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Updated: 18.12.2012 15:51
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Tarifpolitik der zwei Geschwindigkeiten

Friedrich Wöhler* zur Tarifrunde Chemie 2007

Das Tarifergebnis vorweg: Mit einer Laufzeit von jeweils dreizehn Monaten werden die Tarifentgelte um 3,6 Prozent erhöht, beginnend je nach Laufzeit der regionalen Tarifverträge meistens ab Februar 2007. Ein 14. Monat, der Januar 2007, wird pauschal mit 70 Euro abgegolten. Zusätzlich gibt es eine Einmalzahlung von 9,8 Prozent eines Monatsgehalts für Normalschicht-Beschäftigte, 10,9 Prozent für die Teilkonti-Schicht (nicht durchlaufender Schichtbetrieb) und 12,8 Prozent für Vollkonti-Schichtler (24 Stunden und am Wochenende durchlaufender Schichtbetrieb). Die prozentuale Anbindung der Einmalzahlung an das Monatsgehalt führt dazu, dass höhere Entgeltgruppen auch eine höhere Einmalzahlung erhalten. Mittels freiwilliger Betriebsvereinbarung kann eine Kürzung oder der Entfall der Einmalzahlung aus wirtschaftlichen Gründen vereinbart werden. Der bis 2010 verlängerte Tarifvertrag »Zukunft durch Ausbildung« garantiert, dass auch in 2007 und 2008 branchenweit wie bisher 16800 Ausbildungsplätze angeboten werden. Für 2009 und 2010 konnte man sich noch nicht auf eine Festlegung von Ausbildungsplatzzahlen einigen, das soll in den Tarifrunden der nächsten Jahre erst noch verhandelt werden. Immerhin war es mit diesem Tarifvertrag gelungen, die Anzahl der Ausbildungsplätze in den letzten Jahren allmählich wieder zu erhöhen und jetzt das erreichte Niveau zumindest zu halten. Für 2009 und 2010 hat man jetzt also einen Tarifvertrag, aber man weiß noch nicht, was drinstehen wird. Der bereits bestehende Tarifvertrag zu »Langzeitkonten« wurde nochmals modifiziert. Bisher konnte der einzelne Beschäftigte bei Bestehen einer Betriebsvereinbarung auf freiwilliger Basis Zeitguthaben sowie Zulagen und Zuschläge ins Langzeitkonto einbringen. Zukünftig kann er auch bis zu zehn Prozent des kalenderjährlichen Tarifentgelts einbringen, um sich so individuell einen früheren Alters-ausstieg selbst vorzufinanzieren.

Die Struktur dieses Tarifergebnisses (geringere dauerhafte tarifwirksame Erhöhung, prozentuale Einmalzahlung mit Ausstiegsmöglichkeit aus wirtschaftlichen Gründen) wurde 2005 erstmals gefunden und scheint sich zu verfestigen. Damit verfestigt sich auch eine »Tarifpolitik der zwei Geschwindigkeiten«, weil nicht mehr für alle gleichermaßen gilt: »Tarif ist Sicherheit«. Für manche gilt dann nämlich: Ich bekomme die tarifvertragliche Einmalzahlung nur dann, wenn sich mein Betriebsrat nicht an die Wand drücken lässt. Diese Form der Tarifpolitik mit Einmalzahlungen (von der Gewerkschaft als »Konjunkturbonus« bezeichnet) wird auch an der Basis kritisch gesehen, weil die Kolleginnen und Kollegen natürlich ein Interesse an einer hohen, aber auch dauerhaften Gehaltssteigerung haben. Der kundige express-Leser braucht nicht agitiert zu werden, wie problematisch es ist, wenn tarifvertragliche Zahlungen vereinbart werden, deren Auszahlung dann aber von der wirtschaftlichen Lage und dem betrieblichen Kräfteverhältnis des Einzelbetriebs abhängen. Auch das ist eine Form der »Flexibilisierung«, genauer: der Durchlöcherung des Flächentarifvertrags.

