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Updated: 18.12.2012 15:51
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Schenkeljäger - Fußballspieler-Export aus Argentinien nach Europa

Text der Radiosendung von Gaby Weber, gesendet am 30.6.06 auf ORF

Erzählerin:
Training im Fußballstadion River Plate. In der vorderen, rechten Ecke des Feldes wird Elfmeter-Schießen geübt. Schuß auf Schuß, rechts, links. Und wieder, rechts, links. Der Trainer ist zufrieden. Ebenso die Fans hinter dem Zaun. Von dort aus beobachten die Freundinnen und Mütter stolz ihre Jungs.

Erzählerin:
Der 19-jährige Santiago aus der Jugendmannschaft hat zum Sprung nach Europa angesetzt.

Zitator:
Ich will in Argentinien triumphieren, um Karriere in einem europäischen Klub zu machen. Europa ist mein Traum. Ein wunderschöner Traum.

Erzählerin:
Ein Traum für die Spieler und zugleich ein Exportschlager für diejenigen, die das Geschäft in der Hand haben. Wer, meist hinter den Kulissen, wieviel Geld einstreicht, ist nicht bekannt. Seriöse Angaben fehlen, und niemand will sich den Mund verbrennen. Aber der Export von Kickern funktioniert nach der gleichen Logik wie der Verkauf von Rindfleisch, glaubt ein Sportlehrer.

Zitator:
Beim Export von Rindfleisch handelt es sich um totes Fleisch. Beim Kickerexport um lebende Ware.

Erzählerin:
"Ein wunderschöner Traum"? Oder profitieren am Ende doch nur die Klubpräsidenten und einige Vermittler. Eine Sendung von Gaby Weber.

Erzählerin:
Fußball bedeutet in Argentinien: Identität. Die Begeisterung für einen Verein wird von den Eltern geerbt, und die Zugehörigkeit zu einem Klub steht für eine bestimmte Kultur. Fans von Boca Juniors kommen von unten. "Boca" ist nicht nur ein Stadtteil von Buenos Aires. "Boca" steht für Mündung. Hafen. Einwanderer, herunter gekommene Holzhäuser, Peronismus. Diego Maradonna kommt von Boca Juniors. Einer von ganz unten, der es nach ganz oben geschafft hat. Trotz aller Sünden liebt ihn sein Volk. Trotz Kokain und seiner Gewaltausbrüche, und trotz seiner Anbetung von Fidel Castro und Hugo Chávez. Seien eigene Talkshow brach im letzten Jahr Zuschauerrekorde.

Das Stadion von River Plate liegt auf dem Weg in die reichen Stadtviertel von Buenos Aires, gleich neben dem Stadtflughafen. In kurzen Abständen ein Höllenlärm aus der Luft.

Erzählerin:
River Plate wird englisch ausgesprochen. Benannt nach dem Flußdelta Rio de la Plata. Die Riverfans nennen sich "los millonarios", Millionäre, sie orientieren sich an den oberen Zehntausend der Gesellschaft.

Bestimmte noch bis vor dreißig Jahren die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei die eigene Identität, ist heute an diese Stelle der Fußballverein getreten. Kein Wunder. Parteien gelten als Hort von Korruption und Ineffizienz, und Politiker wechseln ihre Bündnisse und Programme wie andere Leute die Unterwäsche.

Argentinien wurde, wie kaum ein anderes Land dieser Welt, von Krisen geschüttelt. Diktaturen kamen und gingen, Währungen und Wirtschaftsmodelle brachen zusammen, das Justizsystem und die Polizei sind diskreditiert und niemand gilt als glaubwürdig. Die einzige Leidenschaft und die einzige soziale Bindekraft scheint der Fußball zu sein. Und River Plate ist der größte Verein im Lande.

Erzählerin:
Nicht nur die Fans verfolgen das Training. Hinter dem Zaun notieren Gäste Details in ihren Notizblocks.

Erzählerin:
Europäische Klubs schicken ihre "Scouts", Talentjäger, so der Trainer der Jugendmannschaft Gabriel Rodrígues.

