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Updated: 18.12.2012 15:51
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Agenturschluss - wir sind dabei!

Interview mit dem Kieler Bündnis Agenturschluss

Will man der öffentlichen Meinung Glauben schenken, so geht es mit dem Protest und Widerstand gegen die Agenda 2010 und Hartz IV langsam zu Ende. Sind im April diesen Jahres noch 500 000 bundesweit auf die Straße gegangen, waren es am 2. Oktober in Berlin nur noch knapp 50 000 Menschen, die an der bundesweiten Anti-Hartz Demonstration teilgenommen haben. Und auch in Kiel und Lübeck klagen die OrganisatorInnen der wöchentlichen Montagsdemonstrationen über sinkende TeilnehmerInnenzahlen, in anderen schleswig-holsteinischen Städten sind sie bereits eingestellt worden. Die ganzen Proteste, so will man uns glauben machen, seien lediglich die Folge eines Vermittlungsproblems gewesen. Inzwischen aber habe die Sachzwanglogik überzeugen können und die Empörung über das, was an Zumutungen im neuen Jahr auf uns zukommen wird, flaue nach und nach ab. Aber ist das tatsächlich so? Lässt sich aus dem Sinken der TeilnehmerInnenzahlen der Montagsdemonstrationen wirklich mehr ablesen, als dass diese Form des doch recht stillen Protestes mittlerweile ziemlich leergelaufen ist? Noch sind die Möglichkeiten nicht ausgeschöpft der Wut und Entrüstung einen anderen Ausdruck zu verleihen. Auf einem Kongress im Sommer diesen Jahres ist die Initiative „Agenturschluss“ entstanden. Agenturschluss geht davon aus, dass der Widerspruch gegen Hartz IV mit der Verabschiedung der Gesetze längst nicht vorbei ist und sich auch künftig nicht auf Demonstrationszüge beschränken sollte. Gemeinsam mit zahlreichen anderen Initiativen ruft Agenturschluss nun zu anderen Formen des Widerspruchs auf.
Am 3.1.2005 - dem ersten Werktag im neuen Jahr - soll der Betrieb der sogenannten Arbeitsagenturen (ehemals: Arbeitsämter) empfindlich gestört werden. Nicht nur in Kiel, sondern auch in Hamburg, Berlin, Frankfurt (Main), Nürnberg, Oberhausen, Münster, Göttingen, Köln, Wuppertal, Bochum, Mülheim, Gelsenkirchen und Duisburg bereiten sich sozialpolitische Gruppen konkret auf diesen Tag vor und planen unterschiedliche Aktionen. In anderen, auch schleswig-holsteinischen Städten wird über eine Beteiligung nachgedacht. Der Gegenwind will mehr über Agenturschluss wissen und befragte Anfang November zwei Menschen aus dem Kieler Bündnis Agenturschluss nach den Hintergründen, Zielsetzungen und ihren konkreten Planungen.

Gegenwind: Wer ist das Kieler Bündnis Agenturschluss eigentlich?

Paul: Das Bündnis setzt sich aus den Gruppen Avanti - Projekt undogmatische Linke / Kiel, kiel-umsonst und engagierten Einzelpersonen zusammen, von denen auch welche in Gewerkschaften organisiert sind. Als Bündnis sind wir auch mit Delegierten an dem Kieler Bündnis gegen Sozialabbau und Lohnraub beteiligt, welches vor allem die Montagsproteste vorbereitet.

Paula: Ansonsten haben einige von uns mehr oder weniger schlechtbezahlte und ungesicherte Jobs, andere werden vom sogenannten Arbeitslosengeld II - besser: Armutsgeld - leben müssen und auch RentnerInnen machen bei uns mit. Damit will ich sagen, dass die meisten von uns auch unmittelbar von den Verarmungsprozessen betroffen sind.

Gegenwind: Der Name der von Euch geplanten Aktion lautet „Agenturschluss“ - was bedeutet das eigentlich?

