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Updated: 18.12.2012 15:51
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Soziale Träger auf Niedriglohnkurs?

Zur aktuellen Entwicklung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Sozialsektor

Artikel von Gertrud Kühnlein/Norbert Wohlfahrt, zuerst erschienen in WSI-Nachrichten 7/2006

Der Sozial- und Gesundheitsbereich hat sich von anderen Dienstleistungsbranchen schon immer deutlich unterschieden. Dies gilt auch und insbesondere für die Tarifstrukturen, die bei den kirchlichen Arbeitgebern über den sog. Dritten Weg festgelegt werden. Trotz diverser Abweichungen oder Sonderregelungen galt für die Beschäftigten im Grundsatz dennoch jahrzehntelang die Parole: "Es gilt der BAT!" Mit der Umstrukturierung des Wohlfahrtssektors zur Sozialwirtschaft sind diese Zeiten, in denen der Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes als "Leitwährung" des Sozialsektors allgemein akzeptiert war, nun definitiv vorbei. Was sich derzeit abzeichnet, ist eine zunehmende Zersplitterung der Tariflandschaft, die einen unerbittlichen Verdrängungswettbewerb zwischen den Trägern und Einrichtungen und eine "Abwärtsspirale" bei den Arbeitsbedingungen in Gang gesetzt hat.

1. Der Sozialsektor: ein ganz normaler Beschäftigungsbereich?

Der Sozialsektor befindet sich seit einigen Jahren im Umbruch. Die Auflösung des traditionellen deutschen Wohlfahrt- und Sozialstaatsmodells, insbesondere die Einführung von Konkurrenz- und Marktmechanismen im Sozialbereich, ist mit gravierenden Veränderungen für die Erbringung Sozialer Dienste verbunden - nicht nur auf Ebene der Verbände, Träger und Einrichtungen, sondern vor allem auch für die Beschäftigten.

Mit dem Einzug des "organisierten Wettbewerbs" ist die Grundlage für die bisherige Vorrangstellung der freigemeinnützigen Einrichtungen der Wohlfahrtspflege tendenziell verschwunden. Sie sind nun in weiten Bereichen qua Gesetz den privaten Einrichtungen gleich gestellt; bei der öffentlichen Vergabe von Aufträgen soll vielfach nur noch das preisgünstigste Leistungsangebot entscheiden. Damit sind für die Träger und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege die zentralen Geschäftsgrundlagen in Frage gestellt, die jahrzehntelang für sie gültig gewesen waren.

Teilweise geradezu euphorisch wird die Sozial- und Gesundheitswirtschaft seither als neuer Wirtschafts- und Geschäftszweig, als "robuster Jobmotor und Wachstumsmaschine" entdeckt und entsprechend hoch gehandelt resp. hoch gejubelt. Endlich habe - so zum Beispiel der Tenor einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft, IW - der Gesetzgeber damit begonnen, "die Pfründe der Freien Wohlfahrtspflege abzubauen" und die bislang abgeschotteten, "abgesteckten Sozial-Claims" für die "freie" Wirtschaft zu öffnen (IW 2004).

Wie selbstverständlich wird dabei offenbar unterstellt, dass sich der Sozialsektor ohne weiteres in eine "normale", kapitalistisch regulierte Anlagesphäre umwandeln ließe, in einen Wirtschaftszweig, der nach den gängigen Marktgesetzen der Kapitalverwertungslogik funktioniert.

Eine derartige Einschätzung hält einer nüchternen Analyse allerdings nicht Stand. In unserem Beitrag wollen wir dem gegenüber deutlich machen, dass und inwiefern der Sozialsektor seine Besonderheiten weiterhin behält, weil es sich eben nicht um einen "ganz normalen" Wirtschaftssektor handelt, der hier ökonomisiert und privatisiert wird. Insbesondere ist und bleibt er politisch überformt. Die jetzt eingerichteten quasi-marktlichen Strukturen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Sektor nach wie vor in hohem Maße staatsabhängig ist und dass Qualität und Umfang der Dienstleistungen durch öffentliches Leistungsrecht bestimmt werden. Auch unterliegt die Preisgestaltung nicht den "Marktgesetzen", sondern sie ist abhängig von politischen Beschlüssen und Aushandlungen zwischen den beteiligten "Sozialpartnern", also zwischen staatlichen Akteuren und freien Verbänden bzw. ihren Trägern und Einrichtungen.

Der sich abzeichnende Trend, die sozialen Dienste in einem sich dynamisierenden Prozess zu weiten Teilen als Niedriglohnbereich zu etablieren, ist daher keineswegs als zwangsläufige Begleiterscheinung der Transformation des Sozialsektors zur Sozialwirtschaft anzusehen, sondern verdankt sich neben der staatlichen Sparpolitik auch der Weigerung der Träger und Einrichtungen im Sozialsektor, insbesondere der großen Verbände, gemeinsame Optionen bzw. tragfähige politische Lösungsstrategien zu entwickeln. Stattdessen setzen sie sich wechselseitig einem Unterbietungswettbewerb aus, der vor allem zu Lasten der MitarbeiterInnen ausgetragen wird.

