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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Verdienste der IG BCE Chemieindustrie in der Krise – ein kleiner Branchenbericht Eine Branche wie die Chemieindustrie, deren Produkte sich in nahezu jedem gängigen Produkt aller anderen Industriezweige wiederfinden (vom Auto bis zur Abführpille, von der Bauindustrie bis zur Babywindel), wird in mindestens demselben Umfang wie die Abnehmerindustrien von der kapitalistischen Krise getroffen sein. Deutliche Unterschiede sind natürlich durchaus zu erkennen: Die geringsten Auswirkungen gibt es derzeit in der Pharmaindustrie. Dort kommen Krisen immer verzögert an, auch weil die teilweise Finanzierung über das öffentliche Gesundheitswesen zunächst marktstabilisierend wirkt. Viel Geld wird derzeit auch immer noch mit Pestiziden verdient. Das wird aber nicht mehr lange anhalten, denn sinkende Nahrungsmittelpreise und billiges Rohöl, das Agrotreibstoffe wieder uninteressanter macht, sind die Vorboten der Krise in der Landwirtschaft. Und wenn der Landwirt weltweit kein Geld mehr verdient, kauft er keine Pestizide und keine Düngemittel mehr. Am schlimmsten betroffen sind diejenigen Bereiche der Chemieindustrie, die direkt der Autoindustrie, der kapitalistischen Leitindustrie, zuliefern: Man spricht davon, dass allein 250000 Arbeitsplätze im Bereich der IG BCE der Autoindustrie zuliefern. 15 Prozent des weltweiten Umsatzes des Branchenführers BASF wird mit der Autoindustrie gemacht. Entsprechend katastrophal ist jetzt die Auftragslage, die Produktionsbetriebe sind in Kurzarbeit oder stehen davor. Eine kleine Übersicht über den Organisationsbereich der IG BCE: Glas: Glas für Solaranlagen boomt, in allen anderen Bereichen geht der Umsatz zurück. Verbreitet wird kurz gearbeitet. Kostensenkungsprogramme werden aufgelegt, Neubauprojekte gestoppt. Bei Flachglas hofft man auf Impulse aus dem Konjunkturprogramm. Chemie: Hier ist seit dem vierten Quartal 2008 ein Einbruch zu verzeichnen. Der Verband der Chemischen Industrie sieht die Talsohle noch nicht erreicht. Investitionen sind stark gekürzt worden, verbreitet wird kurz gearbeitet. Die Auslastung liegt derzeit kaum über 50 Prozent. Papier: In vielen Papierfabriken besteht Kurzarbeit zwischen 15 und 35 Prozent. Die Branche leidet schon länger unter Überkapazitäten. Die Unternehmen reagieren weltweit mit Werksschließungen oder mit Stillstand einzelner Papiermaschinen. Kunststoff: Besonders die Autozulieferer stehen hier im Minus, neben Kurzarbeit drohen erste Insolvenzen. Bei der Chemiefaserindustrie gibt es erste Standortschließungen, Überkapazitäten bestehen allerdings schon seit Längerem. Bei der Lederindustrie herrscht in Gerbereien Kurzarbeit, oder es kam zu ersten Schließungen aufgrund der Einbrüche bei der Ledernachfrage für die Möbel- und Autoindustrie. Keramik: Strukturprobleme hatte die mittelständisch geprägte Keramikindustrie schon vor der Krise, diese spitzen sich jetzt zu. Der Beschäftigungsabbau hält an, trotz Kurzarbeit gibt es Insolvenzen und Werksschließungen. Kautschuk: Die Kautschukverarbeiter fahren fast alle Kurzarbeit: 80 Prozent ihrer Produkte gehen in die Autoindustrie. Trotz Abwrackprämie ist die Gesamtproduktion wegen Verlusten auf den Exportmärkten eingebrochen. Allein im Februar sanken die Exporte um 51 Prozent. »Dass in der deutschen Chemieindustrie bisher noch kein Arbeitsplatz abgebaut worden ist, sei auch das Verdienst der IG BCE«, wird Hubertus Schmoldt, IG BCE-Vorsitzender, im Chemiekurier Ludwigshafen vom April 2009 zitiert. Den Befristeten, deren Verträge nicht verlängert werden, und den von ihren Firmen bereits entlassenen Leasing-Mitarbeitern muss das wie Hohn in den Ohren klingen. Da sind sie nämlich wieder: Leiharbeiter und Befristete, die allerersten Opfer der Krise, die es nicht einmal wert sind, in der Gewerkschaftszeitung und in den Reden der Vorsitzenden erwähnt zu werden. Und was meint Schmoldt überhaupt, wenn er von Verdiensten der IG BCE in diesem Zusammenhang spricht? Öffnungsklauseln in Tarifverträgen der IG BCE ermöglichen es, die Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich zu reduzieren, im Regelfall bis auf 35 Stunden pro Woche. Möglich ist aber auch die Nutzung einer Öffnungsklausel, mit der die Löhne reduziert werden können – und eine Kombination dieser beiden Varianten. Solche Klauseln hatten bisher nur eine untergeordnete Bedeutung, werden aber jetzt in der Krise interessanter. Trotzdem ist zu beobachten, dass die Unternehmen überwiegend ihre Belegschaften in Kurzarbeit schicken, statt auf solche Klauseln zurück zu greifen. Dazu eine kurze Übersicht:
Dass man bislang relativ problemlos Zehntausende Beschäftigte in Kurzarbeit schicken konnte, liegt im Bereich der Chemie, ähnlich wie bei Metall, an tarifvertraglichen Vereinbarungen, die das Kurzarbeitergeld des Arbeitsamtes aufstocken. Im Chemiebereich wird aufgestockt auf 90 Prozent des normalen Nettolohnes, aus steuerlichen Gründen kommen die MitarbeiterInnen auf etwa 85–88 Prozent ihres vorherigen Verdienstes. Es mehren sich die Stimmen aus den Kapitalistenverbänden, die genau diese Aufstockung angreifen, weil sie ihnen zu teuer ist. Damit wird das öffentlich subventionierte, sozialpartnerschaftliche Krisenlösungsmodell, mit dem die Folgen der Krise für die (noch) Beschäftigten bislang abgemildert wurden, in Frage gestellt. Welche Firma hält durch ... Beobachter gehen davon aus, dass – wie bei allen kapitalistischen Krisen – Firmen auf der Strecke bleiben werden. Dies betrifft insbesondere neu ausgegründete oder neu fusionierte Unternehmen mit hohen Schulden. Dass das so ist, wissen die Firmen selbst auch. Man traut sich deshalb untereinander nicht mehr über den Weg, weil man nicht weiß, ob die heute gelieferte Ware morgen noch bezahlt wird. Jeden Tag können auch im Bereich der Großchemie Firmen in die Insolvenz gehen. Nichts ist mehr auszuschließen. Der nach Dow Chemical und BASF drittgrößte Chemiekonzern der Welt, LyondellBasell, eine Neufusion mit hohen Schulden, hat bereits Gläubigerschutz nach amerikanischem Recht beantragt. Ein Kostensenkungsprogramm soll Entlastung bringen: Weltweit sind 3000 Entlassungen geplant, 20 Verwaltungs- und Forschungseinheiten werden geschlossen.
... was kommt nach der Kurzarbeit? Laut einer Umfrage unter baden-württembergischen Chemieunternehmen im März 2009 hatte ein Drittel der Unternehmen bereits Kurzarbeit eingeführt. Mit Öffnungsklauseln und Kurzarbeit könne man die Zeit bis Ende des Jahres 2009 noch überbrücken, doch danach ließen sich Entlassungen nicht mehr vermeiden. Der bisherige Krisenverlauf hat gezeigt, dass die negativen Prognosen immer noch schneller als vorhergesagt eingetreten sind. Auch die angedeutete Entlassungswelle im Falle weiterhin ausbleibender Aufträge wird vielleicht nicht bis zum Jahresende auf sich warten lassen. Die Unternehmen werden aber auf jeden Fall versuchen, sie hinter die Bundestagswahl zu schieben. ... und was macht die IG BCE? Unterdessen glaubt die IG BCE: »Es geht auch ohne Entlassungen!« Gemeinsam mit Betriebsräten hat sie auf einer Tagung im März einen Forderungskatalog zur Überwindung der Wirtschafts- und Finanzkrise verabschiedet. Der enthält vor allem Appelle an die »Entscheidungsträger in den Unternehmen« und die »neue Bundesregierung« (Forderungskatalog der IG BCE vom 23. März 2009). Getreu ihrer Krisendiagnose, dass es die »Missachtung der Prinzipien sozialer Marktwirtschaft und die rücksichtslose Renditejagd« gewesen seien, die »zunächst die Banken und Finanzmarktkrise« ausgelöst und anschließend »den konjunkturellen Abschwung zum Absturz« hätten werden lassen, fordert sie »die Erneuerung eines Konsenses in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, der alle Akteure auf verantwortliches Handeln in der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet«. Mit »Langfrist- statt Kurzfristorientierung« und »verantwortlichem Handeln statt egoistischem Interesse« beschwört sie die heile Welt des marktwirtschaftlichen »Ausgleichs ökonomischer, sozialer und ökologischer Belange«, um so dem »tiefen Vertrauensverlust ... in unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu begegnen«. Dass es dazu durchaus Grund geben könnte und dass es sich bei dieser Krise nicht nur um eine verlängerte und vertiefte ›konjunkturelle Delle‹ handelt, wird höchstens zwischen den Zeilen deutlich, wenn die IG BCE die Automobilunternehmen zu einer »neuen Partnerschaft zwischen Herstellern und Zulieferern« auffordert, statt »die eigenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf Kosten der Zulieferer zu lösen« und diese einem »erpresserischen Kostendruck auszusetzen«. Selbst wenn der Eindruck, den die IG BCE mit diesem Versuch, der Autoindustrie den schwarzen Peter für die Situation der Beschäftigten in den Zulieferunternehmen der Chemiebranche zuzuschieben, vermittelt, stimmen würde: Es ist kaum anzunehmen, dass es eine Frage des guten Willens ist, ob die Autokonzerne folgendem Appell nachkommen: »... sind die Hersteller aufgefordert, ihre Partner gegebenenfalls auch finanziell zu unterstützen, so dass diese die gegenwärtige Nachfrageschwäche überstehen können«. Es muss der Branche wirklich schlecht gehen, wenn die BCE ausgerechnet in Zeiten der Krise auf die wechselseitige Hilfe im Haifischbecken setzt, wo ihr die Wettbewerbsfähigkeit sonst heiligstes Prinzip ist. Friedrich Wöhler Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/09 |