Paula: Also zunächst heißen die ehemaligen Arbeitsämter jetzt ganz modern Arbeitsagenturen. Im Zuge des sogenannten Umbaus des Sozialstaates - sprich der flächendeckenden Kürzungen im sozialen Bereich - und der Hartz -Gesetze wurde auch eine Modernisierung der Arbeitsämter beschlossen. Was jetzt Agentur heißt, soll immer weniger Erwerbslose beraten oder Fortbildungen anbieten, sondern soll Erwerbslose kontrollieren, in Arbeitsmaßnahmen zwingen und am besten aus dem Leistungsbezug drängen.

Paul: Agenturschluss heißt die Kampagne, weil damit deutlich gemacht werden soll, dass es einen Zeitpunkt gibt, an dem definitiv Schluss ist mit Sozialkürzungen und Lohndumping, und der Klassenkampf von oben mit zum Teil neuen Formen der Organisierung von unten beantwortet werden muss. Ob der 3.1.2005 hier schon im Sinne von Gegenmacht wirken kann, ist selbstverständlich nicht gesagt, aber wir arbeiten daran. Das Ziel ist, ganz und gar nicht nur symbolisch, den regulären Betrieb der Arbeitsamter in möglichst vielen Städten der BRD lahmzulegen. Vielleicht kann das, was passieren wird, als 1. Erwerbslosenstreik bezeichnet werden. Und Streiks sollten ein Instrument des Kampfes sein und nicht nur der Symbolik.

Paula: Im klassischen Verständnis von Streik können Erwerbslose natürlich nicht streiken. Wenn sie sich verweigern, stehen sie rechtlos und auch geldlos da. Und da nur zu bitten und zu appellieren nichts nützt, müssen wir gemeinsam Druck entfalten und in die Mühle eingreifen. Am 3. Januar - also dem ersten Werktag nach Inkrafttreten der Hartz IV Gesetze - soll der Ablauf der Erwerbslosenbürokratie in Form des kollekiven Ungehorsams unterbrochen werden. In dem bundesweiten Aufruf ist von Besetzungen, Blockaden oder Versammlungen die Rede. Wir bereiten politisch und praktisch eine in dem Gebäude eigentlich nicht vorgesehene politische Versammlung vor, auch wenn etwaige Reaktionen aus dem Amt und aus den Reihen der Polizei dieses Vorhaben möglicherweise erschweren werden. Auf alle Fälle soll der erste Tag von Hartz IV dem Widerspruch gehören.

Gegenwind: Ihr müsst nachher noch mal genauer beschreiben, was passieren soll. Zunächst interessiert mich aber, weshalb ihr das erst für den 3.1.2005 plant und nicht schon früher, also wenn die Möglichkeit der Einflussnahme noch gegeben ist?

Paul: Wir hatten schon früh den Eindruck, dass wir die richtige Parole „Hartz IV muss weg - und das komplett!“ nicht werden durchsetzen können. Denn schließlich ist das Gesetzespaket mit 98 prozentiger Zustimmung durch den Bundestag gegangen. Die Einheitspartei SPDGRÜNECDUFDPPDS hat früh deutlich gemacht, dass ihnen auch Massendemonstrationen so ziemlich am Arsch vorbeigehen und sie diesen größten sozialpolitischen Angriff in der Geschichte der BRD durchziehen werden.

Paula: Das hieß für unsere Diskussionen auch darüber nachzudenken, wie sich auch unter Bedingungen, in denen die Agenda 2010 und Hartz IV Alltag sein werden, Widerstandsformen entwickeln lassen. Während Hartz IV darauf ausgelegt ist, dass alle ihre prekäre Alltagssicherung unter den Bedingungen der Armutsdrohung und der realen Verarmung alleine versuchen sollen, müssen neue Formen des Protestes und des Widerstands organisiert werden, zu denen die realexistierenden Gewerkschaften heute noch nicht in der Lage sind. Die Agenturschlussidee fanden wir vor diesem Hintergrund gut und wir haben begonnen an ihrer Umsetzung auch in Kiel zu arbeiten.