2. Besonderheiten des Sozialsektors

2.1 Die großen Wohlfahrtsverbände - "unbekannte Giganten" [1]

Träger sozialer Dienste und Einrichtungen waren bis vor wenigen Jahren in der Bundesrepublik aufgrund gesetzlicher Regelung neben öffentlichen Trägern fast ausschließlich die fünf großen Wohlfahrtsverbände, die - zusammen mit den öffentlichen Trägern - die gesamte soziale Dienstleistungsproduktion getragen haben. Den Wohlfahrtsverbänden kommt aufgrund des Subsidiaritätsprinzips (Funktionssperre für den öffentlichen Träger, bedingter Vorrang freier Träger in der Leistungserbringung) in der sozialen Dienstleistungsproduktion eine herausragende Stellung zu, was die Wohlfahrtsverbände schon seit längerem zu einem arbeitsmarktpolitisch bedeutsamen Faktor hat werden lassen. In der amtlichen Statistik finden sich allerdings darüber keine konkreten Angaben, denn die Freie Wohlfahrtspflege ist kein eigenständiger Wirtschaftszweig, dessen Umsatz oder Wertschöpfung in einer volkswirtschaftlichen Statistik isoliert ausgewiesen wird. Hier ist man daher auf Sonderauswertungen und eigene Berechnungen angewiesen (vgl. Dahme/Kühnlein/Wohlfahrt 2005, S. 27 ff.).

Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) sind die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege Träger von etwa 94.000 Einrichtungen. Auch die wirtschaftliche Bedeutung der Wohlfahrtsverbände (ihr Wertschöpfungsbeitrag gemessen am Bruttoinlandsprodukt, BIP) ist eine nicht zu übersehende Größe; sie ist mit ca. zwei Prozent Wertschöpfung etwa gleich groß wie im Ernährungsgewerbe, im Papier- und Druckgewerbe oder der Chemischen Industrie.

Die Träger der Freien Wohlfahrtspflege leisten aber nicht nur einen erheblichen Beitrag zur wirtschaftlichen Wertschöpfung. Im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbranchen zählen sie mit ihren ca. 1,2 Mio. hauptamtlich Beschäftigten auch zu den größten Arbeitgebern in Deutschland. Gemeinsam mit einer schwer zu beziffernden Anzahl von Ehrenamtlichen und Freiwilligen beherrschen sie den sozialen Dienstleistungssektor. Dabei kommt den kirchlichen Trägern eine ganz besondere Bedeutung zu: Fast drei Viertel der im Sozialsektor Beschäftigten sind bei der Caritas bzw. beim Diakonischen Werk tätig. Die organisations- und personalpolitischen Strategien der kirchlichen Verbände wirken daher quasi automatisch trendsetzend bzw. -beschleunigend auf die gesamte Branche.

2.2 Auflösung der traditionellen Ordnungsstruktur sozialer Dienste

Die Entwicklung von Quantität und Qualität sozialer Dienstleistungen ist pfadabhängig; sie war in der Bundesrepublik wesentlich durch die Sozialstaatsgestaltung nach dem 2. Weltkrieg bestimmt: Doppelstruktur von staatlich organisiertem Versicherungssystem und örtlich organisierten subsidiären Hilfeleistungen nach dem Fürsorgeprinzip [2]. Damit wurde insbesondere die besondere Rolle der "freien Wohlfahrtspflege" als Träger von sozialen Dienstleistungen bestätigt. Im Unterschied zu anderen Ländern ist im deutschen Selbstverständnis der Dienstleistungssektor nicht als eine eigenständige Säule des Sozialstaates existent. Es gibt daher auch keine Referenzpunkte für öffentliche oder im öffentlichen Auftrag erbrachte Dienstleistungen, über die Anforderungen hinsichtlich der Informationssicherheit, Zugänglichkeit, Wahlmöglichkeiten, Entschädigungen und Beteiligungsmöglichkeiten, die in den gesamten Dienstleistungssektor hineingetragen werden könnten.

Zur spezifischen bundesdeutschen Dienstleistungsmixtur im Sozialsektor gehört zudem die eher randständige Berücksichtigung des Dienstleistungsbereichs in der sozialrechtlichen Kodifizierung und die Konzentration auf Geldleistungen. Mit der spezifischen Konstruktion der Pflegeversicherung wurde hier eine neue Stellschraube gesetzt: Einerseits wird damit zwar dem Pfad der Sozialversicherungsarchitektur gefolgt (obwohl privatwirtschaftliche und steuerfinanzierte "Lösungen" in der Diskussion waren), andererseits wird eine Wettbewerbskonstellation in die Dienstleistungserbringung eingeführt, die seitdem systematisch auf andere Dienstleistungsbereiche ausgedehnt wurde. Inzwischen wird sogar schon von einer Änderung der Governance-Struktur des Wohlfahrtsstaats gesprochen, die darin besteht, das "Wettbewerbsmodell des Marktes" für die Erstellung öffentlicher Dienstleistungen nutzbar zu machen.

Das für das deutsche Sozialstaatsmodell so fundamentale Subsidiaritätsprinzip mit seiner bedingten Vorrangigkeit frei-gemeinnütziger Träger verliert auf diese Art und Weise allmählich seine sozialpolitische Ordnungsfunktion, die sich vor allem auch darin äußerte, dass die Fortentwicklung der sozialen Infrastruktur nicht nur als partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und freien Trägern vonstatten ging, sondern darüber hinaus dem Prinzip der bedarfsorientierten Planung sozialer Infrastruktur verpflichtet war. Subsidiarität, obwohl weiterhin im Sozialgesetzbuch verankert, wird dieser Bedeutung zunehmend entkleidet und in wachsendem Maße zu einer Folie für Privatisierungsprozesse und für die Deregulierung sozialer Dienste. Dieses neue Subsidiaritätsverständnis betont die persönliche Eigenverantwortung und entlastet den Staat von seiner Leistungsverpflichtung, indem es die staatliche Gewährleistungsfunktion der Leistungsfunktion überordnet. Die - für das alte Subsidiaritätsprinzip konstitutive - Gesamtverantwortung des Staates (bestehend aus seiner Finanzierungs-, Planungs- und Letztverantwortung) wird merklich ausgedünnt.