Zitator:
Einige geben sich als Praktikanten aus und beobachten in allen Provinzen unsere Spieler. Und wenn ihnen einer gefällt, kommt gleich ein Angebot. Ich war bis Anfang des Jahres Trainer bei San Lorenzo und habe mitbekommen, wie der Scout vom PSV aus Eindhoven, im vergangenen Jahr, einen meinen Jungs, den siebzehnjährigen Juan Carizo, in einem Turnier in Punta del Este sah und sofort nach dem Spiel dem Präsidenten von San Lorenzo ein Angebot machte. Nach einer Probezeit von drei oder vier Wochen wurde Carizo verkauft und heute spielt er beim PSV in Holland. Für den Verein ein wahrer Geldsegen.

Erzählerin:
Tausende südamerikanische Spieler, vor allem aus Brasilien und Argentinien, spielen in den Vereinen der Alten Welt, so der Trainer. Und wie bei den Mädchen, die in europäischen Bordellen landen, gilt auch bei der Exportware Fußball die Devise: je jünger je besser:

Zitator:
Unsere Spieler zeichnen sich durch ihre Technik aus. Und sie werden immer jünger. In Deutschland steigt ein Spieler mit 23, 24 Jahren in die Bundesliga auf, hier mit siebzehn oder achtzehn Jahren.

Erzählerin:
Das Leder ist in Südamerika für die meisten jungen Männer der einzige Weg, sich aus der Armut zu befreien. Es bringt Reichtum und Ruhm. Anders als in der "normalen" Welt, in der der soziale Status die Möglichkeiten eines Individuum definiert, gelten auf dem Spielfeld klare Regeln für alle. Dort hängt die Karriere nicht vom Bankkonto oder den Beziehungen der Eltern ab - sondern von den eigenen Oberschenkeln. SIE ermöglichen dem Hungerleider aus dem Elendsviertel den Sieg über einen Konkurrenten aus der Villa.

Erzählerin:
Aber die argentinischen Vereine verkaufen ihre besten Spieler, weil sie finanzielle Probleme haben, so Trainer Rodrigues.

Zitator:
Die Profis kommen aus den Amateur-Mannschaften, in die die Jungs sehr jung eintreten.

Erzählerin:
In der Tat werden die Klubs, während sich die Vereinspräsidenten und Makler eine goldene Nase verdienen, immer ärmer. River Plate zum Beispiel suchte in der vergangenen Saison händeringend Investoren, um neue Spieler zu verpflichten. Der Verein steht am Rande des Bankrotts, obwohl er in den letzten Jahren seine besten Spieler ins Ausland verkauft hat:

Zitator:
Ariel Ortega, Marcelo Gallardo, Hernán Crespo, Matías Almeyda, Marcelo Salas, Pablo Aimar, Javier Saoviola, Juan Pablo Sorín, Santiago Solari und viele mehr.

Erzählerin:
Die Ablösesummen für Nachwuchstalente aus der Dritten Welt sind astronomisch. Der FC Barcelona hat gerade den Vertrag mit dem brasilianischen Idol Ronaldinho verlängert und dafür den stolzen Betrag von 150 Millionen Euro hingeblättert. So hoch ist auch die Ablösesumme von Lionel Messi, der als 14-Jähriger nach Spanien auswanderte, heisst es in dem gerade in Berlin erschienenen Buch "Futbolistas - Hoffnungen, Helden, Politik und Kommerz". "Alle suchen einen neuen Maradonna. Diejenigen, die kaufen, weil sie sich im sportlichen Erfolg sonnen wollen. Diejenigen, die verkaufen, weil sie ein Geschäft machen wollen, und die Fans, weil sie einen neuen Helden brauchen".

Erzählerin:
Die Jugendmannschaft von River Plate ist gerade mit dem Training fertig. Die Jungs sind verschwitzt und müde, sie wollen schnell unter die Dusche. Und dann müssen sie lernen. Der Verein unterhält eine eigene Schule für seine Spieler.

Erzählerin:
River ist die größte und beste Mannschaft Argentiniens und der ganzen Welt, meint Matias, sichtlich stolz:

Zitator:
Von überall her reisen sie an, um unsere Spieler zu holen. Das ist doch klar. Wir machen eben guten Fußball. Wie alle, träume ich davon, eines Tages nach Europa zu gehen. Mir gefällt der europäische Fußball und man verdient sehr gut. Auch bei River verdient man nicht schlecht, aber das ist kein Vergleich zu dem, was ein europäischer Verein zahlt.

