letzte Änderung am 10.05.2002

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Das schiedlich-friedliche Jahrhundertwerk

Jürgen Kädtler zum Entgelttarifvertrag Chemie

 

Flexibilisierte Produktionskonzepte, neue Tätigkeitsfelder und Qualifikationsanforderungen lassen die in unterschiedlichen Leistungs- und Entlohnungsregelungen sowie Eingruppierungskatalogen fixierten, tradierten »Statusunterschiede« von ArbeiterInnen und Angestellten endgültig überkommen erscheinen. Seit Jahren steht daher für die IG Metall das, was die IG Chemie schon längst hinter sich hat, eine »Reform« des Entgeltrahmens durch die Angleichung von ArbeiterInnen- und Angestelltenregelungen, auf dem Programm. Während sich die Gewerkschaft dabei vor allem mehr »Leistungsgerechtigkeit« durch eine Honorierung neuer bzw. gestiegener Qualifikationsanforderungen erhofft, war für die Unternehmensvertreter während der vergangenen Jahre eines klar: Die anstehende Revision der Eingruppierungsmerkmale, Tätigkeitsbeschreibungen, Richtbeispiele etc. im Rahmen einer einheitlichen Eingruppierungsstruktur für ArbeiterInnen und Angestellte darf zwar gerne zu mehr Transparenz, geringerem Verwaltungsaufwand und funktionaleren, weil leistungsgerechteren Binnendifferenzierungen in der Eingruppierung führen, sie darf jedoch keine neuen Flexibilitätshemmnisse produzieren und in der Summe nicht mehr kosten.
Vor dem Hintergrund der Verhandlungen um ein neues Entgeltrahmenabkommen (ERA) in der aktuellen Tarifrunde der IGM dokumentieren wir eine Analyse des einheitlichen Entgeltrahmens, den die Chemie im Jahr 1987 abgeschlossen hat, von Jürgen Kädtler aus express 9/1987 sowie einen aktuellen Kommentar von Hans-Werner Krauss, 40 Jahre bei der Hoechst AG/Aventis Pharma beschäftigt, zu den Erfahrungen mit jenem »Jahrhundertwerk«.

 

Nach fast dreitägigen Schlichtungsverhandlungen ist am 18. Juli mit einem einstimmig gefällten Schiedsspruch das von der IG Chemie-Papier-Keramik seit mehr als sechs Jahren verfolgte Projekt eines Entgelt-tarifvertrages (ETV) für die chemische und kunststoffverarbeitende Industrie zum vorläufigen Abschluss ge-bracht worden, flankiert von einem bescheidenen Einstieg in die Wochenarbeitszeitverkürzung und der Festlegung der Lohn- und Gehaltsentwicklung bis 1990. In den Stellungnahmen der Tarifparteien wie im weitaus überwiegenden Teil des öffentlichen Echos stehen der epochale Gleichstellungsaspekt dieses »Jahrhundertvertrags« und die sachliche Art seines Zustandekommens im Vordergrund: die Zusammenlegung vergleichbarer Lohn- und Gehaltsgruppen und die damit verbundene Aufhebung allein statusbedingter Ungleichbezahlung von Arbeiterlnnen und Angestellten; und die Verwirklichung dieses Ziels auf schiedlich-friedlichem Wege, die Bewährung der gewohnten kooperativen Chemie-Tarifpolitik an einer Jahrhundertaufgabe. (...)

Erklärtes und – glaubt man den offiziellen Stellungnahmen der IG CPK – nunmehr auch erreichtes Ziel des Jahrhundertprojekts »Entgelttarifvertrag« war die Verwirklichung von mehr Einkommensgerechtigkeit durch die Abschaffung der Ungleichbehandlung von Angestellten und Arbeitern bei der Bezahlung. Um die Berechtigung dieses Anspruchs beurteilen und die Auswirkungen des neuen Vertragswerkes abschätzen zu können, sollen hier zunächst die alte und die absehbare neue Tarifsituation einander gegenübergestellt werden.

Das Programm: Ungleichheit – aber leistungsgerecht

 

Nach den bislang noch gültigen Lohn- und Gehaltsgruppenverträgen erfolgt die Bezahlung nach fünf bis sieben Lohngruppen für Arbeiter und Arbeiterinnen, nach jeweils fünf bis acht Gehaltsgruppen für kaufmännische (K) und technische (T) Angestellte und vier oder fünf Gehaltsgruppen für Meister (M).[1] Nimmt man die Lohn- und Gehaltsstaffeln zunächst einmal für sich, so lassen sie sich folgendermaßen charakterisieren:

Diese beiden Einkommensungerechtigkeiten galt es nach dem Willen der gewerkschaftlichen Tarifpolitiker zu beseitigen, und zwar dadurch, dass die jeweiligen L- und K-Gruppen an die entsprechende Gruppe herangeführt und mit ihr zu einer einheitlichen Entgeltgruppe zusammengefasst würden. Bereits dieses Programm beinhaltete ein reduziertes und gewerkschaftspolitisch höchst problematisches Verständnis von Einkommensgerechtigkeit. Dass die ungelernte Arbeiterin in L1 für ihre monotone und zermürbende Arbeit mit 2253 DM brutto abgespeist wird, ist in dieser Perspektive kein Problem mehr. Tangiert ist die Gerechtigkeit erst dort, wo der gelernte Facharbeiter oder Handwerker »nur« 400 und nicht 1200 DM mehr bekommt als sie, wie der entsprechende Techniker. Nicht Gleichheit, sondern »leistungsgerechte« Ungleichheit von Lebensmöglichkeiten ist hier zur Richtschnur gewerkschaftlicher Politik erhoben.

