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Updated: 18.12.2012 15:51
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„Wir haben mehr vom Leben als von der Arbeit“

Agenturschluss bei Hartz IV-Start

Bereits seit einigen Monaten geht ein Gespenst um in der Bundesrepublik und bringt die Verantwortlichen in den Arbeitsagenturen, Parteizentralen, Gewerkschaftsvorständen und Sicherheitsbehörden ins Schwitzen. Unter der Losung `Agenturschluss’ wollen am 03. Januar 2005 - dem ersten Tag nach Einführung der Hartz IV-Gesetze - sozialpolitische Aktivisten aus der radikalen Linken gemeinsam mit Erwerblosen und prekär Beschäftigten an bundesweit über 40 Orten die „Arbeitsagenturen lahm legen“. Agenturen und Jobcenter werden als zentrale Akteure und Instanzen bei der Umsetzung der neuen repressiven Zumutungen angegriffen. Die Leidtragenden der sozialen Angriffe wollen sich den Raum aneignen, an dem sie sonst diszipliniert und schikaniert werden, um vor Ort über weitere Schritte und Perspektiven des Widerstandes zu beraten. Mit Besetzungen, Blockaden, Belagerungen und Versammlungen planen sie „in den Ablauf der Erwerbslosenbürokratie einzugreifen“ , um an diesem Tag einen regulären Betrieb in den Ämtern zu verhindern. „Wir wollen die Nötigung und Beschneidung unseres Lebens anhalten und einen Raum schaffen für den Ausdruck unserer Ängste, unserer Wut und unserer eigenen Vorstellungen von einem würdigen Leben“, heißt es dazu in dem bundesweit kursierenden Aufruf zu `Agenturschluss’.

Die Initiative zu `Agenturschluss’ sorgt in einer Situation für Unruhe, in der das Thema Hartz IV aus Sicht der Regierenden bereits befriedet schien. Nach dem Niedergang der Montagsproteste und den sinkenden Teilnehmerzahlen bei den bundesweiten Demonstrationen hat die soziale Protestbewegung auch in der veröffentlichen Meinung als Thema ausgedient. Doch nun verkünden die Aktivisten selbstbewusst, dass mit der Umsetzung der Hartz-Gesetze der soziale Protest und Widerstand erst richtig anfängt. Dabei sollen neue Formen der Organisierung von unten und des sozialen Ungehorsams erprobt werden. „Das Ziel ist, ganz und gar nicht nur symbolisch, den regulären Betrieb der Arbeitsämter in möglichst vielen Städten der BRD lahm zu legen. Vielleicht kann das, was passieren wird, als erster Erwerbslosenstreik bezeichnet werden,“ so beschreibt Paul vom Kieler Bündnis Agenturschluss die ehrgeizigen Ziele der Initiative. Das Erwerbslose im klassischen Sinne nicht streiken können, da sie sonst recht- und geldlos dastehen, ist den Akteuren durchaus bewusst. Trotzdem versucht `Agenturschluss’ Handlungsoptionen der Betroffenen aufzuzeigen und erste Ansätze eingreifender Gegenmacht zu entwickeln.

`Agenturschluss’ will Erwerbslose allerdings nicht an der Erledigung dringender Terminangelegenheiten hindern. Sollten Polizei oder private Sicherheitsdienste den Zutritt zu den Agenturen am 03. Januar versperren und damit die Arbeit von `Agenturschluss’ selbst erledigen, können sich Betroffene ihr Erscheinen vor Ort sogar von einer Anwältin oder Beraterin schriftlich bestätigen lassen. Damit wird eventuellen Schikanen durch die Behörde vorgebeugt. Die Organisatoren von `Agenturschluss’ planen prinzipiell zweigleisig: Sollte ihnen der Zutritt verwehrt werden, werden sie sich in Form einer fürsorglichen Belagerung mit Redebeiträgen, Musik und überraschenden Spektakeln vor den Ämtern bemerkbar machen. Das eigentliche Ziel ist jedoch, sich die Räume der Agentur in Form einer Erwerbslosenvollversammlung anzueignen und sie so einer nicht vorgesehenen politischen Nutzung zuzuführen.

Auch mit den Mitarbeitern der Agentur wird die Auseinandersetzung gesucht. In einem an die Beschäftigten gerichteten Flugblatt werden sie ausdrücklich dazu eingeladen, sich am Widerstand gegen die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und den allgemeinen Sozialabbau zu beteiligen. Schließlich wurden auch zahlreiche Agenturmitarbeiter in der letzten Zeit arg gebeutelt. Sie leiden unter den mit der Umsetzung der Hartz-Bestimmungen verbundenen Überstunden und Extraschichten. In den neuen Arbeitsgemeinschaften zwischen Agentur und Kommunen wurde den Beschäftigten der günstigere Manteltarifvertrag der Bundesagentur gekündigt. Zusätzlich droht vielen der Verzicht auf Weihnachts- und Urlaubsgeld. Grund genug also um sich zu wehren.