Betrachtet man die gegenwärtige Praxis auf Länderebene und kommunaler Ebene, dann wäre es allerdings verfrüht und verfehlt, die korporatistische "Partnerschaft" zwischen Staat und Verbänden bereits als "Auslaufmodell" zu charakterisieren. So wurden im Zuge der Einführung des organisierten Wettbewerbs und des Kontraktmanagements durch den Sozialgesetzgeber Aufgaben festgeschrieben und auf die Ebene der Bundesländer verlagert, mit denen korporative Strukturen geradezu fortgeführt werden können (vgl. Hofmann 2004 ). Darin werden zwingend Entgeltvereinbarungen, Leistungsbeschreibungen und Qualitätssicherungsmaßnahmen vorgeschrieben. Für ihre Umsetzung sind jedoch Rahmenregelungen vorgesehen, deren Ausarbeitung formalen Gremien auf Landesebene unter Beteiligung der Leistungserbringer und Kostenträger obliegt. Dabei liegt das Vertretungsrecht auf der Seite der Leistungserbringer bei den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege und den Verbänden der privat-gewerblichen Anbieter. Und unter diesen stellen die Wohlfahrtsverbände nach wie vor die größte und einflussreichste Gruppe. Zum Fortbestand des Korporatismus trägt auch bei, dass Länderregierungen und Wohlfahrtsverbände die Zusammenarbeit in korporatistischen Strukturen immer wieder neu initiieren.

Als Problem erweist sich allerdings dabei, dass - im Unterschied zu früher - die Mitwirkung in korporatistischen Gremien den Verbänden kaum noch Möglichkeiten zur Profilierung insbesondere gegenüber den Mitgliedern bietet. Durch die aktuelle Sparpolitik stehen alle zu treffenden Vereinbarungen unter einem enormen Kostendruck, so dass der Korporatismus heute eher als ein Instrument der Haushaltskonsolidierung wirkt denn als ein Instrument der bedarfsbezogenen Weiterentwicklung sozialer Dienste. Folge dieser Entwicklung ist, dass die gemeinnützigen und privaten Träger und Einrichtungen sich nur bedingt über die Fort- und Umschreibung des alten Zuwendungsprinzips beklagt haben und in den Beschäftigten zunehmend die flexible Ressource zur Durchsetzung immer weniger kostendeckender Refinanzierungen sehen.

2.3 Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Wandel

Die Beschäftigung im Sozialbereich unterlag in den vergangenen Jahrzehnten einem ständigen Wandel, was die Anzahl der Arbeitsplätze, Arbeitszeitregelungen, Arbeitsinhalte sowie Anforderungs- und Qualifikationsprofile anbelangt. Bedingt durch den Modernisierungsschub und die politische Deregulierung des Sektors in den letzten Jahren, zeigt sich auch hier nicht nur eine Zunahme der Geschwindigkeit des Wandels, sondern auch ein Vorzeichenwechsel in der Personal -und Beschäftigungspolitik, der sich vor allem durch eine zunehmende Verunsicherung der Sozialbranche und damit durch eine Zunahme von Spannungsfeldern auszeichnet.

Kennzeichnend sind vor allem folgende Entwicklungen

  • Der gesamte Bereich war in den vergangenen Jahrzehnten tendenziell auf Wachstumskurs, wenngleich in Wellenbewegungen (entsprechend dem Auf und Ab der politischen Förderlandschaft: Stop-and-Go-Politik) und unterschiedlich je nach Handlungs- und Tätigkeitsfeldern. Soziale Dienstleistungsberufe gelten daher als "Zukunfts- und Risikoberufe" zugleich (vgl. Rauschenbach 1999).
    Gerade in letzten Jahren hat sich die über lange Jahre feststellbare Wachstumsdynamik in einigen Berufsfeldern allerdings grundlegend verändert: Betrachtet man beispielsweise die Stellenzugänge im Bereich der Sozialen Arbeit im Verlauf von 2000 bis 2006, dann zeigt sich - bei einem Rückgang von 16.659 Stellenzugängen im Jahr 2000 auf 8.666 Stellenzugänge in 2005 - beinahe eine Halbierung der Stellenzugänge innerhalb von fünf Jahren. [3]
  • In anderen Berufsfeldern (insbesondere im Gesundheitswesen) ist die Anzahl der beschäftigten Personen zwar weiterhin angestiegen, doch entspricht dies nicht unbedingt einem entsprechend wachsenden Beschäftigungsvolumen. Schon seit einigen Jahren lässt sich feststellen, dass zunehmend Teilzeitstellen angeboten werden, während Vollzeitstellen dagegen tendenziell rückläufig sind (vgl. Dahme/Kühnlein/Wohlfahrt 2005, S. 31).
    Zudem stellt der Gesundheits- und Sozialsektor eine der wichtigsten Branchen für Mini-Jobs dar. So waren im Jahr 2005 mehr als eine Million Mini-Jobs in den Bereichen "Gesundheits-, Veterinär- und Sozialwesen", "Erziehung und Unterricht" sowie im Bereich "Erbringung sonstiger öffentlicher und privater Dienstleistungen" registriert (davon allein im Gesundheitswesen über 400.000). In all diesen Segmenten ist der Anteil von Frauen (mit mehr als 80%) besonders hoch. [4]
  • Als zukunftsträchtig gilt der Sektor insbesondere unter der Maßgabe seines weiteren Ausbaus als "Niedriglohnbereich". Zugleich nimmt aber die Komplexität der Probleme und der Anforderungen an Pflegeleistungen, Kinder- und Jugendarbeit etc. tendenziell zu.
    Vielfach handelt es sich bei den sog. "Einfacharbeitsplätzen" daher um niedrig entlohnte, keineswegs aber um anspruchslose, einfach auszuführende Tätigkeiten. Dies wurde zum Beispiel im Rahmen einer aktuellen Studie des Bundesarbeitsministeriums anhand der Stellenbesetzungspraxis für "einfache Tätigkeiten" gerade auch für den sozialen Bereich nachgewiesen (vgl. BMWA 2005, S. 173 ff.).
  • Traditionell ist der soziale Sektor frauendominiert. Noch einmal überproportional häufig befinden sich die weiblichen Beschäftigten in den unteren Lohn- und Gehaltsgruppen, in denen selbst für Vollzeitbeschäftigte kein existenzsicherndes Einkommen mehr zu erreichen ist. Mit dem sozialstaatlichen Umbau ("Hartz"-Gesetze und deren Umsetzung) verfestigt sich noch einmal die überkommene Festlegung auf männliche resp. weibliche Geschlechterrollen eher noch ("Familienernährer" vs. "Mutter" bzw. "Zuverdienerin").
    Die aktuellen Entwicklungen drohen die Einlösung der langjährigen frauenpolitischen Forderungen nach einer gesellschaftlichen Aufwertung der personenbezogenen Dienstleistungsberufe und deren diskriminierungsfreie Bewertung weiter zu verhindern (vgl. zu diesen Debatten ÖTV/FES 2001). Statt dessen ist im Sozialsektor eine zunehmende Spaltung der Funktionen resp. Tätigkeiten und eine entsprechende Spreizung der Löhne und Gehälter - in frauendominierte Niedriglohnbereiche auf der einen Seite, männerdominierte Managerpositionen auf der anderen Seite - zu befürchten.

