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Updated: 18.12.2012 15:51
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Netzwerker

Inken Wanzek über neue Formen von Arbeitskampf und Organisierung bei Siemens / Teil II

Nachdem Inken Wanzek im ersten Teil zum einen die wirtschaftliche Lage von Siemens geschildert hat, die besser ist, als von Siemens behauptet, und zum anderen die Arbeitgebersicht bei einem Großteil der Belegschaft beschrieben und kritisiert hat, erfahren wir in Teil II nun, wie sich die Belegschaft wandelte und ein kämpferisches Mitarbeiter-Netzwerk gründete.

Teil 1 erschien in express Nr. 8/2005

5. Daten zum Stellenabbau

Mitte August 2002 (d.h. zur Ferienzeit in Bayern) gab die Firmenleitung bekannt, dass innerhalb von sechs Wochen ein Drittel der Belegschaft am Standort München Hofmannstraße abgebaut werden sollte. Dies betraf 2300 MitarbeiterInnen in der Festnetz- und 300 in der Mobilnetz-Sparte.

Durch Maßnahmen wie Arbeitszeitverkürzung, Vorruhestandsregelungen und Insourcing gelang es dem Betriebsrat, die Anzahl der abzubauenden Arbeitsplätze auf 1100 (in der Festnetzsparte) bzw. 150 (in der Mobilnetzsparte) zu reduzieren. Den 1100 bzw. 150 Mitarbeitern wurde eine Siemens-interne Beschäftigungsgesellschaft, begrenzt auf 14 Monate mit der Option einer Verlängerung, und der klassische Aufhebungsvertrag angeboten. Bei Nicht-Annahme eines dieser Angebote sollte die betriebsbedingte Kündigung erfolgen. Im Rahmen eines Sozialplans waren die finanziellen Dinge geregelt. Zu betonen ist, dass jeder - egal, ob er den Aufhebungsvertrag angenommen hätte, in die Beschäftigungsgesellschaft gegangen oder gekündigt worden wäre - eine Abfindung in der Höhe von ein bis zwei Jahresgehältern (abhängig von Alter und Dienstzugehörigkeit) erhalten sollte. Die Abfindung in der Beschäftigungsgesellschaft war niedriger als die über Aufhebungsvertrag und Kündigung.

Von den genannten 1250 Mitarbeitern bekamen in der ersten Kündigungswelle (insgesamt gab es drei) ca. 850-900 Mitarbeiter dieses Angebot. Davon sind ca. 350 in die beE gegangen, ca. 400 haben sich auf die Kündigung eingelassen, und der Rest ist über Vorruhestandsregelungen oder Aufhebungsvertrag ausgeschieden. Von diesen Mitarbeitern sind alle diejenigen, die sich auf die Kündigung eingelassen haben, heute noch im Betrieb und mittlerweile wieder reintegriert: ca. 200 Beschäftigten (Schwerbehinderte, Jubilare mit besonderem Kündigungsschutz, Ältere) wurde Anfang 2003 aufgrund erfolgreicher BR-Widersprüche nicht gekündigt, ca. 200 wurde gekündigt. [1] Von diesen Gekündigten wurden in der ersten Instanz alle Prozesse von den Mitarbeitern gewonnen; in der zweiten Instanz, die bis auf wenige Prozesse abgeschlossen ist, sieht es ähnlich aus. Das Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht München hat Siemens mehrmals aufgefordert, die Kündigungen zurückzuziehen, sie seien rettungslos verloren.

Fazit: An diesem Beispiel sieht man deutlich, dass die sogenannten sozialverträglichen Lösungen wie Aufhebungsvertrag und Beschäftigungsgesellschaft für viele heute Arbeitslosigkeit bedeutet hätten: Ein Drittel der Mitarbeiter in der Beschäftigungsgesellschaft wurde im August 2004 arbeitslos. Die Kündigung muss nicht immer die schlechteste Lösung sein. Für 200 Siemens-Mitarbeiter war es der Weg der Kündigung und die daran anschließende Gegenwehr, die dazu führten, dass sie den Arbeitsplatz letztlich behalten konnten.