Paul: Wir verstehen unsere Agenturschlussbemühungen nicht als einmaliges Protestspektakel, sondern als eine Zwischenetappe für die in den nächsten Jahren anstehenden Auseinandersetzungen in den Feldern Verarmung und Ausgrenzung. Wir erhoffen uns, dass von Agenturschluss ein Moment der Ermutigung ausgeht und ein deutliches Signal einer Konfliktbereitschaft, die wir für die nächsten Jahre dringend brauchen. Zunächst wollen wir für einen Tag mit möglichst vielen „die Nötigung und Beschneidung unseres Lebens anhalten und einen Raum schaffen für den Ausdruck unserer Ängste, unserer Wut und unserer eigenen Vorstellung von einem würdigen Leben“, wie in dem bundesweiten Aufruf formuliert ist. Nach dem 3.1. werden alle sozialpolitisch engagierten Gruppen und Personen darüber nachdenken müssen, mit welchen gemeinsamen Formen wir uns beispielsweise gegen Billiglohn und Zwangsarbeit wehren können. Die Aufgabe der Entwicklung einer solidarischen und auch widerständigen Alltagskultur der von der herrschenden Ordnung zu Überflüssigen erklärten wird eine langfristige und in der öffentlichen Wahrnehmung auch nicht immer spektakuläre Angelegenheit sein.

Gegenwind: Machen die Gewerkschaften bei euren Aktionen mit?

Paula: Die Gewerkschaften werden sich natürlich nicht am Agenturschluss beteiligen, genauso wie sie sich auch nicht konsequent an anderen Protesten beteiligt oder sie durch andere gewerkschaftliche Kampfformen unterstützt haben. Die heutigen Gewerkschaften bzw. die obere Gewerkschaftsbürokratie setzt auf Befriedung und schlägt Nachbesserung von Hartz IV statt frontale Ablehnung vor. So gab ver.di Chef Bsirske bereits am 8. September eine Empfehlung an alle Gliederungen raus, sich nicht an der bundesweiten Demonstration am 6. November zur Bundesagentur in Nürnberg und Agenturschluss zu beteiligen. Zudem wird in der Oktoberausgabe der verd.di Zeitschrift publik die antiaufklärerische Position vertreten, dass Proteste in oder vor Arbeitsagenturen nicht sinnvoll seien, da sie sich gegen die dort Beschäftigten richten würden.

Gegenwind: Wie sind eure Erfahrungen mit den Aktiven aus der Basis der Gewerkschaften? Mit denen sitzt ihr doch bei dem Kieler Bündnis gegen Sozialabbau und Lohnraub an einem Tisch.

Paul: Dort haben wir aus unserer Sicht sehr gute Erfahrungen gemacht. Im gesamten Bündnis gegen Sozialabbau und Lohnraub gab es große Zustimmung zu unserem Aktionsvorschlag, und kritische GewerkschafterInnen aus Kiel haben auch Texte veröffentlicht, die sich mit der oben genannten Position aus der Chefetage auseinandersetzen und in denen Aktionen in und vor Arbeitsagenturen für richtig gehalten werden. Diese Texte sind auch im Internet bei www.labournet.de dokumentiert.

Gegenwind: Hier interessiert mich auch eure Position. Entsteht der Eindruck nicht sehr leicht, dass sich Protest in den Agenturen gegen die dort Beschäftigten richtet?

Paula: Ich halte eine gesellschaftliche Debatte über sinnvolle Formen unabhängiger und öffentlich finanzierter Qualifizierung und Arbeitsvermittlung - für diejenigen, die sie wünschen - heute und auch in einer ganz anderen und besseren Gesellschaft für wünschenswert. Ebenso ist eine Diskussion über den herrschenden Arbeitswahn und die Zukunft und den (Un-)Sinn von Lohnarbeit nötig. Für solche Fragen bietet sich die kollektive Aneignung des Arbeitsamtes als Ort geradezu an. Schon seit Jahren sind die Arbeitsämter mit den Drohungen, Zahlungssperren und anderen Disziplinierungsmaßnahmen für viele ein Ort des kalten Grauens. Die Agenturen haben schlicht nichts zu verteilen, und ihre Aufgabe verfestigt sich mit Hartz IV auf Verfolgungsbetreuung und die Rolle einer Arbeitspolizei zur Disziplinierung der zu Überflüssigen erklärten. Sie gehören also schlicht abgeschafft.

