schikaniert die Erwerbslosen, wie werden Zwangsumzüge durchgesetzt, welche Einrichtungen holen sich die billigen Ein-Euro-JobberInnen, in welcher Stadt arbeiten schon die Prüfdienste. Die Umfrage hatte verschiedene Funktionen. Neben dem Informationsgewinn für die Erwerbslosengruppen konnten sich die Betroffenen anonym zu Wort melden. Und die Beschäftigten der Arbeitsämter und die Verantwortlichen für die Hartz IV-Umsetzung durften sich kontrolliert fühlen, was auf deutschen Amtsstuben nicht selbstverständlich ist. Die Agenda 2010 und die verschiedenen Hartz-Gesetze stellen eine neue Dimension des sozialen Angriffs in der BRD dar, die zukünftig zu verschärften sozialen Konfrontationen führen wird. Wir nehmen deswegen den Zeitpunkt "Ein Jahr Hartz IV" zum Anlass für eine theoretisch - praktische Einordnung und Bewertung des fortschreitenden sozialpolitischen Angriffs. Ein wichtiger Aspekt des Buches ist die Auswertung einer bis Ende 2005 durchgeführten bundesweiten Befragung von Arbeitslosen zu ihrer Situation in den Arbeitsagenturen und bei den externen Trägern von Zwangsmaßnahmen. Dazu enthält der Band eine Reihe konkreter Tipps und Tricks für Arbeitslose, die von den beteiligten Beratungsinitiativen zusammengestellt wurden - unter anderem bei verschärfter Verfolgungsbetreuung durch den sozialschnüffelnden Prüfdienst. In einem Beitrag zur Praxis des Profiling und zur Etablierung der so genannten Ein-Euro-Jobs wird der mehr als nur disziplinierende und entrechtende Charakter dieser Zwangsinstrumente untersucht. Den historischen Wurzeln und der Entwicklung dieser Konzepte widmet sich das Buch in einem Artikel über die Geschichte von Zwangsdiensten. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Buch den Prozessen der Selbstorganisierung innerhalb der Sozialproteste zu, die sich unabhängig von gewerkschaftlichen Positionierungen entwickeln, ohne den Blick auf basisgewerkschaftliche Initiativen zu vernachlässigen. Es enthält eine Chronik, die den Widerspruch und Widerstand gegen den Sozialen Angriff seit Verabschiedung des Hartz'schen Gesetzespakets im Herbst 2002 dokumentiert. Darüber hinaus werden die spezifischen Konsequenzen der Eingriffe für Flüchtlinge und MigrantInnen analysiert. Vergleichend richten zwei der AutorInnen ihren Blick auf die Entwicklung des Sozialraubs und die damit verbundenen Konflikte in England und Frankreich. Hier schließt eine generelle politökonomische Analyse des Neoreformismus an. Denn Hartz IV ist nicht für sich allein zu begreifen. Die darin angesetzten Strategien sind nicht einmal spezifisch für den "Sozialsektor". Sie betten sich ein in eine umfassende Offensive, die arbeitstechnische, sozialtechnische, informations- und telekommunikationstechnische Seiten, Kontrolltechniken des öffentlichen Raums, Zugangsgrenzen etc. miteinander vereint. Im Artikel Abrichtung und Revolte wird dieser Zusammenhang, auch anhand seiner historischen Vorläufer, beleuchtet. Zum Abschluss wagt der Sammelband eine Diskussion über neue Formen und Visionen des Sozialen jenseits von Arbeit und Staat. Wir bedanken uns bei allen, die bei der Produktion dieses Buches geholfen haben. Vielen Dank an die Autoren und Autorinnen, an die Soziologin für die Auswertung unserer Umfrage und an den geduldigen Layouter. Wir danken den MitarbeiterInnen des Verlages, den DruckerInnen, und den AktivistInnen auf der Straße. Agenturschluss Dezember 2005 Anmerkungen 1) Von Graf Rumford zur kostengünstigen Armenspeisung entwickelte Suppe. 2) Dirk Hauer: Wir holen uns, was uns zusteht. Soziale Aneignungsbewegung in Hamburg. In: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 439 / 08.06.2000 ; Dirk Hauer: Schwarze Katzen in der Hängematte. Aneignungsbewegung in den 1980er Jahren - ein Rückblick aus aktuellem Anlass, In: Nr. 487 / 17.09.2004. 3) Frances F. Piven, Richard A. Cloward, Aufstand der Armen, Frankfurt 1986 |