6. Meinungsführerschaft

Der Betriebsrat München Hofmannstraße praktizierte von Anfang an eine offene Informationspolitik. Er informierte die Belegschaft kontinuierlich und diskutierte mit ihr die Situation. Sein Ziel war herauszufinden, was die Belegschaft wollte und sie mit einzubinden in den schwierigen Prozess gegen den Stellenabbau. Der BR diskutierte einzeln mit Mitarbeitern, um ihre Meinung zu bestimmten Verhandlungspunkten zu erfahren. Zusätzlich fanden in dieser Zeit insgesamt zehn Betriebsversammlungen statt. Der BR stellte sich eindeutig hinter die Belegschaft und sprach offen mit ihr: »Wir können den Arbeitgeber nicht daran hindern, dass er kündigt, aber wir tun alles, was möglich ist, um es zu verhindern.« So ließ der BR z.B. die Betriebsleitung selbst die Kündigungsabsicht verkünden. Sie musste selbst ihr Beschäftigungsmodell vorstellen. Der BR ließ sich nicht vor den Karren der Betriebsleitung spannen und entgegnete dem wirtschaftlichen Argument, ICN sei in roten Zahlen, und wenn der Stellenabbau nicht vollzogen werde, dann gehe ICN pleite, mit dem Argument: »Wird der Stellenabbau vollzogen, gehen zunächst einmal die Mitarbeiter pleite, ihre Existenz ist ruiniert, und es ist daher legitim, dass sie um die Erhaltung ihres Arbeitsplatzes kämpfen.« Außerdem wies der BR darauf hin, dass der Arbeitsvertrag mit der Siemens AG und nicht mit ICN bestehe, und dass es der Siemens AG besser gehe denn je. Zusätzlich legte der Betriebsrat ein Modell (à la VW) vor, das mittels Arbeitszeitverkürzung und weiterer Maßnahmen alle Arbeitsplätze hätte sichern können. Die Betriebsleitung war zur Diskussion über diese Alternative nicht bereit und lehnte es ungeprüft ab. Spätestens hier erkannte die Belegschaft, dass es dem Arbeitgeber nicht um die Sanierung von ICN (heute COM) und die Rettung der Arbeitsplätze ging, sondern nur darum, ihren Willen mit Macht durchzusetzen. Dies führte dazu, dass 3000 Siemens-Mitarbeiter vor der Firmenzentrale in München demonstrierten. Für viele war es die erste, aber nicht die letzte Demonstration in ihrem Leben. Der Siemens-Vorstand war nach Erlangen geflohen. Diese Demo brachte den Durchbruch bei der Betriebsvereinbarung, die es nun umzusetzen galt.

Der Betriebsleitung gelang es während des ganzen Stellenabbaus nicht mehr, die Meinungsführerschaft im Betrieb zurückzuerobern.

7. Zur Entstehung des NCI

Am 11. November 2002 erhielten die Mitarbeiter die Blauen Briefe: »Ihr Arbeitsplatz entfällt. Wir bieten Ihnen einen Aufhebungsvertrag an oder die Möglichkeit, in die Beschäftigungsgesellschaft zu gehen. Ansonsten müssen Sie mit einer betriebsbedingten Kündigung rechnen«. Der Betrieb war an diesem Tag lahmgelegt. Es war, als ob ein Meteor eingeschlagen hätte. Einige liefen herum wie aufgescheuchte Hühner, andere saßen erstarrt vor ihrem PC, ganze Abteilungen legten die Arbeit nieder. Sprach man jemanden auf den Gang an, erzählte er seine Lebensgeschichte und offenbarte seine Lebensverhältnisse.

Der Beginn des Mitarbeiter-Netzwerks NCI war eine schlichte Email, die die Kolleginnen und Kollegen von benachbarten Abteilung zusammenrief und dazu aufrief, alle Interessierten mitzubringen. Zwischen 30 und 40 Leuten folgten diesem ersten Aufruf. Während der Vorstellungsrunde erzählte jeder Mitarbeiter, wie es ihm ging, was er fühlte und wie hilflos er sich dieser existenzbedrohenden Situation gegenüber sah. Dieses Sprechen über Gefühle war ein sehr wichtiger Moment; er half den KollegInnen, aus der emotionalen Isolation herauszutreten. Das Sprechen über Emotionen ist heute noch ein zentrales Element im NCI. Ohne den Aufbruch des Tabus »Gefühle« wäre der Zusammenhalt im NCI nicht gelungen.

