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Updated: 18.12.2012 15:51
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Erst alleingelassen - dann die Beerdigung!

Ein Leichenzug verließ am Donnerstag das Hauptwerk des Schleifmittel-Herstellers Hermes in Hamburg-Lurup. Es waren etwa 60 KollegInnen in ihren Arbeitskitteln mit blauem T-Shirt mit Aufdruck "Hermes" und etliche Büroangestellte. Vorweg ging eine junge, zierliche Kollegin mit einem Kreuz mit der Inschrift: "230 Arbeitsplätze. Von 1927 - 2009." Neben ihr ein großer Kollege in einer schwarzen Kutte, wie ein Mönch und eine Kollegin mit einer Grabstein-Imitation mit der Aufschrift: Hermes geboren 1927 gestorben 2009. Nur zwei große selbstgemachte Transparente sind zu sehen, die die Stimmung sehr gut widergeben: "80 Jahre Hermes-Duft - jetzt mit Arschtritt an die Luft". Und: "Wir sind Hermes". Das nützt aber nichts, daß sie sich als Hermes fühlen, der Betrieb soll dicht gemacht werden. Die Aufräge können in Österreich, Polen und in den USA erledigt werden. Die DemonstrantInnen, Durchschittsalter etwa 40 Jahre, erwarten keine Abfindung, die Firma sei praktisch pleite. Das steht aber im Widerspruch, daß sie in drei Schichten arbeiten müssen und KollegInnen aus dem Urlaub geholt werden. Von der IG BCE ist niemand da, auch keine Gewerkschaftsfahne zu sehen.

Der Zug geht zum Luruper Platz, wo heute Markt ist. Obwohl es erst 12 Uhr ist, räumen einige Händler ihre Stände schon ab, es gibt mehr Verkäufer als Kunden auf dem Marktplatz. Viele leerstehende Pavillons und Geschäfte. Passend vor einem Bestattungsinstitut und einer Drogenberatungsstelle ein kleiner Zwischenhalt. Ein trister und öder Platz, bald wird es noch trister, wenn Hermes, noch einer der größten Arbeitgeber vor Ort, auch weg sein wird. Ein Polizist mit seinem Motorrad hält den kleinen Zug in der Einkaufspassage auf und fragt: Wer ist hier verantwortlich? Antwort: Wir alle. "Ist das eine angemeldete Demonstration"? Nein, wir gehen hier nur auf dem Bürgersteig, stören niemanden. Der Polizist: "Seid ihr alle von Hermes"? Anwort: Ja. Damit gibt sich der Polizist zufrieden. Von wem mag er so schnell geschickt worden sein?

Der BR-Vorsitzende steigt auf die Ladefläche eines Lastwagens und hält eine ganz kurze Rede. Er spricht von einem "schweren Verlust". "Wir verneigen uns vor unseren verlorenen Arbeitsplätzen, unser Schmerz soll an die rankommen, die dafür verantwortlich sind". Er nimmt die Mütze ab, legt die Hand aufs Herz und senkt den Kopf. Alle Gesichter sind ernst - wie bei einer Beerdigung. Dann ziehen sie weiter, in Richtung Werkstor, die Mittagspause ist gleich zu Ende. Ein Ladenbesitzer fragt neugierig: Ist ein Kollege gestorben? Die Angesprochenen: Nein, unser Betrieb.

Wir wollen Auskünfte vom BR-Vorsitzenden, der winkt aber ab: Wende Dich an die Geschäftsleitung (sic!). Im Februar war im Hamburger Abendblatt ein Artikel über die Situation bei Hermes erschienen: "Hermes Schleifmittel: Drohen Entlassungen?" ( 21.2.09) Seitdem herrscht Informations-Stille, die Informanten haben Auskunftsverbot erhalten, auch von der IG BCE?!

Gesprächsfetzen am Rande:

  • Wer soll denn die Rente erwirtschaften, wenn unsere Arbeitsplätze vernichtet werden und in Polen und Österreich für hier mitproduziert wird?
  • Kriegen wir die Rente dann von der EU?
  • Wir erwirtschaften praktisch unser eigenes Grab, wir produzieren auf Halde - bis dann Schluß ist.
  • Abfindungen? Wir sind froh, wenn unser Lohn für die nächste Zeit bezahlt wird.
  • Eigentlich müsste man mehr machen.
  • Die Franzosen hätten schon Gasflaschen auf dem Dach, aber hier in Deutschland haben wir ja eine andere Tradition.
  • Wo ist die Gewerkschaft? Das möchte ich mal wissen.