3. Besonderheiten der Tarifgestaltung im Sozialsektor

Tarifpolitisch nahm der Wohlfahrtssektor schon immer eine Sonderstellung ein.

Im Unterschied zum öffentlichen Dienst, wo der Bundesangestelltentarif (BAT) bisher flächendeckend galt, beruhte im sozialen Dienstleistungssektor die Anlehnung an den BAT schon immer auf der freien Entscheidung der Verbände und Einrichtungen. Bis vor wenigen Jahren galt der Flächentarifvertrag des öffentlichen Sektors dennoch relativ unangefochten auch im Sozial- und Gesundheitssektor als "Leitwährung", die von den Trägern und Einrichtungen als Richtlinie für Eingruppierung und Vergütung ihres Personals allgemein anerkannt wurde. Eine wichtige Grundlage für dieses Vorgehen bildete das rechtlich verankerte "Besserstellungsverbot", das festlegte, dass das aus öffentlichen Zuwendungen finanzierte Personal nicht besser gestellt werden durfte als vergleichbare ArbeitnehmerInnen des öffentlichen Dienstes.

Einige Wohlfahrtsverbände (Arbeiterwohlfahrt, AWO, Deutsches Rotes Kreuz, DRK) haben auf dieser Basis eigene Tarifverträge mit der Gewerkschaft abgeschlossen, die sich inhaltlich im Wesentlichen an den BAT anlehnen. Den Trägern und Einrichtungen, die sich dem Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) angeschlossen haben, bleibt es dagegen selbst überlassen, ob sie sich am BAT - oder an einem anderen Tarifvertrag - orientieren.

Anders war und ist dies bei den kirchlichen Verbänden Caritas und Diakonie, die in der Freien Wohlfahrtspflege eine dominante Stellung innehaben. Auf der Grundlage des verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrechts der Kirchen haben die katholische und evangelische Kirche zur Festlegung der Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein eigenes Arbeitsrechtssystem geschaffen. Dieses System wird als Dritter Weg bezeichnet (in Abgrenzung von Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften - Zweiter Weg - und einseitigen Festlegungen der Tarife durch die Arbeitgeber - Erster Weg). Im Dritten Weg werden die Arbeitsbedingungen für die einzelnen Dienstverhältnisse nicht durch Abschluss von Tarifverträgen nach dem Tarifvertragsgesetz festgelegt. Vielmehr erfolgt eine Beteiligung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Gestaltung des kirchlichen Arbeitsvertragsrechts durch paritätisch besetzte Kommissionen nach kircheneigenen Ordnungen.

Damit, d.h. mit der Bildung eigenständiger Arbeitsrechtskommissionen und mit dem Aufbau einer eigenständigen Mitarbeitervertretung, haben sich Diakonie und Caritas eine weitgehende Autonomie bei der Gestaltung der kirchlichen Arbeitsbeziehungen gesichert. Dieser gilt als "Konsequenz aus der Anschauung, der Antagonismus von Arbeitgeber und Arbeitnehmer entspreche nicht dem Bild der kirchlichen Dienstgemeinschaft" (Deinert 2005, S. 12).

Diese kircheneigenen Arbeitsvertragslinien waren bisher in weiten Teilen mit dem BAT vergleichbar, wiesen vielfach sogar wörtliche Übereinstimmungen auf. Insofern gab es hier traditionell immer eine große Nähe zum Tarifsystem BAT, auch wenn dies im Detail - vor allem wegen der vielfältigen Untergliederungen in die weitgehend autark agierenden Landeskirchen resp. Diözesen - je nach Region und Verbandszugehörigkeit partiell schon immer unterschiedlich gehandhabt wurde.

