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Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Agenturschluss - ein spekulative Bilanz

Immerhin: Nach dem ausbrüten der witzigen Idee auf dem Dortmunder Kongress „Die Kosten rebellieren“ im Juni 04 und zwei überregionalen Vorbereitungstreffen in Wuppertal, dessen letztes immerhin vor einem Vierteljahr am 2. Oktober stattfand, kam es in 83 Städten im Bundesgebiet gegen die Einführung des Hartz IV-Armutsregimes zur mehr oder weniger gelungenen Realisierung von „Agenturschluss“. Aufgrund des vorbildlichen Engagements von Labournet, Indymedia und der FAU-AktivistInnen liegen bislang etwas konkretere Berichte aus 56 Städten vor, die auf den entsprechenden Internet-Seiten nachgelesen werden können. Wer sich hier einmal die Mühe macht diese Berichte und Fotos durchzusehen, wird schnell ein buntes zum Teil auch im besten Sinne phantasievolles Potpurri der unterschiedlichsten Situationen, Konfrontationen, Protesttypen und Manifestationen finden: Von der etwas anderen Montagsdemo, Infostand, Sektfrühstücken, irritierenden Behördenumzügen, einem Baggerangriff bis hin zu einem schwungsvoll-dynamischen Demonstrationsmarsch direkt auf das AA-Gebäude findet sich einiges, dass mit Fug und recht als ordnungswidrig bezeichnet werden kann. Und glaubt jemand im Ernst, die Freundinnen und Genossen in Flensburg, Lindau, Zeitz, Worms, Jüterbog, Landshut und Königs Wusterhausen hätten an diesem Tag einfach so für sich losgelegt, ohne zu wissen, das sie an diesem Tag mit ihrer von vornherein an der Arbeitsagentur auf symbolische Konfrontation angelegten Präsenz in einem etwas größeren Organisierungszusammenhang stehen ?

Übrigens: Wenn die TAZ (Tageszeitung) noch die wäre, weswegen sie einst Ende der 70er Jahre gegründet worden ist, dann hätte sie analog zu Landkarten über Gorlebenproteste und Hausbesetzungen zu Beginn der 80er Jahre eine mit Agenturschlussorten übersäte BRD-Karte publiziert. Anyway: Die vorbehaltlose Unterstützung der tapferen Sozialkahlschlagspolitik der rot-grünen Bundesregierung durch die auch nicht gerade üppig bezahlten TAZ-Journalisten erfordert (nicht nur) von diesen selbstredend eine andere Publikationspolitik.

Festzuhalten ist zunächst aber einmal das die dezentral orientierte Initiative Agenturschluss, die ganz im Unterschied zu ziemlich effektiv – und damit inhaltlich natürlich auf Null - organisierten Parteien, Verbänden oder Gewerkschaften über nicht einen einzigen bezahlten Mitarbeiter verfügte, es mit ihrer Aktionsidee vermocht hat, weit über ihren organisatorischen Binnenkreis hinaus ein paar tausend Leute anzusprechen: Und das auf nicht weniger als einem Terrain das sowohl in der BRD als auch in der ehemaligen DDR vollständig durch die entsprechenden Institutionen für rund ein halbes langes Jahrhundert verstaatlicht war und noch weitgehend ist. So ist es zunächst einmal nicht verwunderlich, das diese Initiative derzeit innerhalb der Institutionen des bürgerlichen Staats auch nicht über einen einzigen nennenswerten Bündnispartner verfügt. Stattdessen hat sich Agenturschluss mit seinem Anspruch auf lokale Selbstorganisation und der (wenn auch noch etwas zu formalen) Ablehnung bürgerlicher Repräsentationspolitik unmissverständlich sowohl mit der Bundesregierung, den zuständigen Gewerkschaften, aber auch mit vielen anderen linken Gruppen angelegt. Als Fußnote kann hier eine an Skurrilität wohl kaum noch zu überbietende Presseerklärung des PDS Ortsverbandes Düsseldorf vom 21.12.2004 zitiert werden. Ausgerechnet die Untergliederung einer Partei, deren Landesverbände in Berlin und Meck-Vopo an der Regierung alles dafür getan haben, Hartz IV zum effektiven Verwaltungsalltag werden zu lassen, unterstützte Agenturschluss, nicht ohne dabei die von der neuen sozialdemokratischen Partei Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG) ausgesprochene Distanzierung davon zu geißeln. Was für verkehrte Welten: Eine Regierungspartei unterstützt Agenturschluss während die Partei, die da doch noch erst hin will, sich jetzt schon von den Agenturschlussmitarbeiterinnen distanziert. Das weiß man zumindest über die WASG nicht viel, aber doch das, das sie von kluger Politik einfach keine Ahnung zu haben scheint.