Die Information über diese erste Gruppe des NCI verbreitete sich in Windeseile. Mitarbeiter, die zur Beratung beim BR kamen, wurden vor den Türen angesprochen und gefragt, ob sie im NCI, das zu diesem Zeitpunkt noch keinen Namen hatte, mitmachen wollten. Auch hier das Gleiche: Jeder erzählte seine Geschichte, jeder schloss sich an.

Die zweite Phase war die Aufklärung über betriebsbedingte Kündigung, über Kündigungsschutz, soziale Auswahl, Weiterbeschäftigung nach § 102 BetrVG und das Geschehen vor Gericht. In den verschiedensten Abteilungen hielt die Autorin dann - als Mitarbeiterin von Siemens - den gleichen Vortrag über das Thema Kündigungsschutzklage. Es sprach sich in Windeseile herum, dass es jemand gab, der wusste, welche rechtlichen Folge eine Kündigung hat und welche Mittel es gibt, sich dagegen zu wehren. Bei jedem Treffen wurden die Email-Adressen der Mitarbeiter eingesammelt. So entstand der erste NCI-Verteiler.

Dann folgte das erste NCI-Treffen mit dem Ziel, die Mitarbeiter zu bewegen, ihre Sache selbst in die Hand zu nehmen. Es kamen ca. 200 Beschäftigte zu diesem Treffen. Der große Saal im Gewerkschaftshaus platzte aus allen Nähten. An den Wänden waren Wandzeitungen mit Themenvorschlägen angebracht, angefangen von Emotionen bis hin zu rechtlichen Fragen. Zunächst drohte die Veranstaltung, eine ganz normale Betriebsversammlung zu werden. Dann aber folgten die Mitarbeiter dem Aufruf: »Organisiert Euch selbst, gründet Gruppen, tragt Euch in den Email-Verteiler ein, redet miteinander, lernt Euch kennen.« Die Veranstaltung war ein voller Erfolg. Ein ehemaliger Abteilungsleiter sagte: »So, jetzt kämpfe ich!« Er tut es bis heute, wie viele andere auch. Damit war ein weiteres zentrales Element von NCI geboren: die solidarische Eigeninitiative und Eigenverantwortung. Die Situation - auf der einen Seite die Wissenden (BR), auf der anderen Seite die Hilflosen (Belegschaft) - war durchbrochen. Die Hilflosen wurden selbst zu Wissenden. Es gelang, die MitarbeiterInnen aus ihrer Abhängigkeit von BR und anderen »Wissenden« herauszuholen - und damit auch eine klare Abkehr von der Stellvertreterpolitik zu praktizieren. Dieses Element ist nach wie vor ein zentrales Element im NCI und war auch stets ein Anliegen des damaligen Betriebsratsvorsitzenden Heribert Fieber. Die betroffenen Kolleginnen und Kollegen fühlten sich in der Gemeinschaft und im gemeinsamen Erleben dieses Treffens plötzlich nicht mehr isoliert und schwach. Dies ist im NCI bis heute so.

Nachdem das NCI-Mitarbeiternetz im November 2002 seine Tätigkeit mit 30 Mitgliedern aufnahm, wuchs und gedieh es im Laufe der Jahre und umfasst heute 900 Mitglieder. Die meisten von ihnen kommen aus dem Betrieb Hofmannstraße, aber auch MitarbeiterInnen von anderen Siemens-Standorten und anderen Firmen in anderen Städten haben sich NCI angeschlossen. Zur Zeit ist das NCI für Siemens-MitarbeiterInnen eine der wichtigsten Anlauf- und Informationsstellen. Festzuhalten ist auch: Das NCI wurde aus der Belegschaft heraus gegründet, und es entstand eine optimale Zusammenarbeit zwischen Betriebsrat, Belegschaft, Kirchen und Gewerkschaft. [2]

8. Zur Arbeitsweise des NCI

NCI hat einige Elemente eingeführt, die es bis dahin bei Siemens so nicht gab und auf die im Folgenden genauer eingegangen werden soll.