Im Gefolge der veränderten Refinanzierungsbedingungen hat sich diese Situation nun grundlegend verändert. Bei allen Verbänden haben in den letzten Jahren vor dem Hintergrund der "geänderten Rahmenbedingungen" Debatten um eigene Entgeltregelungen resp. um ein abgekoppeltes "kirchengemäßes Tarifsystem" eingesetzt (vgl. Gohde 2005), das nicht zu verwechseln ist mit dem Abschluss von "kirchengemäßen Tarifverträgen", die von den Gewerkschaften seit Jahren vergeblich gefordert werden. So hat die Kirchenkonferenz der EKD auf ihrer Sitzung am 30. Juni 2005 ein eigenständiges und einheitliches Tarifsystem für die evangelische Kirche und das Diakonische Werk empfohlen. Im Caritasverband stellt sich dies insofern anders dar, als sich die Deutsche Bischofskonferenz für eine Übernahme des TVöD ausspricht; die Dienstgebervertreter des Caritasverbands empfehlen dagegen, das neue Tarifsystem des öffentlichen Dienstes nicht mehr als "Leittarif" anzuerkennen, sondern allenfalls "als eine Orientierungsgröße (zu) betrachten" (Stellungnahme der Dienstgebervertreter in der Arbeitsrechtlichen Kommission [5]).

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist die Tariflandschaft des Sozialsektors in den letzten Jahren erheblich in Bewegung geraten.

4. Tariflandschaft in Bewegung

Die tarifpolitischen Besonderheiten der sich neu konstituierenden sozialen Dienstleistungsbranche waren bislang - außer in Gewerkschaftskreisen - kein Thema. Seit einigen Jahren stellen sie sich für die Beschäftigten allerdings als ein zunehmendes Problem dar. Erst jetzt macht sich die Tatsache geltend, dass es in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft keinen - wie auch immer verbindlichen - "Branchentarifvertrag" gibt, mit dem zumindest allgemein anerkannte tarifliche Mindeststandards gesetzt wären.

Mit dem Systemwechsel bei der Refinanzierung der sozialen Dienstleistungen stehen sowohl die bisherigen Finanzierungs- und Vergütungsmodelle als auch die materielle Vergütung zur Disposition. Insbesondere die Änderung der staatlichen Zuwendungsrichtlinien (Abkehr vom sog. "Besserstellungsverbot") bewirkte eine Art Dammbruch: Der BAT resp. TVöD wird als Fixpunkt zur Regulierung der Arbeitsbedingungen und zur Festlegung der Löhne und Gehälter faktisch außer Kraft gesetzt. Die geschilderten tarifpolitischen Besonderheiten des Sozialsektors wie auch der allgemein ausgerufene Sparzwang sorgen dafür, dass bisher auch keine andere tarifliche Regelung an seine Stelle getreten ist. Komplementär zur Inszenierung wettbewerblicher Strukturen im Sozialsektor ist daher ein bislang ungebremster Preiswettbewerb und - dem entsprechend - eine Abwärtsspirale bei den Löhnen und Gehältern in Gang gekommen. Diese hat unterschiedliche Verlaufsformen:

Es lassen sich zunehmend Strategien feststellen, in neue, billigere Tarife wechseln zu wollen. So verfolgen frei-gemeinnützige Träger, auch die Kirchen, verstärkt das Ziel, ihre Einrichtungen in eine Privatrechtsform zu überführen. Schon im Vorfeld der Privatisierung werden Maßnahmen durchgeführt, mit denen eine Ökonomisierung der Leistungserbringung erreicht werden soll. Durch das Outsourcen von Sekundärdienstleistungen (Küche, Gebäudemanagement, Wäschereien etc.), durch Kooperationen und Fusionen, insbesondere im Verwaltungs- und Versorgungsbereich und durch die Rationalisierung der betriebsinternen Handlungsabläufe sollen rasch massive Einsparungen erzielt werden. Die Vereinbarung von "Ausnahme"- und "Sonderregelungen" für einzelne Einrichtungen (Öffnungsklauseln, Notlagentarife) stellt zum Beispiel im Krankenhauswesen mittlerweile schon fast den Normalfall dar.

Dies hat auch Folgen für die Beschäftigungssituation, denn gerade bei neu eingestellten Arbeitnehmer/innen ist es von vornherein möglich, bspw. kein Urlaubs- oder Weihnachtsgeld mehr zu zahlen oder das Volumen für die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit auf etwa 42 Stunden auszudehnen (vgl. Buestrich/Finke/Latorre 2005).

Des Weiteren zeichnet sich ein zunehmender Trend zur Trennung von Formalqualifikationen und tariflicher Eingruppierung ab (vgl. Berger 2002, S. 382). So hat die AWO inzwischen einen neuen Rahmentarifvertrag entwickelt und zur Verhandlung vorgelegt, der eine weitgehende Entkoppelung von Ausbildung und betrieblicher Vergütung vorsieht. Entsprechend unübersichtlich ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt für die Beschäftigten der Sozialwirtschaft geworden. Ausgerechnet in einem Sektor also, der keineswegs unumstritten dem "freien Wettbewerb" der Anbieter ausgesetzt wurde und in dem "Tariftreue" bisher nie als Problem galt, unterbieten sich die Träger und Einrichtungen nun wechselseitig bei ihren Personalkosten. Und es ist realistischerweise nicht zu erwarten, dass sich die Träger und Verbände selbst in dieser Hinsicht Schranken auferlegen, auch wenn die oft rabiate Personalpolitik zum Teil an die Grenzen der eigenen Leitbilder und der gesellschaftspolitischen Überzeugungen stößt. Denn Gender-Mainstreaming-Verpflichtung (Abbau von geschlechtsspezifischen Diskriminierungen), soziale Gerechtigkeit und Inklusionsstrategien (existenzsichernde Beschäftigung statt Ausgrenzung durch Armut), corporate identity (Motivierungs- und Beteiligungsmodelle) sowie Professionalisierungstendenzen gehörten in der Vergangenheit zu einem verbandlichen Selbstverständnis, dem die zunehmende Etablierung eines Niedriglohnsektors im sozialen Dienstleistungsbereich eigentlich widerstrebt.