Doch genug mit der Selbstzufriedenheit, zumal sich die Entstehung dieser Initiative selbst der Ohnmacht, Dummheit, und Hilflosigkeit der sozialdemokratischen Gewerkschaften verdankt, die das Hartz IV-Regime selbst mit auf die Rolle geschoben haben. Unvergessen soll hier die markante Formulierung des hochrangigen verdi-Funktionärs Obermann bleiben, der sich einen Tag vor Agenturschluss in der Unternehmergazette Handelsblatt nicht nur mit einer obligatorischen Distanzierung zu Wort zu melden hatte. Doch anstatt es dabei zu belassen, wusste er sich gleich darüber hinaus damit zu rühmen, das es doch gerade die Mitglieder seiner Organisation gewesen seien, die bei der verwaltungstechnischen Umsetzung von Hartz IV „enormes geleistet“ hätten. Wohl wahr, verdi-Kollege Obermann!

Nachfolgend sollen einige – selbstverständlich völlig unvollständige – Schlaglichter im Zusammenhang mit der Agenturschluss-Kampagne aufgeworfen werden. Sie beziehen sich dabei auf die Probleme einer Repräsentationspolitik über die bürgerlichen Medien, deren Chancen, Risken und unvermeidlichen Wirkungsgrenzen; sie skizzieren ein wenig die völlig ungelöste Problematik zwischen minoritären Protest- und Widerspruchsaktivismus auf dem sozialen Terrain versus der bislang damit weitgehend fehlenden Massenaktivierung und streifen danach die aktuelle Zukunft einer bundesweit agierenden Assoziation unter dem Namen Agenturschluss. Ein paar zu diesen Komplexen eingestreute „Erfahrungen“ beziehen sich dabei auf die Mitarbeit in dem Berliner Bündnis „Ende der Bescheidenheit“, (EdB) an dem sich in den letzten zwei Monaten vor Agenturschluss, wöchentlich teilweise bis zu 30 Leute beteiligt haben.

Kommunikationsguerilla versus Selbstentmächtigung durch die Medienindustrie

Nun: Der auf der Dortmunder Konferenz erfundene Begriff „Agenturschluss“ hat sich in den letzten sechs Monaten sowohl in den Welten des Internets wie auch in allen bürgerlichen Presseorganen wie auf allen TV-Sendern als eine Art Gegenbegriff zu Hartz IV negativ institutionalisieren können. Wer sich den Spaß gemacht hat, diesen Begriff von Beginn an zu googeln, der startete mit 137 Einträgen und darf heute weit über 40.000 genießen. Wer will, kann das „erfolgreich“ nennen. Symbolisch konterkarierte dieser von nicht sehr mitgliederstarken Gruppierungen erfundene Begriff den für den 3. Januar vorgesehenen natürlich als „erfolgreich“ beabsichtigen Start des Hartz IV-Armutsregimes. Exemplarisch hierfür ein nachfolgend dokumentierter Bericht aus dem Lokalteil Helmstedt in der Braunschweiger Zeitung vom 31.12.04, mit dem auch die Bewohnerlinnen dieser Kommune über unsere tolle Aktionsidee informiert wurden:

In Helmstedt kein Protest gegen Hartz IV geplant / Bündnis will bundesweit Arbeitsagenturen belagern

