letzte Änderung am 17. Februar 2004 | |
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Über die Probleme der Tez-Koop-Is, bei Metro in der Türkei
gewerkschaftliche Rechte jenseits ihrer nominellen Anerkennung durchzusetzen,
berichten wir an anderer Stelle in dieser Ausgabe. Der Metro-Konflikt war zudem
Gegenstand der TIE/express-Konferenz im vergangenen November, wo Faruk Üstün
für die Unterstützung der Tez-Koop-Is im Kampf gegen Metro warb. Auf
der Konferenz ergab sich darüber hinaus Gelegenheit, mit ihm und türkischen
Gewerkschaftern aus verschiedenen Dachverbänden zu diskutieren über
aktuelle Probleme der Gewerkschaftsarbeit in der Türkei. Be-merkenswert
genug, dass sich Mitglieder der äußerst heterogenen Einzelgewerkschaften
bzw. Dachverbände zu solch einer Diskussion zusammen fanden. Die anwesenden
Delegierten hatten sich zudem ein gemeinsames Ziel gesetzt: die Vereinigung
der vier Dachverbände und die Herausgabe einer gemeinsamen, gewerkschaftsübergreifenden
Zeitung.
Das Gespräch führten Kirsten Huckenbeck und Sabine Kaiser sowie Ramazan
Bayran als Überset-zer.
Wir wissen wenig über die Schwierigkeiten und die Formen gewerkschaftlicher Organisierung in der Türkei. Könntet Ihr uns zum Einstieg eine kurze Vorstellung Eurer Gewerkschaft, Eurer Tätigkeit und der Organisa-tionsprinzipien der Gewerkschaften in der Türkei geben?
Mehmet Kilic: Ich arbeite bei der Birlesik Metal Iscileri Sendikasi, der »Vereinigten
Metallgewerkschaft«, in der Region Bursa und bin dort Gewerkschaftssekretär.
Insgesamt bin ich seit 22 Jahren als Gewerkschafter aktiv. Die Birlesik Metal-Is
gehört dem Dachverband Disk an. Es gibt insgesamt vier Gewerkschaftsdachver-bände
in der Türkei: Türk-Is (Türkischer Gewerkschaftsbund, ältester
und vermutlich immer noch größter Gewerkschaftsbund), Hak-Is (Konföderation
der Arbeitergewerkschaft des Rechts), Kesk (Dachverband der Angestelltengewerkschaften
im Öffentlichen Dienst; Anm. d. Red.) und eben die Disk.
Hak-Is ist – im Unterschied zu den anderen – eine Richtungsgewerkschaft
der eher islamistisch orientierten Gewerkschafter. Sie ist nach 1980, also nach
dem Putsch, durch den u.a. die Disk verboten wurde, stärker geworden, insbesondere
unter der islamistisch orientierten Koalitionsregierung unter Führung der
Wohl-standspartei Erbakans. Zur Zeit gibt es mit der AKP-Regierung (Gerechtigkeits-
und Entwicklungspartei) unter Führung von Erdogan eine islamistisch orientierte
Allein-Regierung, die ebenfalls sehr freundliche Beziehungen zu Hak-Is unterhält.
Viele Beschäftigte des öffentlichen Sektors, in dem die Regierung
ihren Einfluss entfaltet, konnten vor diesem Hintergrund dazu bewegt werden,
sich der Hak-Is anzuschließen.
Resat Tüysün: Ich bin Mitglied der Petrol-Is, die dem Dachverband Türk-Is angehört, und u.a. Delegierter für den nächsten Gewerkschaftstag der Türk-Is vom 3.–5. Dezember. Für uns, die wir zum linken Flügel der Türk-Is gehören, geht es dabei u.a. um die Notwendigkeit, stärker als bislang kämpferisch orientierte, linke Positionen in der Spitze des Dachverbandes und seiner Mitgliedsgewerkschaften zu vertreten.