5. "Not" macht erfinderisch

Für die Verbände und Einrichtungen gab es bereits in den vergangenen Jahren diverse Möglichkeiten, den BAT zu umgehen bzw. auszuhebeln. Diese werden jetzt ergänzt um tarifliche und arbeitsrechtliche Sonderregelungen, die zu einer weiteren Aushöhlung der Funktion des BAT/TVöD als Flächentarifvertrag beitragen. Dabei kommt den nicht-tarifgebundenen, insbesondere den großen kirchlichen Verbänden eine besondere Bedeutung zu. Diese wirken trendbeschleunigend, weil sie auf die neu entstandene Wettbewerbssituation - Konkurrenz mit den Billigangeboten privater Träger - schneller und umstandsloser reagieren können, und sie erweisen sich in einigen Fällen als Vorreiter bei Modifikationen des bisher geltenden Arbeitsrechts. So wurden sowohl bei der Caritas ("Ordnung für geringfügig beschäftigte Mitarbeiter", Anlage 18 der AVR) als auch bei der Diakonie (Schaffung von sog. "BA-Gruppen", für "Mitarbeiter/innen in besonderen Arbeitsverhältnissen") Regelungen geschaffen, die eine Öffnung der Tarifvereinbarungen "nach unten" zulassen, welche von den Einrichtungen nach eigenem Bedarf zu definieren ist. Damit wird im unteren Einkommenssegment eine deutliche Absenkung der Löhne und Gehälter ermöglicht, ohne zum Instrument der Ausgründung greifen zu müssen. [6]

Allerdings sind hier deutliche Unterschiede zwischen dem Caritas-Verband und dem Diakonischen Werk der ev. Kirche in Deutschland festzustellen, die sich insbesondere auf die kirchliche Steuerung der Verbände zurückführen lassen.

  • Die Evangelischen Landeskirchen und die Diakonie die Übernahme lehnen für die 15.000 Beschäftigten in NRW ausdrücklich ab, sie weisen darauf hin, dass der TVöD keine "zeitgemäße" Grundlage für das kirchliche Arbeitsrecht sei. Stattdessen arbeiten die Evangelische Kirche und Diakonische Werke an eigenen Arbeitsvertragsordnungen, die z.T. massive Verschlechterungen für das Personal vorsehen.
    So gilt in Hessen-Nassau seit dem 1.10.2005 mit der Kirchlich-Diakonischen Arbeitervertragsordnung (KDAVO) ein neues Arbeitsrecht, mit dem sich Kirche und Diakonie aus der bisherigen Wettbewerbsordnung, die Vergütung und Arbeitsbedingungen in Anlehnung an die Tarifregelungen des öffentlichen Dienstes regelte, verabschieden. Die kirchlichen und diakonischen Arbeitgeber in Hessen und Nassau unterbieten mit ihrem neuen Arbeitsrecht die tariflichen Personalkosten der öffentlichen Hand um durchschnittlich 10%.
  • Der Deutsche Caritasverband agiert an dieser Stelle anders: Er will modellhaft eigene Wege erproben. Zu diesem Zweck wurde von den Dienstgebern eine "Projektgesellschaft innovatives Arbeiten in caritativen Unternehmen" (p.i.a.) gegründet, deren Zielsetzung darin besteht, ein neues Entgeltsystem zu entwickeln, das speziell auf die "Bedürfnisse der caritativen Unternehmen in der Zukunft" zugeschnitten sein soll. Im Rahmen von Modellprojekten in ausgewählten Einrichtungen wird seit Anfang 2005 ein neues Entgeltsystem erprobt, das aus einem "tätigkeitsorientierten" Grundentgelt und einem "leistungs"- und "erfolgsbezogenen" variablen Entgelt besteht.
  • Forciert wirkt sich die Veränderungsdynamik - wie oben bereits angesprochen - insbesondere in den Bereichen aus, in denen bereits die neuen Refinanzierungsmodelle greifen. Dies trifft im Gesundheitswesen vor allem auf die Kliniken zu: Seit der Umstellung der Krankhausfinanzierung auf "Fallpauschalen" ist es in den Krankenhäusern üblich geworden, Haustarife abzuschließen oder andere Sonderregelungen zu beschließen, die durchwegs das Personal (i.d.R. unterhalb der Ärzte-Ebene) finanziell schlechter stellen.
  • Fast noch drastischer stellt sich die Situation bei den Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften dar, wo - seit die Arbeitsagenturen auf europaweite, öffentliche Ausschreibungs- und Vergabeverfahren nach der Verdingungsordnung für Leistungen, VOL, umgestellt haben - ein unerbittlicher Preiswettbewerb in Gang gekommen ist. Beim Lohndumping geht es längst nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie; untertarifliche Bezahlung und prekäre Beschäftigungsverhältnisse haben erhebliche Ausmaße angenommen. Auch hier ermöglicht es der "Dritte Weg" den kirchlichen Verbänden, diese neuen Konkurrenzbedingungen schneller als die anderen auf die Beschäftigten zu überwälzen, weil die Arbeitgeberposition relativ umstandslos umgesetzt werden kann.
  • Die Arbeitsrechtliche Kommission Rheinland-Westfalen-Lippe hat am 12.5.2005 eine neue Arbeitsrechtsregelung für die Beschäftigten in Beschäftigungsgesellschaften, Arbeitsmarktinitiativen, arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und Projekten der Arbeits- und Berufsförderung sowie Integrationsfirmen bei Diakonischen Werken beschlossen (in Kraft seit 1. Juli 2005). Diese sieht im Wesentlichen neue Eingruppierungsregelungen (nach Tätigkeit) sowie Wegfall von Zulagen und Ersatz des Lebensalterszuschlags durch Erfahrungszuschläge sowie ggf. Leistungszulagen vor. Dabei liegen weder für die Neudefinition der Tätigkeitsmerkmale noch für die Definition dieser Mehrleistungen (Leistungszulagen) Kriterien vor. Die damit verbundenen - nicht unkomplizierten und bekanntlich sehr konfliktträchtigen - Fragen einer "leistungsgerechten" Vergütung müssen daher auf Einrichtungsebene und für jeden Einzelfall entschieden werden.
    Erklärtes Ziel dieser Neuregelung ist die Einsparung von Personalkosten. Die Differenz zum bisherigen Gehalt beträgt nach den Berechnungsbeispielen der Arbeitsrechtlichen Kommission zwischen 300 und über 1000 Euro. [7]
  • Auch die tarifgebundenen Verbände versuchen, das bisher einheitliche Tarifgefüge aufzusplitten. So verhandelt die AWO seit Längerem mit der Gewerkschaft ver.di über differenzierte (Sparten-)Regelungen. Diese sollen unterschieden werden je nach Art der Refinanzierung: nach öffentlich geförderten Geschäftsfeldern, sozialmarkt-orientierten Bereichen und "aufgrund der Refinanzierung besonders problematischen Bereichen" (wie Qualifizierungs- und Beschäftigungsmaßnahmen).