Die neue, mit dem Unwort der `Verfolgungsbetreuung’ treffend charakterisierte Funktion der Behörde, stellt hoffentlich auch für zahlreiche Mitarbeiter eine Zumutung dar. Schließlich müssen sie die Menschen zu nicht existenzsichernder Arbeit zwingen. Sie kontrollieren und überwachen bis ins letzte Detail die persönlichen und finanziellen Verhältnisse der Erwerbslosen. Sie sind es, die Leistungskürzungen oder gar vollständige Sperren bei fehlendem Wohlverhalten verhängen und den Betroffenen so die Existenzgrundlage entziehen. Gegen diese entwürdigende Behandlung ist auch der Widerstand der Beschäftigten gefragt. Die zuständige Gewerkschaft Verdi verweigert sich jedoch diesem Anspruch auf gegenseitige Solidarität. Verdi-Chef Frank Bsirske verweist stattdessen auf die Vorteile des neuen Arbeitslosengeldes II und distanziert sich von den Aktionen am 03. Januar, in denen er lediglich einen Angriff auf die Beschäftigten der Agenturen sieht. „Eine Unterstützung solcher Aktivitäten von Verdi-Gliederungen sollte unterbleiben,“ mahnt er insbesondere die unzufriedenen AktivistInnen der Verdi-Erwerbslosenausschüsse, die sich in zahlreichen Orten an `Agenturschluss’ beteiligen. Dieses spezielle Verständnis von `Mitgliederfürsorge’ ist symptomatisch für die politische Haltung der Gewerkschaften zu der Reformagenda der Bundesregierung.

Faktisch hat die Gewerkschaftsspitze Anfang September in einem Gespräch mit Bundeskanzler Gerhard Schröder für die anstehenden Wahlkämpfe bis zur nächsten Bundestagswahl einen politischen Burgfrieden vereinbart. Es werden allenfalls noch Korrekturen an den Reformen angemahnt. Allen eindeutigen politischen Positionen und eingreifenden Formen des Widerstandes wird eine klare Absage erteilt. Mitarbeiter der Agenturen werden sogar durch Verdi-Personalvertretungen mit Szenarien von amoklaufenden Erwerbslosen in Angst und Schrecken versetzt. Die Frage nach der individuellen Verantwortung und den Handlungsspielräumen der jeweiligen Arbeitsvermittler/in oder Fallmanager/in wird so erst gar nicht gestellt. Dabei entscheiden sie doch über die konkrete Ausgestaltung des `Eingliederungsvertrages’ zwischen Agentur und Erwerbslosem. Sie entscheiden, ob die Ablehnung einer `Mehraufwandsbeschäftigung’ mit finanziellen Sanktionen geahndet wird. Sie entscheiden, ob Erwerbslose eine angeblich zu große oder zu teure Wohnung räumen müssen, oder ob alle Kulanzspielräume ausgeschöpft werden. Gerade hier sollte Verdi die Beschäftigten gegen den Druck von oben zum Ausnutzen dieser Spielräume ermutigen.

Diejenigen Beschäftigten, die die neuen repressiven Möglichkeiten und Vorgaben der Gesetze im Sinne einer `Verfolgungsbetreuung’ nutzen, müssen jedoch damit rechnen, dass ihre persönliche Verantwortung auch öffentlich benannt wird. Zahlreiche anonyme Internetforen (u.a. auch auf www.labournet.de) und lokale Anlauf- und Beratungsstellen bieten Erwerbslosen die Möglichkeit über evtl. Schikanen und Drangsalierungen zu berichten. Erste kollektive Besuche bei besonders berüchtigten Sachbearbeitern wurden bereits angekündigt.

Auch wenn sich Verdi besonders über die Forderung nach einer Auflösung der Arbeitsagenturen empört, stellen die Behörden durch ihre neue arbeits- und sozialpolizeiliche Rolle letztlich selbst ihre Existenzberechtigung in frage. Natürlich ist die von neoliberaler Seite geforderte Privatisierung der Arbeitsvermittlung für die Betroffenen keine Alternative. Die Wahl zwischen neoliberaler Privatisierung und autoritär-sozialstaatlicher Verfolgungsbetreuung ist für die Erwerbslosen eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Da bleibt eigentlich nur die Hoffnung auf `Agenturschluss’ als Initialzündung für eine neue Dynamik des sozialen Widerstands, die dann tatsächlich perspektivisch den sozialen Frieden in diesem Land aufkündigt. Der Erfolg von `Agenturschluss’ muss sich daran messen lassen, ob es auch über den 03. Januar hinaus gelingt, gemeinsam mit den Erwerbslosen Widerstandsformen zu erfinden, welche im Sinne eines sozialen Ungehorsams die alltägliche Umsetzung der Hartz-Projekte blockieren. Dazu braucht es nicht zuletzt eine solidarische und widerständige Alltagskultur, um die drohende Individualisierung und Vereinzelung der ` Überflüssigen’ im Umgang mit Entrechtung, Verarmung und Ausgrenzung aufzubrechen. „Wir erhoffen uns, dass von Agenturschluss ein Moment der Ermutigung ausgeht und ein deutliches Signal einer Konfliktbereitschaft, die wir für die nächsten Jahre dringend brauchen.“ Der Zustand der Linken in diesem Land, gibt einem allerdings Grund daran zu zweifeln, ob die Wünsche von Paul vom Kieler Bündnis Agenturschluss in Erfüllung gehen werden.

Artikel von Tom Binger

Es ist die Langfassung von “Montag ist Unruhetag. Am 3. Januar will die Kampagne »Agenturschluss« Arbeits- und Personal-Service-Agenturen in ganz Deutschland blockieren und besetzen“ in der Jungle World vom 22.12.04


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