Gruppenbildung im NCI

Die Basisgruppen »beE«, »Gekündigte«, »Schwerbehinderte«, »Jubilare« wurden in einer großen NCI-Veranstaltung vorgeschlagen und bestehen bis heute. Neue Gruppen entstehen nach Bedarf und folgen einem bestimmten Procedere: Wenn ein Kollege eine Idee hat, die er umsetzen möchte, teilt er diese dem Netzwerk NCI mit. Diese Idee wird ohne Vordiskussion und Vorfilterung 1:1 an alle 900 NCI-Mitglieder weitergeschickt mit dem Hinweis, dass ein Koordinator und Mitstreiter gesucht werden. Aus Sicherheitsgründen (der Arbeitgeber soll nicht erfahren, wer im NCI aktiv ist), werden in einer solchen Rundmail keine Namen genannt. Die bei NCI eingegangenen Antworten werden an den Ideengeber und den Koordinator (falls dieser sich gemeldet hat) geschickt. Danach organisiert sich das Team völlig unabhängig von NCI. Die Gruppe selbst ist jedoch offen für jeden, der Interesse an dem Thema hat. Geschlossene Zirkel gibt es nicht. Interessiert sich niemand oder niemand mehr für das Thema, entsteht die Gruppe nicht oder zerfällt wieder. Es wird nichts künstlich am Leben erhalten.

Rolle der Rundmail

Die Rundmail hat eine Doppelfunktion. Über die Rundmail werden alle NCI-Mitglieder informiert, sei es über rechtliche Fragen, über Tipps bei Personalgesprächen, über empfohlenes Vorgehen, wobei bei uns ein Grundsatz ist, dass jeder selbst entscheidet, was er tut und was nicht. Es ist völlig in Ordnung, wenn jemand anders entscheidet, als die Mehrheit von NCI es für richtig hält. Dies führt nicht zum Ausschluss oder dazu, dass jemand schräg angeschaut wird. Neben der Wahrnehmung der emotionalen Aspekte und der Aufforderung zur Eigenaktivität ist dies der dritte zentrale Grundsatz im NCI. Durch die Rundmail als Newsletter ist es möglich, in kürzester Zeit alle NCI-Mitglieder auf den gleichen Wissensstand zu bringen.

Zum anderen wird diese Rundmail dazu verwendet, strategische Vorgehensweisen der Betriebsleitung, die in der Regel individuell gegenüber einzelnen MitarbeiterInnen erfolgen, aufzudecken und die Mitarbeiter aus der Isolierung zu holen. Unterstützt wird dies durch die Gruppentreffen. Zwei Beispiele zur Erklärung: Ein Mitarbeiter meldet, dass er eine Abmahnung wegen einer Nichtigkeit bekommen habe. Diese Tatsache wird an alle 900 Mitglieder weitergegeben, verbunden mit der Frage, ob noch jemand im Netz eine Abmahnung bekommen hat. Wenn die Antworten eintreffen, erkennt man sofort, ob es sich bei dieser Abmahnung um einen Einzelfall oder um ein strategisches Vorgehen handelt. Im Falle eines strategischen Vorgehens wird dieses als solches auf der NCI-Homepage veröffentlicht (ebenfalls ohne Namen). Zu bemerken ist, dass öffentlich natürlich weder die Namen noch die Abteilung oder der Abmahngrund mitgeteilt werden, der Mitarbeiter also nicht identifiziert werden kann - eine Vorsichtsmaßnahme gegenüber dem Mitarbeiter, damit der Arbeitgeber keine weiteren nachteiligen Maßnahmen einleiten kann. In allen Fällen wird der BR informiert.

Das zweite Beispiel ist Mobbing. Tritt ein Mobbingfall auf, wird ähnlich verfahren wie gerade geschildert. Hinzu kommt, dass Kollegen, die in der Nähe des Mobbingopfers arbeiten, dieses zu betreuen beginnen. So werden z.B. isoliert sitzende Kollegen, die in einem großen Raum ohne Arbeit und Ansprache sind, regelmäßig von Kollegen besucht; der Raum wird zum Pizza-Feier-Raum u.ä. Damit läuft Mobbing durch Isolation ins Leere. Strategisches Mobbing veröffentlicht NCI auch auf der Homepage. Insbesondere die Nicht-Gekündigten (Jubilare, Schwerbehinderte, Ältere) waren vermehrt Mobbing ausgesetzt. Die Gekündigten am wenigsten. Sie standen quasi unter dem Schutz des Gerichts.