HELMSTEDT. Helmstedt gehört nicht zu den etwa 60 Standorten von Arbeitsagenturen, an denen am Montag, 3. Januar, gegen die Hartz-IV-Reform demonstriert werden soll. Das Bündnis "Agenturschluss" hat die Namen der Städte, in denen es Protestaktionen geben soll, im Internet veröffentlicht. "Die Liste wird mehrmals täglich aktualisiert", erklärte auf Anfrage die Industriesoziologin und Journalistin Mag Wompel von LabourNet Germany in Bochum. "Aus Helmstedt haben wir bis Donnerstagmittag noch keine Meldung gehabt."
Die Arbeits- und Personal-Service-Agenturen sollen am kommenden Montag bundesweit mit Besetzungs- und Belagerungsaktionen lahmgelegt werden, hatten Sprecher von "Agenturschluss" am Mittwoch in Berlin angekündigt. Der Protest richtet sich gegen die Hartz-IV-Arbeitsmarktreform, die zum neuen Jahr in Kraft tritt. "Die Aktionen werden nicht zentral gesteuert, die Initiativen entscheiden vor Ort, in welcher Form und in welchem Ausmaß protestiert wird", erläuterte Mag Wompel abschließend. mis

Die publizistische Präsenz der Initiative Agenturschluss als ein kurzfristiger Spieler im etablierten System wurde noch einmal durch eine am 29. Dezember in Berlin durchgeführte Pressekonferenz verstärkt. Hier haben eine ganze Reihe von Leuten und GenossInen sprichwörtlich ihre Visage für diese Idee hingehalten. Schon mal das ist etwas weniger leicht im politischen Raum zu ignorieren als eine anonyme d.h. hier konkret: gesichtslose Mobilisierung. Summa summarum: Eine Präsenz im etablierten publizistischen Raum ist auch dann nicht gering zu veranschlagen, wenn prinzipiell davon auszugehen ist, das außerinstitutionell operierende politische Kräfte für die bürgerliche Medienindustrie immer nur Trottel für die bunte Seite sein können oder eben als potentielle Straftäter für den Politikteil in Frage kommen, da sie nicht über die geringste formaldemokratische Legitimation verfügen. Auf der anderen Seite unterwirft man sich natürlich durch einen derartigen Zugang den von unserer Seite nicht zu kontrollierenden Konkurrenzmechanismen der Medienindustrie: Und zu denen gehört sowohl das beliebige Hoch- wie runterschreiben einer politischen Initiative unter der Maßgabe von „Fallhöhe“ wie auch die logische Unmöglichkeit in den papiernen Ausdrucksformen der ökonomischen Gewerbefreiheit die Idee höherer Löhne für viele zu transportieren: Einfacher formuliert: In der bürgerlichen Presse von heute kann in einem demokratischen Sinne nur über die Frage diskutiert werden, wie die Löhne gesenkt, und nicht darüber, wie sie gesteigert werden können.

So wirft das sich einbringen in die bürgerliche Medienindustrie seine eigenen Tücken auf, die auf uns selbst zurückwirken. Auf der einen Seite hat man natürlich das Recht einigen den Agenturschluss am nächsten Tag nachfolgenden Presseschlagzeilen alà „Proteststurm bleibt aus“ (SPIEGEL-online vom 3.1.05) oder „eher Protestbrise als ein Proteststurm“ (STERN vom 3.1.05) unter Hinweis darauf zu widersprechen, das der Proteststurm-Begriff weder von unserer Seite auf der Pressekonferenz noch in Mobilisierungspapieren jemals aufgetaucht ist. Einerseits. Anderseits ist es aber auch wahr, das es niemand im Verlauf der Pressekonferenz fertig brachte unmissverständlich darauf hinzuweisen, das die Initiative Agenturschluss erstens eine von kleinen überschaubaren lokalen Gruppen ist, und 2. selbstverständlich mit ihrem Aktivismus „deutlich unter 500.000 TeilnehmerInen mobilisieren wird“, die bekanntlich (oder etwa nicht?) vom DGB am 3. April 04 auf die Beine gestellt worden sind, für die sich allerdings unmittelbar danach leider auch keiner mehr interessiert hat.
In einer Art Quadratur des Kreises wollte und musste die Initiative Agenturschluss mit ihrem Erscheinen in der Medienindustrie als stärker erscheinen als sie tatsächlich ist, und sorgte so selbst mit für die Präsenz eines Maßstabes, der zumindest weder an ihrem Beginn stand, noch sich in den konkreten Vorbereitungen eingelöst hatte: Die unmittelbare Repräsentation von Masse. Dagegen bleibt es auch in Zukunft richtig, das wir als kleine Gruppen mit unseren Argumenten und unserer exemplarischen örtlich lokalisierbaren Präsenz beanspruchen, politisch substantiell zu wirken.