Die Belegschaft ist unruhig, weil sie nichts erfährt. Gewerkschaft und Betriebsrat verhandeln mit der Geschäftsleitung über die Zahl der zu Entlassenen und die Namen derjenigen, die den „Arschtritt“ bekommen sollen, die Belegschaft erfährt nichts.

Mir geht durch den Kopf: Was wäre gewesen, wenn ein Kollege oder eine Kollegin auf die Ladefläche gesprungen wäre und gesagt hätte: “Zu trauern und sich beerdigen zu lassen reicht nicht. Ich bin sauer. Ich habe die Schnauze voll. Wir müssen etwas tun. Sollen die doch ihren Schlamassel selbst ausbaden. Wir haben keine Schuld daran. Wir wollen unser Recht auf Geld. Also wenn schon die Pleite, dann her mit `ner satten Abfindung für uns!“

Außer im Hauptwerk in Lurup wird in Deutschland in Uetersen und Schenefeld (Schleswig-Holstein) und in Dresden produziert. Unter Firmenprofil steht im internet: "Mitarbeiter Inland: 750. Weltweit: 1490". In dem Abendblattartikel vom Februar hatte der BR-Vorsitzende Ingo Meier aufgezählt, was für Zugeständnisse die Belegschaft seit sechs Jahren gemacht hatte: Verzicht auf das 13. Monatsgehalt und die tarifliche Jahresleistung, 40 Stunden arbeiten statt 37.5 ohne Lohnausgleich. Die IG BCE-Sekretärin Christine Köppel hatte resümiert: "Wir sind von unserem Sozialpartner schwer enttäuscht".

Die Belegschaft war schon am Tag zuvor mit einem Trauerzug rausgegangen. Wenn ein kollektives Gefühl zu erspüren ist, dann sind es Wut, Ohnmacht und Trauer. Der praktische Ausdruck ist dann, zusammen auf die Straße zu gehen und diese Gefühle zu zeigen. Aber außer den paar zufälligen Passanten merkt keiner was von ihrem Protest. Nicht mal Flugblätter zur Information über die Situation bei Schleifmittel Hermes gibt es. Die Autofahrer kriegen sowieso nicht mit, wer da auf dem Bürgersteig demonstriert. Montag wollen sie ihre Aktion wiederholen. Beschäftigte aus den Produktionsstätten in Schenefeld und Uetersen waren nicht anwesend, erst recht nicht aus Dresden. Ob sie überhaupt etwas von diesen Aktionen wissen?

Die Demonstrierenden verharren fünf Minuten am Eingang der Fabrik, als zögerten sie wieder reinzugehen. Sie stehen neben einem Schaukasten, den sie wahrscheinlich gar nicht mehr wahrnehmen. In dem Aushang steht was von "Zukunftsfähiger Lebensraum Stadt". "Hermes Schleifmittel GmbH & Co. KG. Vom Schmirgelwerk zum Weltunternehmen...Im Stadtteil zählt Hermes zu den größten Arbeitgebern und ist fest im Bewußtsein von Arbeitnehmern und Bevölkerung verankert. Die Tradition und soziale Verantwortung des Unternehmens werden durch lange Betriebszugehörigkeiten und Mitarbeiter, die bereits in der dritten Familiengeneration in dem Werk beschäftigt sind, bestätigt." Ob die KollegInnen, falls sie das lesen würden, wirklich die "soziale Verantwortung des Unternehmens" bestätigen würden!? Wohl nicht, denn heute haben sie auf ihrem großen Transparent dem Unternehmen nur den Arschtritt bestätigt, den sie erhalten haben.

Wenn keine KollegInnengruppe und keine Gewerkschaft die vorhandene Wut und Trauer in Aktion und Widerstand ummünzen - dann organisiert sich ein Leichenzug. Aber sogar ein Leichenzug kann die Geburt von was Neuem sein, zu weiterem eigenständigen und praktischen Handeln...

Vielleicht spiegelt der Trauerzug von Lurup viel realistischer wider, was in den Betrieben passiert, als die wenigen Fälle, wo sich die Belegsschaften gewehrt haben und manchmal noch Zugeständnisse herausholten? Vielleicht ist der Trauerzug von Lurup ein Vorgeschmack darauf, was auf uns zukommt, wenn die Abwrackprämie ausgelaufen ist und auch das Kurzarbeitergeld und tausende Firmen in Deutschland pleite gehen? Und wir erleben, wie aus Trauer und Ohnmacht Wut und Widerstand wird!

Dieter Wegner (Jour Fixe Gewerkschafslinke Hamburg), 16.7.09


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