Paul: Von den Beschäftigten der „Arbeitsagenturen“ erwarten wir, dass sie die ihnen übertragene Aufgabe des Überwachens und Strafens kritisch hinterfragen. Sie haben die Hartz-Gesetze nicht zu verantworten. Sie sind es aber, die Leistungskürzungen und verschärfte Kontrollen umsetzen sollen. Wenn der disziplinarische Ton von oben schärfer wird und Vorschriften und Einsparvorgaben, ihre Spielräume für eine respektvolle Behandlung ihrer „Kundschaft“ immer weiter beschneiden, müssen sie sich fragen lassen, wie sie ihre Tätigkeit verantworten können.

Paula: Die Angestellten der Agenturen sollen nicht von der Zumutung unseres Protestes und unseres Widerspruchs befreit werden. Sie sind es, die die Leitlinien umzusetzen haben und die Exekutoren des Armutsprozesses sind. Wenn es richtig ist, dass auch sie - wie ver.di behauptet - quasi Opfer von Hartz IV sind weil sie Überstunden und Schichtarbeit machen müssen und Angst vor Übergriffen zukünftiger ALG II EmpfängerInnen besteht, dann fordern wir sie im Vorfeld und am 3.1. ganz direkt auf, sich an der Aktion Agenturschluss zu beteiligen, d.h. die Arbeit niederzulegen und sich an der Protestversammlung in der Arbeitsagentur zu beteiligen.

Gegenwind: Ich komme jetzt darauf zurück: Was soll am 3.1. konkret in der Kieler Arbeitsagentur passieren?

Paul: Die letzten Wochen haben wir vor allem die Aktion in den verschiedenen interessierten Kreisen vorgestellt und für sie geworben. Wir gehen davon aus, dass jetzt, wo Agenturschluss auch in Kiel in Fahrt kommt, verschiedene Gruppen und Initiativen sich ihren Platz in der Ausgestaltung suchen werden. Dafür pflegen wir mit allen Interessierten eine möglichst enge Diskussion und Kooperation.

Paula: Neben verschiedenen Vorfeldaktionen und der Vorbereitung der öffentlichen Mobilisierung beginnt jetzt die Arbeit an einem konkreten Aktionskonzept. Wir wissen, dass eine andere Initiative eine Kundgebung vor der Arbeitsagentur ab morgens plant. Dieses Vorhaben begrüßen wir.

Paul: Wir rufen dazu auf, in die Agentur hineinzugehen. Formulieren wir es mal so: Erwerblose sollen Zeugen zu einem gemeinsamen Amtsbesuch mitnehmen, um sich in der Agentur über die neuen gesetzlichen Grundlagen zu informieren. In diesem Sinne verhalten wir uns protokollgerecht, gewissermaßen sogar richtig proaktiv, wie es heute heißt. In der Agentur werden wir uns an einem zentralen Ort in einer großen Versammlung über die Folgen der Agenda 2010 und von Hartz IV, über Perspektiven der Veränderung und auch über ein besseres Leben unterhalten. Hierzu gehört auch eine Feier mit Kaffee, Kuchen und Musik. Das Elend des Normalbetriebes steht dazu natürlich in einem unerträglichen Widerspruch. Er gehört also unterbrochen und alle sollen sich an diesem wichtigen Ereignis beteiligen.

Paula: Der 3.1. wird ein großartiger Tag und vielleicht ein kleiner Schritt in Richtung von etwas ganz anderem. Das meinen wir mit den auf eine bessere Zukunft zielenden Parolen: „Arbeitsagenturen auflösen und her mit dem schönen Leben!“ und „Wir haben mehr vom Leben als von der Arbeit!“

Gegenwind: Wir danken Euch für das Gespräch und werden unsere LeserInnen in der nächsten Ausgabe, die vor Weihnachten erscheint, über den weiteren Verlauf der Planungen informieren.

Das Interview erscheint in der Dezemberausgabe der Zeitschrift Gegenwind


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