Tarifrunde nicht so langweilig wie oft

Selbst gewöhnlich als langweilig geltende Tarifrunden wie die Tarifrunde Chemie genießen bei den Gewerkschaftsmitgliedern plötzlich neue Aufmerksamkeit, wenn sie – wie diesmal – in eine Phase eines eindeutigen wirtschaftlichen Booms und sprudelnder Gewinne fallen und in den Betrieben nicht mehr nur und ausschließlich über Personalabbau gesprochen wird. Plötzlich keimt die Hoffnung auf, dass es vielleicht wirklich mal wieder um eine Reallohnerhöhung gehen könnte.

In der Phase der Aufstellung der Forderung verging kein Tag, an dem nicht irgendein profilierungssüchtiger Politiker meinte, eigentlich müssten jetzt die Löhne wieder mal steigen. Aufmerksame Kollegen nannten dies Heuchelei: Diese Politiker machen uns Mut in der Lohnfrage, um uns das Erreichte über die Mehrwertsteuererhöhung wieder abzunehmen und über die Unternehmenssteuerreform den Unternehmen wieder zuzuschustern. Und doch haben solche Politiker-Äußerungen Erwartungen geweckt. Am Ende mussten dann auch verschiedene Landesbezirke eine Forderung von 6,5 Prozent aufstellen, obwohl doch die Gewerkschaftsspitze am liebsten ohne Festlegung auf eine konkret bezifferte Forderung in die Verhandlungen gegangen wären.

Die Unternehmerseite hatte in den Verhandlungen ein echtes argumentatives Problem: Die berühmten Klein- und Mittelbetriebe, denen es wirtschaftlich dreckig geht, die keine Lohnerhöhung verkraften und auf die man Rücksicht nehmen muss, fanden sich nicht. Alle sind im Boom, alle verdienen gut. So musste man sich argumentativ auf schlechte Konjunkturprognosen stützen. Aber auch die zerrannen beim Blick in die Wirtschaftspresse.

Dass es dann doch nicht alles so reibungslos verlief, hat eigentlich alle überrascht. Bei der ersten Bundesverhandlung nach den ganzen regionalen Verhandlungsrunden, die nur noch den Anschein regionaler Tarifpolitik aufrecht erhalten, kam es plötzlich zu scharfen Tönen. Unverhofft wagten sich die Hardliner des Unternehmerlagers aus der Deckung, heftige Spannungen zwischen Großchemie und chemischer Abnehmerindustrie wurden sichtbar. Die Politik der tariflichen Öffnungsklauseln wurde infrage gestellt: Die Öffnungsklauseln für den Fall der wirtschaftlichen Notlage seien keine dauerhafte Lösung. Dauerhaft könnten die Löhne einfach nicht mehr so hoch bleiben wie jetzt.

Unverhofft kommt oft

Plötzlich musste die IG BCE doch mobilisieren – und das ist immer die Stunde der Wahrheit für eine Gewerkschaft. In Ludwigshafen gelang es, in wenigen Tagen 10000 Leute (oder sagen wir mal: 8000) zur Kundgebung zu holen – nach Feierabend, wohlgemerkt. Über die Beteiligung an anderen Orten hat man nicht viel erfahren, und das ist kein gutes Zeichen. Die Mobilisierungsfähigkeit dieser Gewerkschaft beschränkt sich immer mehr auf einzelne, wenige Betriebe.

Der Abschluss wird zumindest von den Ludwigshafenern mitgetragen. Kritik gibt es allenfalls an der Einmalzahlung. Man lässt sich das heute nicht mehr so einfach verkaufen nach dem Motto: »Eigentlich haben wir ja die Vier erreicht«. Doch was alle stolz macht: »Wir haben mal wieder gezeigt, dass wir noch da sind, und dass wir viele sind«. Insofern hat zumindest dort diese Tarifrunde die Bindung der Gewerkschaft zu ihren Mitgliedern gestärkt, und die Gewerkschaft ist im Ansehen gestiegen.

Langzeitkonto – eine Antwort auf die Rente mit 67?