Faruk Üstün: Ich war ab 1972 als Hauptamtlicher in Gewerkschaften
tätig. Bis zum faschistischen Putsch 1980 habe ich hauptsächlich bei
verschiedenen, der Disk angehörenden Einzelgewerkschaften als Funktionär
gearbeitet. Da die Disk dann lange Zeit verboten war, war ich anschließend
in einigen Gewerkschaften des Dachverbands Türk-Is tätig. Seit 1986
bin ich bei der Tez-Koop-Is, die dem Türk-Is angehört, aktiv: zur
Zeit als Vorsitzender der Verwaltungsstelle in Istanbul und bis vor kurzem als
Generalsekretär der Tez-Koop-Is.
Die Tez-Koop-Is ist die stärkste Einzelgewerkschaft in der Handels-Branche,
sie organisiert jedoch auch die Beschäftigten in den Bereichen Berufsgenossenschaften,
schöne Künste und Erziehung. Sie ist sowohl im öffentlichen als
auch im privaten Sektor verankert. Im Privatsektor sind wir u.a. bei den größten
türkischen Einzelhandelsketten: Migros und Gima vertreten. Meine Gewerkschaft
versucht aber auch bei den großen Einzelhandelsketten ausländischer
Unternehmen wie Metro, Praktiker, Real, Carrefour etc. Strukturen aufzubauen,
was uns allerdings noch nicht gänzlich gelungen ist.
Heißt das, dass es bei den multinationalen Ketten überhaupt schwerer ist für die Gewerkschaften, oder sind dort die Mitgliedsgewerkschaften anderer Dachverbände präsenter?
Faruk: Bei den multinationalen Einzelhandelsketten in der Türkei gibt es keine einzige Gewerkschaft, die die Tariffähigkeit erlangt hat, die ja vom Ministerium bestätigt werden muss.
Wenn Du über die Problematik der gewerkschaftlichen Repräsentanz und die Anerkennung der Tariffähigkeit sprichst: Was sind für Euch die drängendsten Probleme der Gewerkschaften in der Türkei? Zählt die arbeitsrechtliche Situation dazu?
Faruk: Im öffentlichen Sektor gibt es nicht so ein großes Problem mit der Anerkennung, weil wir dort – noch – öffentliche Arbeitgeber als Unternehmer haben. Es gibt allerdings auch im öffentlichen Sektor zunehmend die Tendenz, sich gegen die Anerkennung der Gewerkschaften zu stellen und Gewerkschaften als Verhand-lungspartner abzulehnen. In den Provinzen z.B. versuchen die Gouverneure, die zugleich regionale öffentli-che Arbeitgeber sind, unter den neu eingestellten Beschäftigten eine gewerkschaftliche Organisierung zu verhindern. Sie agieren als Repräsentanten des Staates und sollten eigentlich das Recht auf Organisierung auch umsetzen...
Könntest Du erläutern, wie dieses Recht auf Organisierung formal aussieht und wie es praktisch umgesetzt wird?
Faruk: Sowohl in der Verfassung als auch in den Arbeitsgesetzen ist das Recht auf Organisierung verankert. Ob das aber in die Praxis umgesetzt wird, hängt von der Haltung der jeweiligen Arbeitgeberseite ab. Und die grundsätzliche Haltung im privaten Sektor ist es, mit allen Mitteln gewerkschaftliche Organisierung zu verhindern.
Könnt Ihr etwas zum Organisationsgrad sagen?
Faruk: Da die Machthaber vom 12. September 1980, die Putschisten damals, alle gesetzlichen Forderungen der Arbeitgeberseite erfüllt haben, indem sie alles, was die Unternehmen belasten könnte, abgeschafft haben, führte dies auch nach 1980 dazu, dass die Unternehmen nichts unversucht lassen, um gewerkschaftliche Organisierung zu verhindern. Es gibt einige ganz deutliche Beispiele, die in den Arbeitsgesetzen und der Verfassung verankert worden sind:
Erstens: Es wurde eine Branchenmarke per Gesetz eingeführt, nach der eine Gewerkschaft nur dann in einem Betrieb auch die Tariffähigkeit erlangt, wenn sie einen Organisationsgrad von mindestens zehn Prozent aller registrierten Beschäftigten in der Branche nachweisen kann.