Begleitung zu Gerichtsprozessen

Niemand muss im NCI allein seinen Gerichtsprozess durchstehen. Die KollegInnen organisieren sich selbst, damit jeder genügend Zuschauer im Gerichtssaal hat. Die Richter sprachen irgendwann von den »Siemens-Prozessreisenden«. »Der Gerichtssaal ist voll; wir können anfangen«, lautete einmal ein Ausspruch einer Gerichtsschreiberin. Er drückt die Solidarität im NCI aus. Über die Prozesse wird auf der NCI-Homepage berichtet. Die Richter sind treue Leser dieser Berichte geworden. Oft wird das NCI auch im Gerichtssaal zitiert.

Die Homepage

Die Homepage www.nci-net.de externer Link [3] dient zum einen dazu, die verteilte Information in Rundmails einigermaßen systematisch geordnet zum Nachschlagen anzubieten. Ihre wesentliche Funktion ist aber die Öffentlichkeitsarbeit, d.h. der Internet-Welt aufzuzeigen, was an Siemens-Standorten passiert.

9. Öffentlichkeitsarbeit

Ohne Öffentlichkeit lässt sich kein wirksamer Arbeitskampf führen. NCI hat daher begonnen, bei Ereignissen, die für die Presse interessant sein können, eine Presseerklärung des NCI herauszugeben. Auch diese wurde aus Sicherheitsgründen lange Zeit nicht mit Namen unterschrieben, sondern nur mit Siemens-Mitarbeiternetz NCI. Heute, wo Inken Wanzek nicht mehr Mitarbeiterin der Siemens AG ist, kann sie es sich erlauben, solche Pressemitteilungen im Namen des NCI zu unterzeichnen. NCI hat darüber hinaus auch Politiker auf die Situation bei Siemens aufmerksam gemacht.

Diese Öffentlichkeitsarbeit hat verhindert, dass die Schwerbehinderten, Jubilare und Älteren aus dem Standort München Hofmannstraße ausgegliedert wurden. Die MitarbeiterInnen befürchteten eine Teilbetriebsschließung, mit der jeglicher Kündigungsschutz hinfällig gewesen wäre. Aufgrund einer gemeinsam erarbeiteten Strategie stimmte auch kaum jemand dieser Versetzung zu: Es wurden Pressemitteilungen an alle Print-Medien im Münchner Raum, Fernsehen, Hörfunk versendet, Politiker, Bischöfe, Bundeskanzler und Bundespräsident wurden informiert. Die Ausgliederung dieses Personenkreises fand nicht statt. Ohne Öffentlichkeitsarbeit wäre das nicht gelungen.