Szenen aus Berlin

Im Vorfeld von Agenturschluss war es kurz vor Weihnachten am 18. Dezember in Berlin einer Gruppe mit der programmatischen Selbstbezeichnung „Die Überflüssigen“ gelungen im Luxusrestaurant „Borchardts“, dem zentralen Fressort sowohl der Schickeria wie auch der politischen Klasse (z.B. Schröder, Merkel und andere), mit dort anwesenden Gästen überraschend „Bedarfsgemeinschaften“ zu gründen. Die ziemlich simple wie einsichtige Logik dieser vorbildlichen Aktion: Wer in der Lage ist im Borchardts 85 Euro für eine Mahlzeit rauszupusten, der ist auch ohne die geringsten Probleme dazu fähig, hungrige ALG II-Empfänger einmal von ihren exquisit gedeckten Tellern mitessen zu lassen. Die Borchardts-Aktion schaffte es auf die Titelseiten der Berliner Boulevard-Blätter und zog in der lokalen Presse eine weite Resonanz nach sich. Die Artikel lesen sich dabei selbst in den Springer-Gazetten fast als Hymnen, in denen nebenbei auch nicht vergessen wurde, auf die Aktion Agenturschluss am 3. Januar im Berliner Wedding hinzuweisen. (Der Verlauf sowie die nachfolgende Berichterstattung zu dieser Aktion kann in dem Bericht „Überflüssige gingen im Nobelrestaurant essen“ bei http://germany.indymedia.org/2004/12/102038.shtml externer Link nachgelesen werden). Spätestens nach der Borchardts-Aktion kann zumindest für die interessierte lokale Öffentlichkeit in Berlin behauptet werden, das die grobe Idee und vor allem Datum und Ort von Agenturschluss für alle die, die sich mindestens ein bisschen dafür interessieren, bekannt waren.

Zu registrieren war auch eine außerordentlich freundliche Resonanz bei Flugiverteilaktionen vor ein paar Arbeitsämtern in Berlin in der Woche vor Weihnachten. Es gab wirklich in keinem Fall – selbstredend mit der Ausnahme von ein paar unvermeidlichen Security-Schergen – dumme Bemerkungen oder gar Aggressionen. In nur kurzer Zeit wurden wir an einem Ort in nur 90 Minuten rund 600 Flugblätter los. In ein paar Fällen besorgten sich Arbeitslose von uns noch ein paar weitere Flugis und zeigten sich an der Idee Agenturschluss interessiert. Negativ kann hier allenfalls die Unfähigkeit des Bündnisses Ende der Bescheidenheit vermerkt werden, das rund 30 Leute trotz eines mehrmonatigen Planungsprozesses nicht dazu in der Lage waren, eine flächendeckende „Informationsbetreuung“ aller Berliner Arbeitsämter zu übernehmen. Im EdB-Bündnis war die aktive Beteiligung sowie die Leidenschaft sich um filigrane Formulierungen im alles entscheidenden Aktionsaufruf zu streiten, erheblich intensiver ausgeprägt, als sich morgens vor eine Arbeitsagentur zu stellen, wo man in kurzer Zeit leicht mehrere hundert Leute erreichen konnte.
Doch auch diese ironischen Bemerkungen ändern nichts an der Tatsache, das sich am Morgen des 3. Januar auf dem Leopoldplatz nur rund 600 Leute zu der kurz gehaltenen Auftaktkundgebung einfanden. Legt man hier als Zahl die ungefähr 270.000 ALG-II-Bezieherinnen allein im Berliner Raum zugrunde, so muss mindestens festgehalten werden, das die von den Agenturschlussinitiatoren auf der Pressekonferenz behauptete „neue Qualität des Sozialprotestes“ mit einem schrecklichen Mobilisierungsdefizit zumindest bei denen einher geht, die ziemlich sicher von Hartz IV in einem ganz direkten und auch negativen Sinne betroffen sind. Niemand von uns weiß zu sagen, wo denn die anderen rund 269.400 Leute an diesem Tag in Berlin waren. Vor der Weddinger Müllerstraße Haus Nr. 16 waren sie jedenfalls nicht. Und mit Verlaub: Diese deprimierende Tatsache ist mitnichten auf immer zu beklagende logistische Mängel im EdB-Bündnis zurückzuführen. Ganz offenbar drückte sich mindestens für Millionen Erwerbslose in dem Agenturschluss-Projekt mit seiner Idee der Selbstorganisierung und des Aktivismus (noch) kein gesellschaftlicher Traum aus. Mit anderen Worten: Der als organisatorisches Blindflugprojekt gestartete Agenturschluss wurde von Millionen anderer nicht als ihre eigene Sache erkannt. Etwas ähnliches gilt übrigens auch für diejenigen Demonstrantinnen, die noch im November 03 und April 04 zu hunderttausenden gegen Hartz IV auf die Straße gegangen sind. Sie wurden auch schon nicht mehr mit der bundesweiten Demo Anfang November zur Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg erreicht.