Der neue Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes lässt zwar ausdrücklich eine entsprechende Differenzierung nach Sparten, also eine Durchlöcherung des Flächentarifvertrags nach unten, zu. Bei den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege stößt er dennoch überwiegend auf Widerstand. Es ist den Gewerkschaften ver.di und GEW bisher nicht gelungen, sich mit den Vertretern der Wohlfahrtsverbände auf einen Tarifvertrag für die gesamte "Branche" zu einigen. Der Abschied vom Flächentarif ist also bereits im vollen Gange, das tarifpolitische Prinzip "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" ist in der Gesundheits- und Sozialbranche damit faktisch ausgehebelt.

6. Die Zukunft des Sozialsektors - eine politische Richtungsentscheidung

Die Entwicklung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Sozialsektor verweisen auf einen Tatbestand, der sich als doppelte Deregulierung zusammenfassen lässt: Auf der Basis der schleichenden Entwertung des Subsidiaritätsprinzips wird die staatliche Deregulierung durch eine von den Verbänden (mit-)getragene träger- und einrichtungsspezifische Deregulierung der Leistungsanbieter im Sozialsektor ergänzt, die insgesamt zu einem "freien Fall" der bisherigen Beschäftigungsbedingungen führt bzw. führen kann. Vehement fordern die sozialwirtschaftlichen Unternehmen des Sozialsektors eine weitere Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse und die Eröffnung von noch mehr organisationsspezifischen "Lösungen". Dabei geraten die in den sozialen Diensten Beschäftigten nicht nur unter den Druck zunehmend abgesenkter Gehälter und einer weiter zunehmenden Zersplitterung der Tariflandschaft, sondern auch ihr fachliches Profil wird in Frage gestellt.

Denn von den Verbandsvertretern wird mit zunehmender Vehemenz auch eine Neuordnung der Ausbildung gefordert, die den neuen Flexibilitätsbedürfnissen der Sozialwirtschaft Rechnung tragen soll. Dabei geht es um eine stärkere Entkoppelung von Formalqualifikationen und Eingruppierung, aber auch um eine generelle Dequalifizierung resp. Deprofessionalisierung der sozialen Dienstleistungstätigkeiten. Die "überdehnte" Professionalisierung des Berufsfelds, so die Forderung, müsse wieder zurückgenommen werden (vgl. EKD-Studie 2002, Degen 2004). Um den wachsenden Bedarf an niedrig entlohnten "Helferfunktionen" zu befriedigen, genügen aus Sicht der Verbände im Prinzip Schmalspurqualifikationen. Für ausgebildete Fachkräfte der Sozialen Arbeit (z.B. mit Bachelor-Abschluss) kommen in diesem Szenario nur noch spezialisierte Leitungsfunktionen in einem schmalen Segment in Frage.

Dies allerdings würde die langjährigen Bemühungen der Gewerkschaften und vieler Berufs- und Arbeitsforscher/innen um eine stärkere Vereinheitlichung der Ausbildungsgänge für die personenbezogenen Dienstleistungsberufe (bundesweit anerkannte Berufsabschlüsse, insbesondere auf dem mittlerem Fachkraftniveau) und eine generelle - gesellschaftliche und tarifpolitische - Aufwertung dieser traditionellen Frauenberufe zur Makulatur erklären.

Die Prognosen über die Entwicklung der Sozial- und Gesundheitswirtschaft gehen vor diesem Hintergrund weit auseinander. Während die einen darin weiterhin einen "dynamischen Wachstumsträger", "einen der zentralen und krisenfestesten Wachstumsbereiche innerhalb der Dienstleistungswirtschaft" und damit den Beschäftigungssektor der Zukunft schlechthin erblicken (Hilbert/Brandel 2006, S. 15), sehen andere dies eher als einen "Holzweg in die Dienstleistungsgesellschaft" an (vgl. Lehndorff 2002).