10. Unterschiede zwischen Gewerkschaft und NCI

Gewerkschaften sind streng hierarchisch organisiert. NCI dagegen hat keine klassische Organisationsform. Der Grad des Einflusses eines NCI-Mitglieds auf das Netzwerk wird bestimmt durch den Grad seiner Aktivität. Je aktiver ein Mitglied ist, desto mehr Einfluss hat es auf die Handlungsweise des NCI. NCI ist im Gegensatz zu Gewerkschaften dezentral organisiert. Daher existieren im NCI verschiedene Gruppen, die sich in der Regel selbständig herausbilden, gleichberechtigt nebeneinander. Diese Gruppen organisieren sich selbst und handeln autonom. Dadurch entsteht ein asynchrones Handeln, das eine starke Dynamik und Kreativität in sich birgt. Außenstehende bezeichnen diese Handlungsweise oft als chaotisch, weil es bei uns keinen Ansprechpartner gibt, der stellvertretend für NCI sprechen kann. Würde es einen bestimmten Ansprechpartner geben, würde Siemens alles daran setzen, diesen zu eliminieren. Das Beispiel von Inken Wanzek, die durch die Gründung des NCI bekannt geworden war, zeigt dies mehr als deutlich.[4] Stattdessen gibt es themenbezogene Ansprechpartner: Im Grunde kann jedes NCI-Mitglied angesprochen werden, das dann den Gedanken im NCI zu Diskussion stellt und dadurch Interessierte um sich schart, die in dieser Frage Ansprechpartner sind. Wahlen gibt es im NCI keine, Abstimmungen erfolgen innerhalb von Gruppen. Im NCI gibt es zwar auch eine Kerngruppe, Koordinationsteam genannt. Diese hat aber nicht die Aufgabe, die Ziele und Handlungen des NCI zu bestimmen, sondern sie zu koordinieren, Impulse zu geben, die dann im Netz diskutiert, angenommen oder abgelehnt werden. Das Annehmen und Ablehnen erfolgt durch das Umsetzen in Handlungen oder Nicht-Handlungen, in wichtigen Fragen durch demokratische Abstimmung. Das Koordinationsteam wirkt wie ein Takt- oder Impulsgeber, vergleichbar mit dem Grundthema in einem Musikstück, das in der Komposition variiert wird. Dieses Grundthema hält NCI zusammen, Variationen sind, ähnlich wie im Jazz, beliebig zugelassen und werden nicht zurückgedrängt, solange sie in Beziehung zu diesem Grundthema stehen. Grundthema im NCI ist der Mensch, und Aufgabe des NCI ist es, diesen darin zu unterstützen, für seine spezielle Situation (Kündigung, Mobbing, Arbeitsüberlastung) eine für ihn persönlich lebbare Lösung zu finden. Dies schließt emotionale Aspekte genauso mit ein wie sachliche und rechtliche Aspekte sowie gesellschaftspolitische Stellungnahmen. Würde sich im NCI eine Gruppe herausbilden, deren Ziel die Einführung von hierarchischen Strukturen mit Führungsanspruch hat, würde diese keine ausreichende Basis finden und aus dem NCI über kurz oder lang herausdiffundieren und sich andere Verbündete suchen. Diesen Fall hatten wir jedoch noch nicht.

Ein weiterer Unterschied zu Gewerkschaften besteht darin, dass das NCI einen kontinuierlichen Prozess lebt. In der Praxis treten Gewerkschaften bei ihren Mitgliedern nur in Erscheinung, wenn es um den Abschluss von Tarifverträgen oder um Aktionen in Betrieben geht. Diese Aktionen, z.B. Demonstrationen, sind punktuell und zeitlich eng begrenzt. Danach verschwinden Gewerkschaften wieder aus dem täglichen Bewusstsein ihrer Mitglieder (auch wenn die Theorie in den Gewerkschaften anders lauten mag). Das NCI ist auch in Zeiten, in denen kein Arbeitskampf ansteht oder dieser situationsbedingt abgeflaut ist, aktiv. Ziel ist es, auch in diesen Phasen den Zusammenhalt und die Solidarität zu erhalten. Dies äußert sich z.B. darin, dass NCI-Feiern veranstaltet werden oder Diskussionen über allgemeinere gesellschaftspolitische Themen ohne unmittelbaren Handlungsdruck laufen.

11. Konflikt mit der IG Metall

Am 10. Februar 2004 gab es die letzte Betriebsvereinbarung im Rahmen des Stellenabbaus, mit der die Situation für die Jubilare, Schwerbehinderten und Älteren geregelt wurde. Die Betroffenen sollten in interne Projekte (Project Assignment, PRA) vermittelt werden - eine Form interner Leiharbeit. Der Preis für die Vermittlung der Jubilare, Schwerbehinderten und Älteren an neue Arbeitsplätze war: Der Betriebsratsvorsitzende Heribert Fieber musste gehen, sein Stellvertreter Leo Mayer wollte gehen. Die IG Metall beschloss Be-friedung - obwohl die Situation der Gekündigten und PRA-ler bis heute nicht gelöst ist. Das NCI machte die befohlene Befriedung nicht mit. In der Folge trat der Betriebsrat München Hofmannstraße zurück, und Neuwahlen fanden statt. Die IG Metall-Fraktion gewann bei den Wahlen fast die absolute Mehrheit [5] - die Belegschaft honorierte damit die bis dahin gute Betriebsratsarbeit. Das NCI zog unterdessen mit einem Sitz in den BR ein.