Und doch war die Demonstration der vielleicht 600 Leute am 3. Januar vom Weddinger Leopoldplatz die Müllerstraße herunter mit einem überraschenden und ordnungswidrigen Fahrbahnwechsel schwungvoll und dynamisch. Mit dieser Bewegung gelang es der Demo samt Lautsprecherwagen erfolgreich – und von den Ordnungsbehörden unerwischt - in den Raum diagonal zwischen SPD-Landeszentrale und direkt vor die Arbeitsagentur zu gelangen, die mit spanischen Reitern, behelmten Kampfbullen zuzüglich einem Batzen bissiger Maulkorbhunde abgeriegelt war. Ganz im Unterschied zu vielen anderen Sozialprotestaktionen versanken an diesem Ort die Teilnehmerinnen gerade nicht in herumstehender Lethargie, sondern forderten mit ihren Mitteln unmissverständlich in einem kollektiven Sinne Einlass in das versperrte Gebäude. In gewisser Weise kann diese Aktion als eine Art zweite Bielefeld-Manifestation interpretiert werden, wo 350 Demonstranten im Frühjahr 1999 den Anspruch erhoben, den ziemlich demokratischen Pro- und Contra Kriegsparteitag der Grünen Regierungspartei in eine Anti-Kriegsvollversammlung umzufunktionieren. Sowohl damals wie heute entwickelte sich aus dieser von den herrschenden Mächten hergestellten Konfrontationssituation ein politischer Tumult. Ein paar weitere Details zu dem ungewöhnlichen Geschehen an diesem Ort können nachfolgend in einem informierten Bericht in der Frankfurter Rundschau vom 4.1.2005, Seite 3 nachgelesen werden.

Ein Arbeitsamt im Belagerungszustand

Die bundesweite "Aktion Agenturschluss" mündet nur im Berliner Wedding in tumultartige Szenen
Die ganz Eiligen waren bereits an Neujahr gekommen. Mitten in der Nacht. Hatten Farbbeutel dabei statt Raketen. Um es vor der Arbeitsagentur Berlin-Wedding tüchtig krachen zu lassen. Das Ergebnis ist seither weithin zu besichtigen: rote Flecken auf weißem Grund. Fast so, als gelte es, die gegenüberliegende SPD-Landeszentrale zu verhöhnen, wo weiße Buchstaben auf roten Fahnen flattern. Hartz IV ist, wenn man trotzdem lacht.
Die Nachhut kam am Montagmorgen. 400, vielleicht auch 500 überwiegend junge Menschen, die vom Leopoldplatz zur pop-artig gesprenkelten Arbeitsagentur zogen, um "gegen das größte Verarmungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik" zu demonstrieren. So hatten es die Veranstalter von der bundesweiten "Aktion Agenturschluss" auf den Punkt gebracht, die für diesen Tag in rund 80 Städten Demonstrationen angemeldet hatten.