Zweitens: Auch wenn sie die Zehn-Prozentmarke nachweisen können, müssen sie in dem jeweiligen Betrieb 50 Prozent plus 1 der Beschäftigten organisiert haben, um als tariffähig zu gelten.
Drittens: Es wurde nach 1980 per Gesetz eingeführt, dass die Aufnahme in die und der Austritt aus den Gewerkschaften per notarieller Bestätigung durchgeführt werden muss, was mit großen finanziellen Kosten verbunden ist.
Es gibt darüber hinaus eine Reihe gesetzlicher Regelungen, die die Kampffähigkeit und damit die Verhandlungsmöglichkeiten dermaßen einschränken, dass selbst diese restriktive Handhabung in der Erlangung der Tariffähigkeit und damit das Recht auf Tarifverhandlungen noch einmal zur Farce gemacht wird. So gibt es zum einen sehr viele Betriebe bzw. Branchen, wo der Streik überhaupt verboten ist, vor allem im öffentlichen Sektor, zum anderen gibt es unendliche Prozeduren, die Gewerkschaften einhalten müssen, wenn sie zu einem Streik aufrufen. Es muss z.B. eine bestimmte Frist mit Zwangsschlichtung erfolgt sein, eine Frist bis zum Aufruf zu einem offiziellen Streik eingehalten werden etc. Das wichtigste Kampfmittel der Gewerkschaften, also Streiks und Arbeitsauseinandersetzungen, wird so nahezu verunmöglicht.
Das führt zur Frage nach der politischen Rolle der verschiedenen Dachverbände: Gibt es Gewerkschaften, die weniger unter diesen Restriktionen leiden, oder trifft dies alle Gewerkschaften gleichermaßen?
Faruk: Unter diesen Einschränkungen leiden natürlich alle Gewerkschaften bzw. Gewerkschafter gleichermaßen. Es gibt aber einen großen Unterschied je nach Sektor. Im öffentlichen Sektor gab es bis 1980 bei der Durchführung von Tarifverhandlungen und der Durchsetzung der Forderungen relativ wenig Probleme, weil dort die meisten der Beschäftigten organisiert und die Gewerkschaften anerkannt waren, und: weil kein öffentlicher Arbeitgeber die Tariffähigkeit der Gewerkschaften z.B. gerichtlich bestritten hat. Nach 1980 hat die Mentalität der öffentlichen Arbeitgeber sich völlig verändert. Statt mit »Vater Staat« hatte man es nun mit einem »Händler-Staat« zu tun, d.h. die öffentlichen Arbeitgeber legten eine Händlermentalität an den Tag. Es war dieser Mentalitätswandel, nicht so sehr die direkte Repression, der zum Verlust des gewerkschaftlichen Einflusses geführt hat.
Könnte man sagen, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad durch den Putsch massiv zurück gegangen ist und die auch zuvor schon schlechten Konditionen im privaten Sektor auf diese Weise verallgemeinert wurden?
Faruk: Das trifft so nicht zu. Es kam vielmehr in der politischen Haltung des öffentlichen Arbeitgebers zu einer großen Veränderung. Diese Politikveränderung ging zum Beispiel damit einher, dass sich zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei die Arbeitgeber in öffentlichen Arbeitgeberverbänden organisiert haben. Seitdem gibt es zwei öffentliche Arbeitgeberverbände und einen gemeinsamen Arbeitgeberverband mit den Privaten, um eine gemeinsame Politik gegenüber allen Gewerkschaften durchzusetzen. Der wichtigste Aspekt, der zur Senkung des Organisationsgrades führte, war jedoch die Privatisierung des Öffentlichen Sektors.
