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Updated: 18.12.2012 15:51
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Netzwerker

Neue Formen von Arbeitskampf und Organisierung bei Siemens / Teil I

Ob miserabel produzierte »High-Tech«-Züge oder ebenso miserabel produzierte, technologisch veraltete Handys: Trotz grotesker Schlampereien unter Pannenmeister Heinrich Pierer ist es Siemens in dessen zwölfjähriger Amtszeit gelungen, den Umsatz zu verdoppeln und die Gewinne zu vervierfachen. Trotz?

»Fit für die Globalisierung« ist das Unternehmen eher wegen des Abbaus von knapp der Hälfte der 164000 Arbeitsplätze in Deutschland und der zahlreichen Konzessionen für eine angebliche Standortsicherung, die Siemens der IG Metall in den letzten Jahren abgepresst hat, um sie - s. Kamp Lintfort oder Bocholt - anschließend umso deutlicher vor den Kopf zu stoßen. Diesen Job hat Pierer bis Mitte 2005 so gut gemacht, dass er nun Wirtschaftsberater unter einer künftigen KanzlerIn werden soll.

Ob er dabei auch so lax mit dem Grundgesetz umgeht wie Siemens anlässlich der Massenkündigungen im Münchener Werk Hofmannstraße? Dort war die Ankündigung der Entlassungen Mitte 2002 Anlass zur Bildung des »Mitarbeiter-Netzwerks NCI«, in dem sich bis dahin unternehmensloyale Beschäftigte, die z.T. noch nie mit einer Gewerkschaft zu tun hatten, zusammenschlossen, um Pläne gegen die Pläne des Unternehmens zu schmieden.

Dies wiederum war Anlass für die zentrale Siemens-Personalabteilung, massiv gegen Grundgesetz, BetrVG u.a. zu verstoßen, indem die Personalverantwortlichen illegal Zehntausende von Dateien aus dem Email-Verkehr des Betriebsrats an sich brachten und damit gegen eine kluge und selbstbewusste Belegschaft und ihren BR zu intrigieren versuchten.

Im Folgenden ein Bericht von Inken Wanzek, Mitglied des NCI-Netzwerks, der die Geschichte dieser Auseinandersetzung schildert und die erfolgreichen Strategien gegen die Standorterpressung durch einen Konzern, der schwarze Zahlen schreibt, wenn und weil er Leute entlässt. Vielleicht eine Erfahrung, die auch die KollegInnen bei VW, Daimler und Alstom u.v.m. bald machen...

Redaktion des express

1. Zur wirtschaftlichen Lage von Siemens

Siemens hatte als führender Weltkonzern im Jahr 2002 das zweitbeste Firmenergebnis in seiner 156-jäh-rigen Firmengeschichte erzielt. Ausgerechnet in diesem Jahr erfolgten am Siemens-Standort München Hofmannstraße (Mch H), dem zentralen Entwicklungsstandort der Festnetzsparte (Telefonie etc.), Massenkündigungen. 2600 Arbeitsplätze sollten in nur sechs Wochen abgebaut werden. Das entsprach einem Drittel der Belegschaft. Die Festnetzsparte ICN (Information, Communications, Network) befand sich aufgrund des Einbruchs in der IT-Branche tatsächlich in den roten Zahlen. Einen entscheidenden Anteil an diesen roten Zahlen hatten auch unrentable Firmenaufkäufe in den USA. ICN war jahrzehntelang die »Cash Cow« von Siemens und hat heute rentable Bereiche wie die Medizintechnik viele Jahre lang »mit durchgefüttert«. Wären all diese Quersubventionen als Rücklage für den Bereich ICN verwendet worden, dann hätte ICN in einer Konjunkturflaute überwintern können. Das Problem für die Mitarbeiter war nicht die Quersubventionierung der Vergangenheit, sondern die Weigerung der Firmenleitung, die finanzielle Unterstützung nun auch dem Bereich, der jahrzehntelang diese Quersubventionierung finanziert hat, zu gewähren. Geändert hatte sich die Firmenpolitik der Quersubventionierungen 2001 mit dem Börsengang von Siemens in New York.

Wie auch die Richter in den später folgenden Gerichtsprozessen feststellten, haben die Mitarbeiter einen Arbeitsvertrag mit der Siemens AG und nicht mit dem Bereich ICN. Heute schreibt ICN [1] - obwohl die meisten Mitarbeiter, deren Kündigung als wirtschaftlich notwendig dargestellt wurde, noch bei ICN sind - bereits wieder schwarze Zahlen. Dabei ist neben den Kosten des Stellenabbaus zu beachten, dass Siemens seit November 2002 ca. 400 Mitarbeiter bei vollem Lohn (die überwiegende Mehrheit davon in der höchsten Gehaltsstufe T7 und übertariflich) nicht produktiv beschäftigt.