Erzählerin:
Ein Profisspieler bei Boca oder River kann es in Argentinien auf 30.000 Euro bringen, schätzen Fachleute. Monatlich. Dazu kommen Werbeeinnahmen und sonstige Vergünstigungen. Boca Juniors etwa hat im Fünf-Sterne-Hotel Intercontinental eine ganze Etage für seine Kicker gemietet. Sie wohnen nicht dort, steigen aber in der Edelherberge regelmäßig ab. Und an ihrer Seite schöne Frauen.

Erzählerin:
Vom Umkleideraum aus geht es direkt in vereinseigene Pension. Dort sind, ab dem zehnten Lebensjahr, die jungen Spieler untergebracht, die River Plate aus dem ganzen Land nach Buenos Aires geholt hat. 82 im Moment.

Erzählerin:
Noch bis letztes Jahr habe er in der Pension von River gelebt, so der 19-jährige Santiago aus der Jugendmannschaft ...

Zitator:
Ich habe die Vereins-Schule besucht, das vierte und fünfte Schuljahr. Eigentlich habe ich die Schule beendet, aber einige Prüfungen muß ich nachholen, um den Abschluß zu bekommen. Auch ich träume davon, Profispieler zu werden. Und River ist der größte argentinische Klub und bietet die besten Chancen. Natürlich geht es uns um den Ruhm, aber es ist auch klar, dass du mit keinem anderen Beruf annähernd das Geld verdienst, was du im Fußball machen kannst. Deshalb reissen wir uns alle ein Bein aus.

Erzählerin:
Gabriel Rodrigues drillt seit Anfang des Jahres die Jugendmannschaft von River Plate. Der 46-Jährige kommt vom Verein San Lorenzo, wo er Spieler regelmäßig an europäische Klubs vermittelt hat, viele an Bayer Leverkusen.

Zitator:
Auch wenn der Fußball ein Volkssport ist, meine Spieler kommen aus den untersten Bevölkerungsschichten. Beim Rugby oder Baskettball ist das anders.

Erzählerin:
Rodrigues fühlt sich für seine Mannschaft verantwortlich, auch dafür, daß seine Spieler in die Schule gehen. Gerade heute haben ihm die Lehrer eine Liste geschickt:

Zitator:
Die Namen mit einem Kreuz schwänzen den Unterricht, in den letzten Wochen vierzehn von 35 Schülern. Ich drohe ihnen, sie aus der Mannschaft zu werfen, wenn sie nicht lernen. Aber das bringt meist nicht viel.

Erzählerin:
Wie er diese vierzehn Schwänzer auf die Schulbank zwingen will?

Zitator:
Meine Drohung, sie aus der Mannschaft zu nehmen, bewirkt meist nur, daß sie zwar in die Schule gehen, aber nicht freiwillig, sondern nur, um ihren Rausschmiß zu verhindern. Sie haben, von einigen Ausnahmen abgesehen, kein wirkliches Interesse, etwas zu lernen und gehen nur unter Zwang in die Schule. Die Eltern müßten uns unterstützen, und wir versuchen, mit ihren zu reden. Aber die Väter haben oft dieselbe Einstellung zum Leben wie ihre Söhne.

Erzählerin:
Stimmt es ihn nicht traurig, jahrelang "seine Jungs" zu trainieren und dann zuzusehen, daß sie ihre beruflichen Erfolge im Ausland, und nicht im Heimat-Klub, feiern?

Zitator:
Nein, ich bin stolz darauf. Wir werden ja unter Vertrag genommen, um aus ihnen großartige Spieler zu machen. Wenn mir das gelingt und einer meiner Schüler im Ausland triumphiert, dann kommt mein Ego auf die Kosten. Von River Plate kommt Javier Zaviola, der nach Barcelona verkauft wurde und heute in Sevilla spielt. Dann ist da Crespo, der nach Italien verkauft wurde und heute in England, bei Chelsea spielt. Und nicht zuletzt Marcelo Gallardo, heute wieder bei uns kickt, aber jahrelang in Monaco war. Und Placente, der bei Bayer Leverkusen ist, und D´Alessandro in Wolfsburg.