"Arbeit ist Scheiße"

Die vergleichsweise überschaubare Strategie der Wütenden: die Agentur stürmen, die Mitarbeiter in Diskussionen verwickeln, den Betrieb lahm legen. So weit die Theorie. In der Praxis sahen sich die Hartz-Gegner einem Großaufgebot von Polizisten in voller Einsatzmontur gegenüber. Begründung eines Agentur-Sprechers: "Wir sind nicht dafür da, politische Diskussionen zu führen."
Das wiederum sahen insbesondere die Autonomen unter den Demonstranten anders, die teilweise versuchten, Absperrungen zu überrennen und dabei wahlweise den Mittelfinger oder Transparente in die Höhe reckten. Darauf schon mal Slogans wie "Bin zu schwach zum Arbeiten" oder noch simpler "Arbeit ist Scheiße".
Um eine Eskalation zu verhindern, reagierten die Veranstalter prompt und erklärten die Demonstration offiziell für beendet. Es habe eine Zusage der Polizei gegeben, dass nach Auflösung des Protestzugs jeder Bürger in die Arbeitsagentur gelassen werde, berichtete später Peter Grottian vom Berliner Sozialforum. An diese Zusage hätten sich die Beamten nicht gehalten. "Wir fühlen uns getäuscht", wetterte Grottian.
Tatsächlich ließen die Polizisten zunächst niemanden in das Gebäude, sondern forderten die Teilnehmer der nunmehr illegalen "Ansammlung" auf, die Straße zu räumen. Ansonsten werde "unmittelbarer Zwang" angewendet. Für viele der mit Trommeln und Trillerpfeifen gewappneten Jugendlichen eine Aufforderung zum Tanz. Und so kam es an diesem ersten Werktag seit Beginn der Hartzschen Zeitrechnung zu Szenen, wie sie Monate vorher schon von Schwarzmalern prognostiziert worden waren: ein Arbeitsamt im Belagerungszustand, Staatsdiener, die von der Staatsmacht vor aufgebrachten Bürgern geschützt werden müssen, Polizisten, die mit scharfen Hunden gegen Demonstranten vorgehen - und zwischen den Fronten ein paar Dutzend Arbeitslose, die diesmal auch ohne Wartenummer keinen Schritt voran kamen.

Brunch für Bürger

Skurrilerweise waren die einzigen, die während dieser Demonstration die Türen zur Arbeitsagentur durchschreiten durften, die etwa 15 Demonstranten, die im Würgegriff der Polizei abgeführt wurden. "Schöne neue Hartz-Welt", kommentierte ein Arbeitsloser, "das Arbeitsamt als Gefangenen-Sammelstelle." Für den Berliner Professor Grottian ein völlig unverständliches Schauspiel. In keiner anderen deutschen Stadt sei es an diesem Tag zu ähnlich frustrierenden Situationen gekommen. In Leipzig und Königs-Wusterhausen seien die Demonstranten beispielsweise anstandslos in die jeweilige Arbeitsagentur vorgelassen worden. In Köln hätten Mitarbeiter der Agentur sogar eine Art Brunch für die Bürger organisiert und ihnen Rede und Antwort gestanden. In anderen Städten ein ähnliches Bild. Anders als in Berlin hatten es die Agenturen allerdings auch überall mit einem überschaubaren Grüppchen von Aufgebrachten zu tun. 80 waren es in Frankfurt, 50 in München, 20 in Stuttgart. Und selbst vor der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit, wo machtvoll für "Arbeit statt Kahlschlag" gestritten werden sollte, fanden sich gerade mal 100 Unentwegte ein. Der ganz große Protest, Massenkundgebungen wie im Sommer, blieben überall aus.
Gleichwohl bewerteten die "Agenturschluss"-Macher die dezentralen Demonstrationen als "bescheidenen Achtungserfolg". Auch wenn es nirgendwo gelang, eine Arbeitsagentur wirklich lahm zu legen. Nicht mal in Berlin. Nachdem dort die Polizei die Straße geräumt hatte, bat ein Agentursprecher via Flüstertüte alle Bürger, "die ein berechtigtes Anliegen haben", nach drinnen. Rund zwei Dutzend gingen daraufhin friedlich durch die Glastüren. Da war es fünf vor zwölf.