2. Ziele von Siemens

Bereits die Tatsache, dass der Bereich Com, vormals ICN, trotz misslungener Massenentlassung und un-produktiver Beschäftigung von Mitarbeitern wieder um die schwarze Null pendelt, zeigt, dass die wirtschaftliche Logik der Notwendigkeit solcher Maßnahmen nicht zwingend ist. Wäre der Betriebsrat am Standort Hofmannstraße der Logik des Arbeitgebers gefolgt und hätte ihn bei der schnellen Umsetzung seiner Massenentlassungen durch Co-Management unterstützt, gäbe es in Deutschland einige hundert Arbeitslose mehr, die aus Steuermitteln zu finanzieren wären.

Ziel von Siemens - und anderer Arbeitgeber - war, wie auf den einschlägigen Arbeitgeberseiten nachzulesen ist, nicht primär die Sanierung eines Bereiches, sondern der Umbau des Arbeitsmarkts, der jetzt deutlich im Zentrum aller Auseinandersetzungen in Politik und Wirtschaft steht: Gehaltssenkung, Verjüngung der Belegschaften, flexible Arbeitszeiten, Abbau der Arbeitnehmerrechte, Etablierung von Zeitarbeit, betriebliche Lösungen, um den Flächentarifvertrag auszuhöhlen. Daraus machte Siemens auch kein Geheimnis und stellte sein Modell auf der Betriebsversammlung offen dar:

Die zu entlassenden Mitarbeiter, vornehmlich Ältere ab 40 Jahren, sollen in eine auf zwölf Monate befristete externe Beschäftigungsgesellschaft überführt werden; das Gehalt beträgt dort 85 Prozent des letzten Nettolohns ohne Zuschläge wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Zu dieser Beschäftigungsgesellschaft, die nach Sozialgesetzbuch »beE« heißt (betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit), schießt das Arbeitsamt »Kurzarbeitergeld 0« in Höhe von 60-65 Prozent zu, abhängig vom Sozialstatus.

Ziel war es, die Mitarbeiter, bzw. die qualifiziertesten von ihnen, in eine Zeitarbeitsfirma zu überführen. Dazu hat Siemens eine 100-prozentige Tochter gegründet, die Zeitarbeitsfirma KomTime. Diese ist wiederum berechtigt, staatliche Zuschüsse zu verlangen (»Vermittlung in Arbeit«). Es gibt heute tatsächlich Mitarbeiter, die über KomTime fast an ihren alten Arbeitsplatz zurückvermittelt wurden. Mit diesem »Mitarbeiter-Recycling-Modell«, wie die Siemensianer dies nannten, kann Siemens Folgendes erreichen: Verjüngung der verbleibenden Belegschaft, niedrigere Löhne, Flexibilität. Es war klar, dass ältere Mitarbeiter, die in die beE verschoben werden sollten, sich angesichts der existentiellen Alternativen Arbeitslosigkeit oder Zeitarbeit in der Regel für letztere entscheiden würden. Erhöhung des Zeitarbeiteranteils, Absenkung des Gehaltsniveaus und Verlängerung von Arbeitszeiten üben natürlich auch Druck auf die festangestellte Belegschaft und die Tarifvertragsparteien aus. Man droht mit Verlagerung der Arbeitsplätze ins Ausland, und schon geraten die Tarifparteien unter Druck, vor allem, wenn vor den Toren ein Heer von Zeitarbeitern, Scheinselbständigen und Ich-AGs steht.

3. Situation vor der Krise

Siemens beschäftigte in der Hofmannstraße vor dem Stellenabbau ca. 9000 Mitarbeiter. Die Hofmannstraße ist ein reiner Entwicklungsstandort. Die Beschäftigten sind überwiegend Ingenieure oder fachlich hochqualifizierte Assistenzkräfte. Die meisten waren in der Gehaltsstufe T7 oder übertariflich eingestuft.

Die Mitarbeiter identifizierten sich durchweg mit den Unternehmenszielen, arbeiteten gerne bei Siemens. Wer einmal bei Siemens war, blieb in der Regel bei Siemens, denn das Unternehmen selbst bot die verschiedensten technischen Sparten (von Medizintechnik bis Mobile Phones) und die verschiedensten Tätigkeiten (von Vertrieb bis Kundenservice). Es bestand schlicht und einfach kein Grund zu wechseln. Stellenabbau war bei Siemens kein Thema. Bereichsumstrukturierungen wurden in der Vergangenheit durch Versetzung auf andere Arbeitsplätze oder Aufgabenwechsel gelöst.