Erzählerin:
Über das Business mag er eigentlich gar nicht reden. Ihm gehe es um den reinen Sport. Im Gegensatz zu Europa, wo viele Vereine Aktiengesellschaften seien, habe sich diese Rechtsform in Südamerika nicht durchgesetzt. Fußball, sagt Rodrigues, sei der Traum jedes südamerikanischen "muchacho":

Zitator:
Wir beginnen mit den Jungs ab dem Alter von zehn Jahren. Die eine Mannschaft nennen wir "Achter- oder Neuner Spielfeld" - also mit nur acht oder neun Spielern, die andere Baby-Fußball. Es wird, wie in Europa, in Turnhallen, auf festem Untergrund, gespielt.

Erzählerin:
Seine Jungs leben praktisch im Stadion. Dort ist die Schule und die Pension. Trotzdem machen sich windige Gestalten an ihre Eltern heran, um die Spieler, auf eigene Rechnung, ins Ausland zu verkaufen. Ein Verlust für die Mannschaft und für den Verein, so Trainer Rodrigues

Zitator:
Ein großer Vorteil von River Plate sind die Stipendien, die wir vergeben. Damit werden die Reisen der Mannschaft finanziert, die Hin- und Rückfahrt, das Mittagessen. Im Moment leben 82 unserer Spieler in unserer Pensionen. Sie kommen aus dem ganzen Land und wir bringen sie hier unter. Und wir geben ihnen vier Mahlzeiten am Tag, Frühstück, Mittagessen, Imbiß und Abendessen. Und einen wunderbaren Raum und ein gutes Ambiente, das nicht alle Klubs haben.

Erzählerin:
Ein Profispieler hat eine "wirtschaftlich nutzbare Zeit". Und es sind nur wenige, die in dieser Zeit so unvorstellbar reich werden, daß sie und ihre Sippe ausgesorgt haben. Die anderen müssen danach einen normalen Beruf ausüben.

Zitator:
Ein Profispieler ist vielleicht zwölf Jahre im Geschäft, seine nutzbare Zeit. Viel mehr ist nicht drin. Und in dieser Zeit will er möglichst viel Geld verdienen. Und das geht nur in Europa. Nur dort kann er richtig reich werden. Natürlich will ich als River-Fan meine besten Spieler im eigenen Klub behalten, aber ich verstehe den Zwang für den Spieler, seine beste Zeit auch wirtschaftlich optimal zu nutzen. Denn nach zwölf Jahren ist Schluß.

Erzählerin:
"Richtig reich" werden aber vor allem die Präsidenten der Vereine und die Vermittler. Sie suchen systematisch nach vielversprechenden, das heißt gewinnbringenden Objekten. Dies hat der Sportjournalist Gustavo Veiga beobachtet:

Zitator:
Zuerst spielen die Jungs in den Vereinen ihrer Stadtteile, aber das ist nur die erste Etappe. Dort beginnt das Geschäft. Talentjäger durchforsten diese relativ kleinen Klubs und wenn sie jemanden entdecken, gehen sie zuerst zu den Eltern und bieten ihre guten Dienste an, "gut" in Anführungsstrichen. Sie winken mit ein paar Geldscheinen in der Hand. Und da diese Familien meist sehr arm sind, unterschreiben sie alles. So lief es mit Sergio Agüero, den eigentlich Bayern München kaufen wollte. Agüeros Mutter übertrug einem Fernsehjournalisten vertraglich die Rechte an ihrem Sohn, der beim nächsten Verkauf des Spielers einen bestimmten Prozentsatz bekam, seinen Profit.

Erzählerin:
Bayern Münchens Manager Uli Hoeneß war extra nach Buenos Aires geflogen, um den siebzehnjährigen Agüero vom Verein Independiente abzuwerben. Viele Millionen wollte er dafür hinlegen. Aber der Deal platzte. Die Sprecher von Independiente verbreiteten die Version, daß der Junge lieber nach Spanien als ins kalte Deutschland wollte, und auf der iberischen Halbinsel kicken schon seine Freunde, Lionel Messi in Barcelona und Ezequiel Garay bei Racing Santander. Doch Karl Heinz Rummenige gab in München eine andere Erklärung bekannt: er sei nicht bereit gewesen, das vom Vereinspräsidenten geforderte Schmiergeld zu zahlen.