Mehmet: Noch eine Bemerkung zur rechtlichen Situation und den damit verbundenen Problemen der Ge-werkschaften in der Türkei: Da die gesetzliche Lage die Arbeit der Gewerkschaften dermaßen erschwert, müssen wir oftmals wie eine konspirative Organisation, quasi illegal arbeiten, um die gewerkschaftliche Organisierung in den einzelnen Betrieben voran zu treiben. Obwohl wir nach dem Gesetz nur 51 Prozent Or-ganisierte nachweisen müssen, müssen wir faktisch mindestens 70–80 Prozent organisieren, damit der Arbeitgeber nicht durch Androhung von Repressionen den für die Anerkennung notwendigen Organisationsgrad sofort wieder unter 51 Prozent drückt.
Faruk: Zum Organisationsgrad: Es gibt in der Türkei keine verlässlichen Angaben über die Gesamtzahl der Beschäftigten und die Gesamtzahlen zum Organisationsgrad. Nach Schätzungen gibt es aber rund 12 Mio. Beschäftigte im Privaten und öffentlichen Sektor zusammen. Davon sind ca. 1,2 Mio. gewerkschaftlich organisiert. Der Organisationsgrad beläuft sich zur Zeit also auf ungefähr 11,8 Prozent. Aber: In der Zeit nach dem Putsch bis Mitte der 90er Jahre stieg der Organisationsgrad. Die Anzahl der gewerkschaftlich Organi-sierten belief sich noch 1996 auf etwa 2,5 Mio. D.h., erst durch die neue Welle der Privatisierung wurde fast die Hälfte der Organisierten aus den Gewerkschaften gedrängt. Im öffentlichen Sektor liegt die Gesamtzahl der Organisierten etwas höher als 300000.
Was sind für Euch die wichtigsten Aufgaben der Gewerkschaften bei der Organisierung? Seht Ihr diesbe-züglich Unterschiede bei den verschiedenen Dachverbänden?
Mehmet: In Bezug auf die Disk würde ich sagen: Die wichtigste Aufgabe ist es, die Bedeutung der Basis innerhalb der Gewerkschaft als Organisation zu stärken. Die Entscheidungen sollten stärker von unten her, demokratisch, getroffen werden, nicht so sehr über die Führungen, wie bislang.
Faruk: Für mich sind die programmatischen Unterschiede zwischen den Dachverbänden derzeit nicht mehr so groß, dass deren Existenzberechtigung davon nicht berührt wäre. Selbst bei Hak-Is gibt es einen linken Flügel, weil viele GewerkschafterInnen nach der Einstellung der Disk u.a. in die Hak-Is eingetreten sind, um überhaupt gewerkschaftlich tätig sein zu können. Deshalb kann man im Moment nicht mehr sagen, dass der eine oder der andere Dachverband kämpferischer wäre, um daraus ein Argument für den Eintritt in die eine oder andere Gewerkschaft abzuleiten. Außerdem führt die Konkurrenz zwischen den Dachverbänden und den ihnen angehörenden Gewerkschaften nur dazu, dass die Interessen der Beschäftigten nicht in erforder-lichem Maß durchgesetzt werden. Deshalb bin ich der Ansicht, dass sich alle Dachverbände – auch die relativ junge Kesk – wieder zu einem Dachverband zusammen schließen sollten.
Resat: Wir müssen zum einen gegen die Privatisierungspolitik der Regierung vorgehen, zum anderen die Politik der Regierung, die die Kriegspolitik anderer Regierungen unterstützt, z.B. in Form der Stationierung türkischer Truppen im Irak, verhindern – z.B. indem wir andere, nicht-gewerkschaftliche Organisationen, die sich gegen die Kriegspolitik einsetzen, unterstützen und unter den GewerkschafterInnen selbst gegen diese Kriegspolitik mobilisieren. Was alle Einzelgewerkschaften darüber hinaus jetzt tun können und müssen ist: die Zusammenarbeit zu verbessern. Das steht für uns jetzt ganz oben auf der Tagesordnung.
Mehmet: Ich stimme Resat voll zu: Vor dem Hintergrund der engen Kooperation von privaten Arbeitgebern und Regierung scheint auch mir die engere Zusammenarbeit zwischen den Gewerkschaften derzeit der wichtigste Punkt. Über diese Zusammenarbeit käme es vielleicht auch zu einer organisatorischen Vereini-gung.