Daher glaubten im Juli 2002 die meisten Mitarbeiter den Gerüchten um einen drohenden Stellenabbau nicht. Anzeichen für die reale Bedrohung war jedoch, dass Siemens die komplette Führungsriege ausgetauscht hatte.

Das Verhältnis der Belegschaft zum Betriebsrat war neutral. Es gab ihn, manchmal war er ganz nützlich, aber eine wirkliche Bedeutung hatte er in den Köpfen der Belegschaft nicht. Man löste seine Probleme selbst. Gewerkschaften im Betrieb nahm man nicht wahr. Sie verhandelten die Gehälter, ansonsten hatten sie keine Bedeutung. Man wusste in der Belegschaft nichts über Arbeitnehmerrechte. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad lag bei weniger als zwei Prozent. Einen aktiven Vertrauenskörper, also ein Gremium der aktiven IG Metaller im Betrieb gab es nicht. Der Betriebsrat war und ist IG Metall-geführt, hatte aber nicht die absolute Mehrheit. Größere Betriebsratsgruppen neben der IG Metall waren ver.di, AUB (»Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Betriebsräte«, eine arbeitgeberfreundliche BR-Liste) und etliche kleinere Gruppen.

4. Arbeitgeber- versus Arbeitnehmerbewusstsein

Die Siemens-Belegschaft hatte in überwiegender Zahl die wirtschaftliche Denkweise eines Arbeitgebers verinnerlicht. Diese Einstellung überdeckte fast vollständig die Tatsache der abhängigen Beschäftigung. In einer Betriebsversammlung, in der der damalige Konzernchef Heinrich von Pierer anwesend war, erklärte dieser der Belegschaft, für das Überleben des Bereiches ICN (Festnetzsparte) seien Kapazitätsanpassungen unvermeidlich. Vom größten Teil der Belegschaft erhielt er Applaus. Die Beschäftigten begriffen damals nicht, dass sich hinter dem Begriff »Kapazitätsanpassung« Stellenabbau und damit eventuell die Vernichtung des eigenen Arbeitsplatzes verbarg.

Der Betriebsrat stand vor dem Problem, diese starke Arbeitgeber-Denkweise in der Belegschaft durchbrechen zu müssen, um den erforderlichen Widerstandswillen zu wecken. Im Laufe des Konflikts wandte er unter Leitung des damaligen Betriebsratsvorsitzenden Heribert Fieber folgende Methoden an:

  • Klares Bekennen zur Belegschaft; dies beinhaltete eine offene BR-Arbeit: keine wochenlangen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, regelmäßige Berichterstattung über Verhandlungszwischenstände in Betriebsversammlungen und auf der Betriebsratshomepage (elektronisches Schwarzes Brett).
  • Der Betriebsrat ließ den Arbeitgeber selbst berichten, was dieser vorhatte. Nicht er als BR verkündete die Hiobsbotschaft des Stellenabbaus, sondern er ließ dies die Betriebsleitung tun.
  • Übersetzung der von der Betriebsleitung verwendeten Kunstworte, wie z.B. »Kapazitätsanpassungen« in Entlassung, Arbeitsplatzvernichtung, Existenzvernichtung. Damit gelang es, die starke Bedrohung emotional bewusst zu machen.
  • Verwendung einer Sprache, die Gleichnisse und Bilder zuließ, z.B.: Zu einem Angebot der Personalabteilung darf man »Nein« sagen wie zu einem Staubsaugervertreter, der einem an der Haustür einen Staub-sauger verkaufen will.
  • Kommunikation mit der Belegschaft in Einzelgesprächen und Emails, offene Türen im BR.
  • Gruppenberatung statt Einzelberatung, um die Menschen in gleicher Situation zusammenzubringen.
  • Kein Akzeptieren von Erpressungsversuchen wie Standortschließung.

Inken Wanzek

Teil II in express 10/2005.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9/05


(1) Der Bereich ICN wurde mit dem Bereich ICM (Mobile Netze) zusammengelegt und nennt sich nun Com (Communications). Com erzielt immer noch nicht die von der Firmenleitung geforderte Rendite von 8 bis 11 Prozent. Com verzeichnet einen Verlust von 70 Mio. Euro (3. Quartal 2005) nach einem Gewinn von 209 Mio. Euro im Vorjahr.


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