Der dementierte diese Anschuldigungen und kündigte rechtliche Schritte an. Doch ob er dies tun wird, ist unklar. Denn daß bei solchen Transaktionen betrogen und gemauschelt wird, - davon sind alle Argentinier überzeugt. Der Deal ist sicher nicht an Agüero gescheitert, der ein Angebot kaum hätte abschlagen können. Der Verein hat jahrelang in seine Ausbildung investiert, und hätte der Junge nicht das getan, was ihm gesagt worden ist, wäre seine Karriere vorbei, bevor sie begann.

Frage an den Journalisten Veiga, was von diesen Deals für die argentinische Gesellschaft abfällt. Erhält wenigstens der Fiskus, wie beim Export von Rindfleisch, die entsprechenden Abgaben?

Zitator:
Totes Fleisch ist unser traditioneller Exportartikel. Er sorgt für Arbeitsplätze und Steuern. Fußballer hingegen - auch das ist Fleisch - werden lebend ausgeführt. Welche Steuern dafür gezahlt werden, weiß ich nicht.

Erzählerin:
Statistiken liegen nicht vor, die Branche ist noch zu neu. Die Angaben, die die Klubs freiwillig den Behörden melden, wenig glaubwürdig.

Zitator:
Argentinische Vereine sind gemeinnützig und zahlen deshalb keine Steuern. Was wirklich gezahlt wird, bleibt im Dunkeln. Theoretisch bekommt von der Verkaufssumme die argentinische FIFA zwei Prozent und 0,5 Prozent erhält die Gewerkschaft der Spieler. Auf den angeworbenen Sportler entfallen fünfzehn Prozent der Summe. Das besagt eine Regel der FIFA, die in den siebziger Jahren erstritten wurde. Auf diese fünfzehn Prozent zahlt der Spieler Einkommensteuer. Aber oft wird ihm das Geld gar nicht wirklich ausgezahlt. Wir wissen von Fällen, in denen die Vereinspräsidenten ihren Spieler in das Büro der Fußball-Gewerkschaft begleitet haben. Dort wird der Betrag bar überreicht und kaum sind sie aus der Tür raus, fordern sie das Geld oder zumindest einen Teil zurück. Was Rummenige über den Vereinschef von Independiente gesagt hat, ist unser täglich Brot. Im Gegensatz zu Europa, wo viele Vereine Aktiengesellschaften sind und ihre Manager anstellen und bezahlen, arbeiten in Argentinien die Vereinspräsidenten offiziell ehrenamtlich und versuchen dann, auf irgendeine Weise Teile der Ablösesummen für sich abzuzwacken.

Erzählerin:
Um das Wohl der Spieler kümmert sich niemand, so Veiga.

Zitator:
Ein Klub hatte seine sehr jungen Spieler - sie stammten aus der nördlichen Provinz Tucumán - nach Italien verkauft. Sie waren minderjährig und wurden in einem Kloster untergebracht, um Kosten zu sparen. Aber sie erfüllten nicht die Erwartungen der Italiener. Deshalb wurden einige, mit einem Schild auf der Brust, einfach in ein Flugzeug gesetzt und nach Tucumán zurückgeschickt, andere wurden auf die Straße gesetzt. Sie putzten Fensterscheiben der Autos und bettelten.

Erzählerin:
Enrique Polola ist Turnlehrer. Er hatte diese Jungs aus Tucumán, SEINE Jungs, vor ihrer Abreise nach Italien trainiert. Auch sie träumten von einer Karriere im gelobten Europa und am Ende haben sie ihr Leben verpfuscht. Dies sei in diesem Metier üblich.