 

Drei zunächst unverbunden erscheinende Punkte sollen an dieser Stelle noch nachgetragen werden.

Auf der dem Agenturschluss am Abend vorher voran gehenden Vollversammlung meinte ein Genosse noch schnippisch: „Hoffentlich werden wir morgen mehr Aktivsten als Presseleute!“ Wir hatten mit unserer Teilnehmerinnenzahl Glück, denn man und Frau Agenturschluss lag dann doch etwas über dieser kritischen Marge, allerdings muss man davon dann noch einen Batzen Genossen abziehen, die ebenfalls an diesem Ort mit der Kamera unterwegs waren. Offensichtlich nimmt die Zahl der Demonstrationstrottel, die einfach so mit ihrem Körper ohne Kamera vielleicht mit einem Transparent oder einem Plakat demonstrieren selbst zu einem so wichtigen wie lange vorbereiteten Anlass immer noch weiter ab.

Es war eigentümlich zu beobachten, das der beständig von einem Schwarm von Medienleuten umlagerte Demoanmelder Grottian Leuten Interviews gab, die nicht nur allein der Kleidung nach, bitter arm wirkten, sondern sogar noch im Gesicht völlig fertig aussahen. Ob viele mehrfach freie Journalisten aus diesen Aufnahmen nach der Aktion noch irgendwas gemacht haben, weiß man nicht. Klar ist aber auch, das wenn es unter Umständen noch einmal eine ganz andere Dramatik bei dieser Aktion gegeben hätte, (z.B. einen Toten) sie sicher auch noch mit dem letzten Fitzel von Bildern und Interviews von diesem Ereignis hätten ein paar Euro verdienen können.
Irgendwann im Verlaufe des Tumultes vor der von der kampfbereiten Polizei abgesperrten Arbeitsagentur Müllerstraße tauchte wohl der Gebäudechef mit einem Polizeimegaphon auf. In einem nachfolgenden Presseartikel wurde er als Herr Reimann bezeichnet. Dieser schloss mit einer Ansage zunächst diese Arbeitsagentur und verschwand wieder. Etwa eine Stunde später kehrte Herr Reimann mit seineem Polizeimegaphon zurück und öffnete wieder das Gebäude, um sich danach Fragen von Journalisten zu stellen. In der Zwischenzeit hatten Bullen die Gelegenheit genutzt, Leute aus dem Pulk vor dem Arbeitsamt abzugreifen, über die spanischen Reiter an der AA zu zerren und im Polizeigriff direkt über die Treppe und den Haupteingangsbereich in das Foyer dieses Gebäudes zu schleppen. An dem sich ölig gebenden Reimann wurde in diesem Zusammenhang die Frage gerichtet: „Wo befindet sich in ihrem Gebäude die Gefangenensammelstelle der Polizei?“ Seine Antwort: „Da müssen sie sich an die Polizei wenden!“ Unmittelbare Replik: „Das heisst sie haben nicht die geringste Ahnung darüber was in ihrem Haus stattfindet.“ Manchmal merkt man spätestens auf bestimmte Nachfrage, das diese widerlichen Repräsentationstypen der Elendsverwaltung kaum mehr als ein pures Nichts an den Fäden der Einsatzleitung der Polizei darstellen.

Es waren in dem Gebäude mehr Aktionen überlegt und geplant, als letztlich auch aufgrund einer dichten Bullen- und Zivifrequenz durchgeführt worden sind. Hier hat es ganz sicher einiges an individuellem Versagen gegeben, das allerdings noch mal darauf verweist, das die konkrete Architektur der Arbeitsagenturgebäude darauf angelegt ist, uns alle dort erstens zu individuieren und zweitens damit zu „kleinen Würstchen“ zu machen. Am 3. Januar ist es uns letztlich kaum gelungen diese Grenze in der Weddinger Müllerstasse Haus Nr. 16 zu überspringen; lebendige Stimmung brachte erst eine nachfolgende unangemeldete und unkontrollierte Agenturschluss-Demonstration von etwa 150 Leuten in die sonst toten Gänge der Arbeitsagentur in der Charlottenstraße. Ein wohl in diesem Zusammenhang ausgelöster Feueralarm erinnerte alle in diesem Gebäude Anwesenden daran, das es immer richtig ist, sich bei Feuer und höchster Not schleunigst aus der Gefahrenzone zu bewegen.