Der neue BR schlug jedoch einen anderen Kurs ein, folgte der Befriedungspolitik der IG Metall. »Man muss mit dem Arbeitgeber reden können«, hieß das neue Motto. Seitdem herrschen zwischen IG Metall und NCI ständig Konflikte. Einer der letzten gipfelte in der Formulierung von zwei IG Metall-Funktionären: »Zweitens haben wir die Aussperrung aus dem Siemens-Intranet wesentlich einem Beitrag auf der NCI-Homepage zu verdanken, der nach der Devise: 'Erst schreiben, dann denken!' gegen Siemens polemisierte.« Inzwischen stellte sich aber heraus, dass Siemens die IG Metall aus dem Internet verbannte, weil sie sich nach Meinung von Siemens in einem Bericht geschäftsschädigend verhalten hat. Der Vorwurf gegen NCI war damals also frei erfunden.

Das NCI ist aber schon lange stark genug, alleine weiter zu kämpfen. Eines ist sicher: Aufgeben wird es nicht: »Wir bleiben unserem Ziel treu, solange weiterzukämpfen, bis jeder für sich eine Lösung gefunden hat«. An diesem Grundsatz hat sich angesichts des fortgesetzten Stellenabbaus, weiterer Ausgliederungen usw. nichts geändert, auch wenn der damalige Konflikt durch Reintegration der Mitarbeiter gelöst ist. Bemerkenswert ist, dass die damaligen Kämpfer sich aber nicht in ihre neue alte heile Welt zurückgezogen haben, sondern weiter aktiv geblieben sind. Das ist der zweite große Erfolg des NCI: eine Bewusstseinsänderung mit der Bereitschaft, nun weiter für andere solidarisch zu kämpfen - über den Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes hinaus.

12. Andere Bewegungen

Das NCI ist keine isolierte Insel, sondern sucht aktiv Verbindungen zu anderen gewerkschaftlichen, betrieblichen und sozialen Bewegungen. Der Schwerpunkt liegt - entsprechend den Grundstrukturen des NCI - auch hier auf der menschlichen Begegnung, der Vernetzung und der damit möglichen schnellen Kommunikation, auf Erfahrungsaustausch, um selbst neue Anregungen zu bekommen und welche zu geben. Auch hier ist es NCI wichtig, dass alle Beteiligten ihre Eigenständigkeit und Selbstbestimmung entwickeln bzw. erhalten und keine Übernahmetendenzen entstehen. In der Praxis zeigt sich, dass diese Einbettung für NCI auch für seine Stärke und politische Schlagkraft nach außen wichtig ist. So z.B. bei Angriffen durch Siemens oder auch durch die Gewerkschaft. Diese würden sicher auf fruchtbareren Boden fallen, wenn das NCI sich nicht - auch durch die Zusammenarbeit mit anderen - diesen Bekanntheitsgrad erarbeitet hätte. Auch dies ist wichtig.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/05


(1) Auch bei den Gekündigten waren die BR-Widersprüche insofern erfolgreich, als sie mit diesen die Weiterbeschäftigung bis Prozessende vor Gericht erkämpfen konnten.

(2) Siehe auch: www.netzwerkkit.de/projekte/siemens/ externer Link

(3) Das Netzwerk ist nach Auseinandersetzungen mit der IG Metall auf diesen IGM-unabhängigen Server umgezogen; s. dazu unten »Konflikt mit der IGM«.

(4) Am 27. Oktober 2003 erfolgte die fristlose Kündigung von Inken Wanzek aufgrund einer Solidarmail im privaten Mitarbeiternetz NCI. Die erste Instanz wurde gewonnen, die zweite endete im Januar 2005 mit einem Vergleich, da Siemens einen Zerrüttungsantrag gestellt hatte. Die NCI-ler sagten bei der gemeinsamen Übergabe ihrer Kündigungsschutzklage: »Inken wurde stellvertretend für uns gekündigt.« Hintergründe zum Verfahren unter: www.ncinet.de externer Link

(5) Eine Stimme im BR fehlte ihr dazu. In den Wahlen zuvor hatte sie knapp die Mehrheit gegen die AUB errungen - damals zurecht ein großer Wahlerfolg für die IGM.


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