Zitator:
Einer der Jungs aus Tucumán, war gerade 13 Jahre alt. Er hatte vorher, im bitterarmen Norden Argentiniens, in seinen alten Turnschuhen in seinem Verein in der Vorstadt gekickt. Alle kannten ihn und riefen: "da kommt unser Juan". Und eines Tages entdeckte ihn ein Talentjäger und nahm ihn nach Buenos Aires mit. Er steckte ihn in eine Pension. Das erste, was der Junge verlor, war sein Vor- und Nachnamen. Er hieß ab diesem Zeitpunkt nicht mehr Juan, der gute Kicker, sondern wurde die Nummer Sieben in der siebten Liga. Danach verlor er seine Familie. Er kam aus Tucumán und lebte plötzlich in der Riesenstadt Buenos Aires. Er fand sich hier nicht zurecht. Ich habe Jungs gesehen, die sich im Umkreis von dreihundert Metern um ihren Verein herum bewegten, weil sie Angst vor der Großstadt haben. In ihrem Dorf hatten sie ihre Eltern, ihre Freunde und Lehrer. Hier haben sie niemanden. Die Eltern schicken ihnen vielleicht mal einen Brief oder ein paar Süßigkeiten. Sie sind hier ganz alleine und viele machen Bekanntschaft mit Drogen und Prostitution.

Erzählerin:
Polola ist zur Zeit arbeitslos. Sein letzter Klub hat ihn gefeuert, weil seine Mannschaft den Titel nicht gewonnen hat. Der Turnlehrer will seinen Beruf an den Nagel hängen. Er mag "seine Jungs", sagt er, fühlt sich für sie verantwortlich. Aber er stehe unter dem gewaltigen Erfolgsdruck, kurzfristig seine Mannschaft zum Sieg zu führen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Das heißt: ohne Rücksicht auf den einzelnen Menschen.

Zitator:
Unsere Spieler sind unglaublich stark und hören von allen Seiten: du musst gewinnen, gewinnen, gewinnen. Das haben ihm seine Eltern seit der Wiege eingetrichtert. Dafür muß er alles opfern. Ich habe meine Jungs hier nachts im Bett weinen sehen, weil sie ihre Eltern vermissten.

Erzählerin:
Nur die wenigsten Vereine können es sich leisten, die Eltern nach Buenos Aires mitzunehmen.

Zitator:
Das geht nur, wenn der Junge herausragend ist. Lionel Messis Eltern, der in Barcelona spielt, ließen sie solange ihren Sohn begleiten, bis der sich in Europa eingelebt hat. Im Moment umwirbt ein englischer Klub einen 14-Jährigen von River Plate. Sie haben sogar seiner Mutter einen Job in Großbritannien besorgt. Denn der Junge kann nicht alleine nach England.

Erzählerin:
Viele haben Angst, alleine nach Europa zu gehen. Das Klima schreckt sie ab, meint Polola. Einer seiner Jungs, der nach Finnland verkauft wurde, kam nach kurzer Zeit zurück. Er habe die Kälte einfach nicht ausgehalten. Und sie schreckt auch das soziale Klima. Die jungen Männer stammen aus sehr armen Verhältnissen aus dem Landesinneren und haben oft eine dunklere Hautfarbe und indianische Gesichtszüge. Längst hat es sich nach Südamerika herumgesprochen, daß man in Europa Opfer rassistischer Angriffe werden kann.

Zitator:
Die Spanier nennen uns abfällig "sudáca". Dort wurden wir permanent mit allen möglichen Schimpfwörtern beleidigt. So etwas passiert in Buenos Aires nicht.

Erzählerin:
Nach Deutschland oder England hat Polola seine Jungs nicht begleitet. Aber zur Fußballweltmeisterschaft nach Deutschland fährt er nicht. Er fürchtet keine tätliche Angriffe, aber auch das Gefühl des Nicht-Akzeptiert-Werdens sei alles andere als angenehm.

Man dürfe nicht übertreiben, protestiert der Trainer von River Plate, Gabriel Rodrigues. Rassismus gäbe es nicht nur in Europa:

Zitator:
Bei einem Spiel in Palmeiras, in Brasilien, wurden wir im Hotel besonders freundlich von einem jungen Schwarzen behandelt. Er saß an der Rezeption und half uns bei allem. Am letzten Tag schenkte ich ihm zum Abschied nicht nur ein gutes Trinkgeld sondern auch ein River-Trikot. Als ich in unseren Bus stieg, nahm mich einer der Organisatoren des Spiels beiseite und meinte: "die Neger sind zum Kloputzen da". Und das in einem Land, wo praktisch die Hälfte aller Spieler farbig ist.