Denn bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass von Seiten der bundesdeutschen Politik für die Beschäftigten in den bezahlten Bereichen sozialer Dienste schlichtweg immer weniger Geld zur Verfügung gestellt wird und dass ein Interesse an tarifpolitischen Standards bei den Verantwortlichen der Sozialwirtschaft nicht erkennbar ist. Mit sinkenden Löhnen und Gehältern, mit dem Einsatz von Midi- und Mini-Jobs und unter tatkräftiger Mithilfe des Ehrenamts soll der Marsch in die hoffnungsvolle Zukunft der Sozialwirtschaft bewältigt werden. Was könnte die aktuelle Situation besser verdeutlichen als der Tatbestand, dass die diversen Angebote von ver.di, über einen einheitlichen Tarifvertrag Soziale Dienste zu verhandeln, bei den Verantwortlichen aller Verbände bisher nur auf breites Desinteresse stießen?

Dabei entbehrt dieses Vorgehen nicht einer gewissen Paradoxie. Denn gerade im Sozialsektor wären die Träger und Einrichtungen gut beraten, sich auf eine einheitliche Strategie zu verständigen, um sich politisch durchsetzungsfähiger zu machen. Mit dem unbeirrten Setzen auf einen wechselseitigen Unterbietungswettbewerb graben sich die Sozialunternehmen auf längere Sicht selbst das Wasser ab.

Literatur

Berger, R. (2002): Neuere Entwicklungen in den Studiengängen des Sozialwesens, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, Nr. 5/2002, S. 377-384.

BMWA, Hrsg. (2005): Stellenbesetzungsprozesse im Bereich "einfacher" Dienstleistungen. Abschlussbericht einer Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit. Dokumentation Nr. 550. Berlin.

Buestrich, M./Finke, F.;/Latorre, F. (2005), Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung: Möglichkeiten präventiver Arbeitsförderung im Klinikbereich, in: Gesundheits- und Sozialpolitik, Heft 3/4 2005, S. 31-41.

Dahme, H.-J./Kühnlein, G./Wohlfahrt, N. (2005), Zwischen Subsidiarität und Wettbewerb - Wohlfahrtsverbände auf dem Weg in die Sozialwirtschaft, Berlin.

Deinert, O. (2005): Neugestaltung der Arbeitsvertragsgrundlagen in Einrichtungen der evangelischen Kirchen über den 3. Weg, Gutachten im Auftrag von ver.di, Berlin.

Degen, Johannes (2004): Welchen Professionalisierungsgrad kann und soll sich die Diakonie leisten? (Manuskript. www.johannes-degen.de externer Link)

Gewerkschaft ÖTV; Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), 2001: Zentrales Hearing zur Aufwertung von Frauenberufen. Dokumentation der Veranstaltung vom 14. Juli 2000 in Berlin. Stuttgart.

Gohde 2005

Hilbert/Brandel 2006

Hofmann, T., 2004, Für eine bessere Lobbyarbeit. In: Sozialwirtschaft, Heft 1, 2004, S. 8 - 10

Institut der deutschen Wirtschaft (2004): Wohlfahrtsverbände in Deutschland. Auf den Schultern der Schwachen. Köln.

Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (2002): Soziale Dienste als Chance. Eine Studie der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für soziale Ordnung . Hannover (zitiert als: EKD-Studie).

Lehndorff, St. (2002): Auf dem Holzweg in die Dienstleistungsgesellschaft? Gute Dienstleistungsarbeit als Politikum. In: WSI-Mitteilungen. Heft 9/2002. S. 491-497.

Liebig, R., 2005, Wohlfahrtsverbände im Ökonomisierungsdilemma, Freiburg i.B.

Rauschenbach, Th. (1999): Das Sozialpädagogische Jahrhundert. Weinheim.

Rogg, G. (2005): Tarifkonflikt in der Caritas - die Positionen, in: neue caritas 19/2005, S. 24-25.

Schäfer, W. (2005): Hintergründe für die Entscheidung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Ausschreibungsverfahren durchzuführen. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit H. 3, S. 48-53.


(1) Vgl. ver.di public. "Kirchliche Arbeitgeber - die unbekannten Giganten" (Sonderausgabe vom 16.12.2005)

(2) Eine ausführliche Darstellung der Grundstrukturen Sozialer Dienste in der BRD und der daraus abgeleiteten subsidiären Beziehungen zwischen Staat und Verbänden findet sich bei Liebig (2005)

(3) Die hier präsentierten Daten beruhen auf einer Sonderauswertung der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung der Bundesarbeitsagentur für die Berufsgruppe SozialarbeiterIn/SozialpädagogIn. Da für diese Berufsgruppe keine eigene Statistik bislang existiert, wurde das Merkmal FH-Abschluss zu der dreistelligen Berufskennzahl hinzugenommen. Trotzdem sind in dieser Statistik in geringem Umfang noch andere Berufsgruppen (wie z.B. HeimerzieherIn) erfasst.

(4) Quelle: "III. Quartal 2005: Aktuelle Entwicklungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung", S. 9 und Tabelle 7 (www.minijob-zentrale.de externer Link)

(5) Vgl. Rogg 2005, S. 25.

(6) Durch diese Einführung von Tarifkorridoren für "Niedriglohngruppen" wurde bei ungelernten Kräften in den Bereichen des Reinigungsdienstes, der Hauswirtschaft, der Küchen usw. das alte Lohnniveau teilweise bis zu 30% abgesenkt.

(7) Rundschreiben AR Nr. 3/2005 Arbeits- und Steuerrecht (vom 15.05.2005)


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