Resat: Was darüber hinaus sehr wichtig ist: Bisher haben alle bisherigen Regierungen seit dem Putsch, auch die jetzige, ihre gesamte Wirtschaftspolitik von den so genannten »Stabilisierungsmaßnahmen« des IWF und anderer internationaler Institutionen abhängig gemacht. Solange das so ist, werden wir auch inner-halb der Türkei keinen erfolgreichen Kampf gegen die Privatisierung durchführen können.
Dazu eine Zwischenfrage: Sind die massiven Privatisierungen denn ausschließlich auf die Stabilisierungskriterien von IWF und Weltbank zurück zu führen, oder haben die nicht auch mit der Option eines EU-Beitritts zu tun und einer damit verbundenen Orientierung am Maastricht-Vertrag und dem Stabilitätspakt samt sei-nen restriktiven Vorgaben für staatliche Haushaltspolitik? Welche Position vertreten Eure Gewerkschaften denn bezüglich des EU-Beitritts?
Mehmet: Selbstverständlich streben die derzeitige Regierung ebenso wie die Arbeitgeberverbände und zum Teil aber auch die Gewerkschaftsführungen einen EU-Beitritt an, während für die Beschäftigten selbst m.E. darin keine Vorteile liegen und von diesen auch so nicht gesehen werden. Aber ich würde hier keinen gro-ßen Unterschied machen zwischen den Programmen von Weltbank und IWF einerseits und der Politik der EU andererseits.
Faruk: Ja, im Kern läuft beides auf das Gleiche hinaus: Abbau von Staatsverschuldung, Ausgabenbe-schränkungen bei den öffentlichen Haushalten und Privatisierung. Auch insofern haben wir hier von der EU nicht mehr oder anderes zu erwarten als von den Weltmarkt-Institutionen. Stabilisierungsmaßnahmen und Stabilitätskriterien haben den gleichen Inhalt.
Resat: Ich würde gerne noch mal auf die Folgen der aktuellen Privatisierungspolitik eingehen: Die bisheri-gen Privatisierungen haben nicht dazu geführt, dass die Haushaltssituation sich tatsächlich verbessert hätte: Die Betriebe wurden vielfach verschleudert, so dass entsprechend die Staatsschulden nicht verringert wer-den konnten. Selbst die erklärte Zielsetzung dieser Privatisierungspolitik ist also nicht erreicht worden. Die staatlichen Behörden bzw. die Regierung stehen natürlich unter dem Druck, ihre Schulden wieder zurück zahlen zu müssen. Aber da durch die Privatisierung keine neue Einnahmequelle geschaffen wurde, müssen nun neue Schulden gemacht werden. Das führte u.a. dazu, dass eine der wichtigsten Profitquellen mittler-weile die private Vergabe von Krediten an die öffentliche Hand ist. Über solche Finanzierungsgeschäfte und die damit in Gang gesetzte Schuldenspirale des Staates hat es z.B. der wichtigste Medienkonzern der Tür-kei (Dogan Holding), dem u.a. auch Hürriyet gehört, mittlerweile geschafft, Betreiber des staatlichen Tank-stellennetzes zu werden. Die haben das komplette Netz von der öffentlichen Hand übernommen.
Faruk: Ich sehe derzeit jedoch noch ein weiteres großes Problem für die Gewerkschaften: das des Vertrau-ensverlustes der Beschäftigten gegenüber den Gewerkschaften. Und diesen Vertrauensverlust halte ich für berechtigt, weil die bisherigen Gewerkschaftsführungen nicht wirklich die Menschen unterstützt haben, die den Kampf für soziale Rechte, für mehr Löhne und bessere Arbeitsbedingungen wollten oder geführt haben, sondern sich als Gewerkschaftsbürokraten, verhalten haben. In erster Linie müsste es also darum gehen, die Ursachen dieses Vertrauensverlustes auch unter den gewerkschaftlich Organisierten zu überwinden, indem wir zu einer anderen Gewerkschaftspolitik beitragen.