Erzählerin:
Professionelle Talentjäger haben das Geschäft in der Hand. Headhunter - sagt man in der Wirtschaft. Auf die Fußball-Branche übertragen wäre der Begriff "Schenkelsucher" angepaßt. Mehrere Trupps sind auf der Suche nach frischem Blut: Da sind zunächst einmal die angereisten Anwerber der europäischen Vereine - die "Scouts". Und dann sind da die Argentinier, hat der Turnlehrer Polola beobachtet. Sie kommen sich wenig ins Gehege, denn wenn die Europäer einen Jungen einkaufen wollen, bieten sie ein Vielfaches von dem, was ein südamerikanischer Klub zahlen kann oder zahlen will.

Zitator:
Die argentinischen Talentjäger unterscheiden sich in drei Gruppen: Diejenigen, die als Angestellte für einen großen Verein in Buenos Aires anwerben. Diejenigen, die auf eigene Rechnung arbeiten und die Jungs aus dem Landesinneren den Klubs in Buenos Aires zuführen und dafür eine Vermittlungsgebühr kassieren. Und diejenigen, die die Spieler in den Vereinen im Landesinneren unterbringen. Dort hoffen sie auf eine Aufstiegschance.

Erzählerin:
Wieviel diese Vermittler bei den Deals verdienen? Dies sei Verhandlungssache und hänge davon ab, in welchem Umfang die Rechte an einem Spieler übertragen werden. Der Junge ist meist minderjährig und damit nicht voll geschäftsfähig und oft lassen sich die Vermittler als Vormund von den leiblichen Eltern einsetzen.

Zitator:
Es gibt das sogenannte "Recht der Föderation" und das "Recht der Wirtschaft". Das "Recht der Föderation" üben die Vereine aus, die mit den Eltern und mit dem Heimatklub des Spielers verhandeln und einen Vertrag über die Rechte an diesem Spieler abschließen. Diese Verträge sind nicht zugänglich. Wir wissen aber, daß darin sowohl dem Heimatklub als auch den Eltern einen bestimmten Prozentsatz an künftigen Verkäufen eingeräumt wird. Das "Recht der Wirtschaft" ist ein Vertrag mit dem Spieler selbst über seine Teilnahme an soundsovielen vereinbarten Spielen.

Erzählerin:
Der Spielerexport habe den einst großartigen argentinischen Fußball geschwächt. Früher, vor der großen Exportwelle, sammelten die jungen Spieler erst einmal ihre Erfahrungen im eigenen Land, bis sie den Sprung ins Ausland schafften. Als etwa Daniel Passarella von River Plate beim AC Florenz unterkam, war er bereits 29 Jahre alt und hatte an zwei Weltmeisterschaften teilgenommen. Maradonna hatte sechs Jahre lang in der ersten Liga Argentiniens gespielt, bevor er zum FC Barcelona wechselte.

Zitator:
Das funktioniert wie eine Goldmine, die ununterbrochen produziert. Früher gingen die Jungs mit siebzehn weg, heute mit dreizehn oder vierzehn. Sie spielen hier ein paar Monate und werden dann verkauft. Und die Fans kennen ihre Idole gar nicht mehr.

Erzählerin:
Nur die wenigsten schaffen den großen Sprung. Von Zehntausend einer, schätzt der Turnlehrer. Für die anderen platzt sehr schnell ihr großer Traum.

Zitator:
Ich erinnere mich, daß wir bei Boca Junior in einem Jahr 26.000 junge Männer aus dem ganzen Land getestet haben. Davon kamen zehn Prozent in die nähere Auswahl, übrig blieb eine Handvoll. An einem einzigen Tag probierten wir 240 Torwarte aus. Wir wählten sechs aus, von denen nach zwei Monaten noch drei bei uns waren.

Erzählerin:
Die wenigen, die es schaffen, werden auf allen Titelseiten gefeiert. Sie geben die Nahrung für die Träume vom großen schnellen Reichtum. Von den Zehntausenden, die sich für ihren Traum jedes Jahr verheizen lassen, ist nicht die Rede.

Zitator:
Sie kehren als Versager in ihr Dorf zurück und sich zerstört. Ihre ganze Kindheit über wurde ihnen eingetrichtet, Fussballspieler zu werden. Und dann landen sie, bestenfalls, in einer unteren Liga oder werden zurück geschickt. Aber die Maschine ist nicht aufzuhalten. Sie läuft und läuft und läuft.


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