Über die Vergangenheit und die Zukunft der Agenturschluss-Struktur

Wer genau hingeguckt hat, dem wird es nicht verborgen geblieben sein, das sich insbesondere für den Verlauf des zweiten bundesweiten Vorbereitungstreffen am 2.10. in Wuppertal eine ganze Reihe von sehr schwerwiegenden intellektuellen Mängeln offenbart haben. Aus meiner Sicht stand dieses Treffen deshalb dicht vor dem Abbruch, da ein nicht unwesentlicher Teil der Teilnehmerinnen nach dem sichtbaren Abflauen der Montagsdemos in der Agenturschlussinitiative keine Repräsentationsoptionen mehr sah. Und da wo einem nichts mehr einzufallen scheint, bzw. die Idee konkreter aktivistischer Selbstorganisation mit öffentlich bekundeter konfrontativer Stoßrichtung fast unvorstellbar ist, da und dort kann man dann immer noch über die MLPD, auslaufende Montagsdemos oder über andere Ein-Euro-Jobber schwadronieren. Das stört im Prinzip nun wirklich nichts und niemanden, allein es ist Zeitverschwendung dafür quer über das halbe Bundesgebiet anzureisen. Wo weder politische Hoffung, intellektuelle wie praktische Neugier, noch soziale Leidenschaft wie Phantasie zusammenkommen, da gibt es auch nichts mehr zu organisieren oder gar bundesweit etwas zusammen zu führen. Ich bin mir derzeit jedenfalls nicht ganz sicher, ob sich das nach dem dann doch wirklich dezentral halbwegs engagiert auf die Beine gestellten großen Agenturschluss-Tag vollständig verändert hat. Darüber hinaus gilt für selbstorganisierte und aktivistisch lokal geerdete Strukturen für bundesweite oder überregionale Organisierungsprozesse sowieso zehnmal mehr als für zentral gesteuerte Organisationen, das immer der Inhalt weit vor der hohlen Form kommen muss.

Derzeit sind zwei konkretere Vorschläge bekannt, mit denen es unter Umständen Sinn machen könnte, die in der Tat etwas fragile bundesweite Struktur Agenturschluss aufrecht zu erhalten. Der eine besteht in einer überregionalen Koordination gegen das Ein Euro Zwangsarbeitregime und der andere Vorschlag besteht in einer Kampagne gegen Billiglöhne in den Lidl-Filialen, die in absehbarer Zeit – sagen wir das vorletzte April-Wochenende in einen gemeinsamen überregionalen Aktionstag an einer Vielzahl von Lidl-Filialstandorten mündet. Ich votiere deshalb für letzteres, weil hier die Konfrontations- Öffentlichkeits- und damit auch Assoziationslinien in einem überregionalen Sinne leichter zu entfalten sind, als auf dem außerordentlich vielschichtigen Ein-Euro-Job-Terrain. Nach meiner vorläufigen Spekulation werden hier zumindest in diesem Jahr fast alle unmittelbar Beteiligten irgendwie freiwillig mitspielen, - im gemeinsamen Agreement wird ein nicht geringer Teil des objektiv als Lohndumpingprojektes entworfenen Ein-Euro-Job-Instrumentes in der Wohlfahrtsbürokratie verdampfen - so dass sich überregional nur außerordentlich schwer gemeinsam beschreibbare Konfrontationspunkte (im sprichwörtlichen Sinne) benennen lassen werden.

Anyway: Ob es denn Sinn macht eine zeit- und ressourcenaufwendige bundesweite Organisierung a là Agenturschluss weiter aufrecht zu erhalten, wird sich aus den Diskussionen auf dem bundesweiten Arbeitstreffen in Wuppertal am 15. Januar ergeben. Von besonderer Bedeutung werden dabei die vielen hoffentlich überzeugend generierten Argumente sein, was denn in den nächsten Monaten sinnvoller Weise getan werden kann, um mit unseren – zugegeben bescheidenen – Mitteln substantiellen politischen Einfluss im Kampf für ein glückliches Leben zu nehmen.

Fred


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