Welche Möglichkeiten seht Ihr, diesen Vertrauensverlust zu überwinden? Habt Ihr dazu in Euren Gewerk-schaften Konzepte entwickelt?
Faruk: Wir haben ja auch auf dieser Konferenz von vielen GewerkschafterInnen aus allen möglichen Län-dern gehört, dass die gewerkschaftliche Organisierung in nahezu allen Ländern schwächer geworden ist. Es geht hier nicht nur um ein spezifisches Problem der Türkei, sondern um ein weltweites Phänomen. Die ei-gentliche Schwierigkeit dabei ist nicht, das verlorene Geld, die Verluste an Mitgliedsbeiträgen etc. wieder zu ersetzen, sondern das verlorene Vertrauen wieder zu gewinnen. Dafür wäre es vor allem notwendig, dass die Gewerkschaften sich kritisch mit sich selbst auseinandersetzen, dass sie sich nicht einfach als Organisa-tionen verstehen, die mit den Arbeitgebern Verhandlungen führen, um irgendwelche Ergebnisse zu erzielen, sondern dass sie sich als Kampforganisation der Basis verstehen. Es ginge also darum, diese Interessen überhaupt erst wieder zu ermitteln, zu organisieren und zum Ausgangspunkt gewerkschaftlicher Politik zu machen.
Mehmet: Diese Krise kann nur dann überwunden werden, wenn die Gewerkschaften nicht mehr ihre bisherige Arbeit, also vor allem Lohnverhandlungen, als »die« Gewerkschaftspolitik darstellen, sondern sich wieder als Klassenorganisationen begreifen. Das hieße, die Durchsetzung der grundlegenden Interessen der arbeitenden Menschen in den Vordergrund zu stellen.
Resat: Zur Überwindung der Vertrauenskrise der Mitgliedschaften und der Nicht-Organisierten müsste man m.E. vor allem die Bildungsarbeit bei der Gewerkschaftsbasis wieder verstärken, damit ein stärkeres Bewusstsein für die Notwendigkeit gewerkschaftlicher Organisierung entsteht. Zudem müsste man durch Vereinigung der konkurrierenden Einzelgewerkschaften und Dachverbände eine stärkere Repräsentanz der Gewerkschaften entwickeln, was zur Folge haben könnte, dass mit der Einheit auch das Vertrauen in die Gewerkschaften wieder wächst.
Faruk: Im Unterschied zu Kollege Mehmet gehe ich nicht davon aus, dass das
Problem des politischen Bewusstseins der Gewerkschaften darin bestünde,
dass sie »nur« Lohnpolitik betreiben. Denn selbst diese Aufgabe
packen sie nicht an. Deswegen kann man ihnen das auch nicht als Fehler vorwerfen.
Ich sehe das Problem eher darin, dass die offizielle Gewerkschaftspolitik darin
besteht, als zweites Sprachrohr der Ar-beitgeberseite aufzutreten. Die Basis
sieht in der Politik der Gewerkschaftsführungen mittlerweile keine wesentlichen
Differenzen mehr zu den Verlautbarungen der Arbeitgeber und ihrer Verbände.
Daher halten sie es auch nicht für notwendig, sich gewerkschaftlich zu
organisieren.
Es ist eine grundsätzliche Diskussion notwendig über eine einfache,
aber dringende Frage: Was ist Gewerkschaft? Worin besteht die Notwendigkeit
von Gewerkschaften?
Zweitens: Es gibt ein türkisches Sprichwort: In einem fließenden
Wasser kann sich Schmutz nicht lange halten. Übertragen: In einer sich
bewegenden Organisation können sich Fehler, Mängel, Bürokratisierungs-tendenzen
etc. nicht lange halten. Für mich heißt das, dass man die Erkämpfung
der gewerkschaftlichen Rechte, der Menschenrechte und der berechtigten Forderungen
der Lohnabhängigen nur im Kampf gegen die Kräfte, die sich gegen diese
Interessen stellen, erreichen kann. Gewerkschaftspolitik bedeutet auch, in Bewegung
zu bleiben.