Die IG BCE hat von vorne herein deutlich gemacht, dass sie nicht gegen das Gesetzesvorhaben Rente mit 67 mobilisieren wird. Das war ein wichtiger Beitrag, der Großen Koalition in dieser Frage den Rücken freizuhalten und das Gesetz beschließen zu können. Neben anderen Forderungen der IG BCE soll der 2005 vereinbarte Tarifvertrag Langzeitkonten die Antwort auf die Rente mit 67 sein. Auch hier treffen wir auf eine Verbetrieblichung der Tarifpolitik, denn der Tarifvertrag kommt nur zur Anwendung, wenn die Betriebsparteien dazu eine Betriebsvereinbarung abschließen. Nur in wenigen Betrieben ist dieser Tarifvertrag bisher umgesetzt. Seine Umsetzung beinhaltet eine Individualisierung der Frage, wann man die Arbeit beenden kann. Durch das Einbringen von Zeit und Geld in einen kapitalmarktverzinsten Fonds soll sich der Beschäftigte ein Guthaben ansparen können, das er im Rahmen eines vorgezogenen Altersausstiegs vor Beginn der gesetzlichen Rente abfeiern kann. Vereinfacht gesagt: In den jungen, leistungsfähigen Jahren hinkloppen, Überstunden machen und Geld einzahlen, bei vielleicht nachlassender Leistungsfähigkeit im Alter abfeiern. Dort, wo es diese Modelle heute gibt, finden sie wenig Anklang. Aber wirksame kollektive Alternativen dazu scheinen nach der Niederlage bei der Frage Rente mit 67 erst mal weit entfernt.

Stehen wir vor einem bundesweiten Servicetarifvertrag?

Wie schlüssig ist das gewerkschaftliche Motto »Tarif ist Sicherheit«, wenn man die augenblickliche weitere Zerlegung eines Bayer-Konzerns mit so genannten »Servicetarifverträgen« auffangen will? (Vgl. express 11/06) Servicetarifverträge, die dann gelten sollen für Betriebe und ausgegliederte Unternehmensteile, die der Unternehmer als Dienstleister für die eigentliche chemische Produktion definiert. Und die dann die Arbeitsbedingungen verschlechtern werden, weil der Unternehmer darauf verweist, dass er diese Dienstleistungen auf dem Markt der Dienstleister (z.B. Logistik, Instandhaltung, Catering) ja viel billiger haben könnte. Bei Bayer wurde öffentlich erklärt, dass man darüber die Verhandlungen aufgenommen habe. Diese laufen jedoch seither als Geheimverhandlungen, kein Wort dringt nach draußen.

Dabei geht es jedoch nicht nur um Bayer. Mit Ausnahme des Standorts Ludwigshafen der BASF gibt es die klassischen Großchemie-Standorte heute nicht mehr. Heute beherrschen die Chemie- oder Industrieparks das Bild. Man schätzt, dass heute 40 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in Chemie- oder Industrieparks arbeiten, deren Einzelunternehmen vom Flächentarifvertrag Chemie wegdriften, sofern sie überhaupt tarifgebunden sind. Auch hier gibt es Pläne, diese Entwicklung tarifpolitisch mit einer Art Servicetarifvertrag wieder einzufangen. Nach dem Motto: Auch wenn Verschlechterungen damit tarifpolitisch abgesegnet werden – Hauptsache, wir behalten die tarifpolitische Zuständigkeit. Mit einer solchen Politik wird man keine gewerkschaftspolitische Erosion stoppen können. Denn ein Betroffener wird mit einfacher, aber überzeugender Logik schlussfolgern: Um hinterher weniger zu verdienen und länger zu arbeiten, brauche ich keinen Gewerkschaftsbeitrag zu bezahlen.

Anm. d. Red.: Friedrich Wöhler ist verantwortlich für die Entwicklung des doppelseitigen Buchdrucks, der »Radikalen«-Theorie (gemeinsam mit Justus Liebig) und die Widerlegung der vitalistischen Annahme einer transzendenten »Lebenskraft«. Er hat u.a. gezeigt, dass auch aus unbelebter Materie »Leben« erzeugt werden kann.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3-4/07


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