Und noch eine Bemerkung zu Kollege Mehmets Einschätzung, dass die Menschen
in der Türkei sich mehr-heitlich von dem EU-Beitritt keine Vorteile erhoffen
würden. Wenn die EU wirklich die Türen für die türkischen
ArbeitnehmerInnen öffnen würden, würde keiner unter sechzig,
der noch arbeitsfähig wäre, länger in der Türkei bleiben.
Witz beiseite: Viele Kollegen stellen den Beitritt zur EU als Gefahr für
die Beschäftigten dar. Ich sehe das nicht so: Ob mit oder ohne Beitritt
wird die Kooperation zwischen der Türkei und der EU vorangetrieben. In
einer Hinsicht sehe ich jedoch eine Chance für die Lohnabhängigen
und die Gewerkschaften in der Türkei: Mit dem Beitritt würden sich
auch die Möglichkeiten einer internationalen Kooperation verbessern und
der Kampf der Menschen für eine bessere Welt leichter internationalisieren.
Die Zusammenarbeit zwischen den Menschen aus verschiedenen Ländern würde
dadurch mehr Möglichkeiten erhal-ten. Vielleicht würden sich mehr
objektive Bedingungen ergeben für ein sozialistisches Europa...
(Gelächter) Vielleicht... Aber zum Schluss noch eine Frage zu etwas naheliegenderen Vorhaben: Was habt Ihr für Eindrücke von der Konferenz, was nehmt Ihr mit nach Hause?
Mehmet: Für mich ist es die erste internationale Konferenz, an der ich als Gewerkschaftsfunktionär teilnehme. Was ich sehr wichtig finde, ist, dass hier die Fragen der Gewerkschaftsbewegung und der Beschäftigten weltweit zusammen diskutiert werden und dass gemeinsam nach Lösungswegen gesucht wird. Auch wenn es jetzt nicht so viele handfeste Lösungen gibt, halte ich allein die Anstrengung in diese Richtung für sehr wichtig. Für die Zukunft würde ich mir wünschen, dass wir mehr Ansätze für konkrete internationale Solidarität entwickeln und in die Praxis umsetzen können.
Resat: Ich habe viele positive Eindrücke sammeln können, insbesondere über die Versuche einer gemeinsamen Problembeschreibung. Vor kurzem hatten wir in der Türkei ein erstes internationales Treffen über ein gemeinsames gewerkschaftliches Vorgehen. In meiner Gewerkschaft führt das zu einer positiven Veränderung in Bezug auf die internationalen Dimensionen gewerkschaftlicher Politik und Arbeit.
Faruk: Was ich für sehr wichtig halte, ist, dass sich hier gemeinsam die Aufgabe gestellt wurde, die drängendsten Probleme gewerkschaftlicher Arbeit zu benennen. Dabei hat sich gezeigt, dass die wichtigsten Fragen, die die Arbeiterbewegung jedes einzelnen Landes bewegt, tatsächlich die gleichen sind. Das war vor zwanzig Jahren bei uns noch nicht so, da gab es innerhalb der türkischen Arbeiterbewegung andere Probleme. Jetzt gibt es kaum mehr prinzipielle Unterschiede zwischen dem, was uns in der Türkei bewegt, und dem, was die KollegInnen aus anderen Ländern geschildert haben. Mir ist sehr deutlich geworden, wie eng unsere Fragestellungen zusammen hängen. Was ich mir in Zukunft bei TIE-Konferenzen und anderen internationalen Konferenzen wünschen würde, ist, dass wir uns über die Benennung von Problemen hinaus auch an die Erarbeitung von Lösungen wagen, an konkrete Wege. Wie kann man gemeinsame Probleme auch durch gemeinsame Ansätze lösen? Das wäre vielleicht die wichtigste Aufgabe.
Wir danken Euch dafür, dass Ihr Euch mitten in diesem Trubel so viel Zeit genommen habt für ein Gespräch.
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