Das Ergebnis: Zwei neue Beschäftigungsklassen

 

Mit dem Entgeltgruppenkatalog des neuen ETV liegt nun in der Tat ein Eingruppierungsschema vor, das aufgrund summarischer Beschreibung von Tätigkeitsmerkmalen nach den erforderlichen Qualifikationen Arbeiter- und Angestelltentätigkeiten einheitlichen Entgeltgruppen zuordnet. Reine Statusunterschiede kommen damit als solche bei der Bezahlung nicht mehr zum Tragen, wenn auch immerhin die Frage aufgeworfen werden kann, ob nicht zum Teil durch die Rechtsbeispiele aus den verschiedenen Tätigkeitsbereichen, die zur Illustration der Gruppenbeschreibungen vereinbart worden sind, unter der Hand Ungleichbewertungen von Arbeiter- und Angestelltentätigkeiten beibehalten werden. So ist sicherlich nicht unmittelbar einsichtig, warum »Kompliziertes Fertigen, Zusammenbauen oder Installieren von Geräten, Maschinen und Anlageteilen (...)« nur für E1, »Selbständiges Erledigen von Routinekorrespondenz« dagegen für E9 ausreichen soll, was bei Wirksamwerden des Vertrages immerhin 1200 DM oder fast 50 Prozent ausmacht.

Abgesehen von dieser hier nicht weiter zu behandelnden Problematik lassen sich die mit der Einführung des neuen Entgeltvertrages im Sommer nächsten Jahres verbundenen Änderungen zusammengefasst folgendermaßen darstellen (...):

Die materiellen Auswirkungen dieser Operation:

Während innerhalb der Bereiche von E1 bis E8 eine erhebliche Besserstellung der gelernten und ggf. weiterqualifizierten Facharbeiter und Handwerker stattfindet, der Bereich insgesamt aber durch die drastische Absenkung der Angestelltengruppen nach unten zusammengeschoben wird, wird die Absetzung der Angestelltengruppen E9 bis E13 von diesem Unterbau mittelfristiges Strukturmerkmal der Einkommenstarifpolitik in diesem Bereich. Schließliche Folge: eine klare, durch einen breiten Graben markierte Trennung eines tariflichen Unter- von einem tariflichen Obergeschoss.

Zur Verdeutlichung: Während zwischen E1 und E8, jeweils Endstufe, 1989 knapp 1100 DM bzw. fast 50 Prozent liegen werden, wird der Abstand allein zwischen E8 und der nächst höheren T-Entgeldgruppe E9 noch einmal 860 DM betragen, was insofern nicht ohne Pikanterie ist, als nach dem ursprünglichen IG CPK-Konzept gerade die in E8 untergebrachte Lohngruppe L6 und die in E9 geführte T 4 auf dem Niveau der letzteren hatten zusammengeführt werden sollen. Es liegt auf der Hand, dass es sich hier nicht nur um einen besonders gravierenden Tarifsprung handelt, sondern – allem Gerede von größerer Durchlässigkeit zum Trotz – um die eindeutige Scheidung einer unteren von einer oberen Beschäftigtenklasse. So wird zum Beispiel der bislang nach einigen Jahren übliche Regelaufstieg von T3 nach T4 mit deren Überführung in E6/7 bzw. E9 mit Sicherheit der Vergangenheit angehören. An die Stelle der traditionellen Spaltung zwischen Arbeitern und Angestellten tritt damit eine sicherlich »modernere«, aber ebenso tiefe Spaltung zwischen Un-, Angelernten und Inhabern normaler Lehrabschlüsse, seien sie nun Arbeiter oder Angestellte, auf der einen Seite, und den Angestellten mit formal höherer Ausbildung bzw. Spezialqualifikationen auf der anderen Seite. Dass dabei die kleineren und die mittleren Angestellten die Höherstufung der höheren kaufmännischen Angestellten und Meister, die un- und angelernten Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen die Aufbesserung der Facharbeiter und Handwerker (weniger: -innen) mitfinanzieren müssen, wirft ein nur zu bezeichnendes Licht auf die hier verwirklichte Vorstellung von Einkommensgerechtigkeit. Der Fortschritt fordert seine Opfer; und die liegen meistens unten.

Und die Praxis?

 

Auf die vielfältigen Probleme, die sich aus der Uneindeutigkeit, Interpretations- und Konkretisierungsbedürftigkeit tarifvertraglicher Regelungen ergeben, kann hier nicht eingegangen werden; der ETV bildet hier keine Ausnahme. Ebenso muss hier die Frage ausgespart bleiben, was mit den im Rahmen der alten Tarifbestimmungen ausgebildeten informellen betrieblichen Ein- und Höhergrupperierungssystemen geschieht, die mit der Einführung des neuen Tarifgitters ins Rutschen geraten (können). Angemerkt sei immerhin soviel: Es wird sicherlich – vor allem in der Großchemie – vielfach erst einmal gar keine Änderungen geben: Dort, wo tarifliche Höherstufungen stattfinden, wird oft ohnehin schon mehr gezahlt; der Effekt der Neuregelungen ist dort lediglich die tarifliche Absicherung eines größeren Teils des bisherigen Einkommensniveaus. Umgekehrt dort, wo Abstufungen anstehen würden, wie insbesondere bei den neueingestellten kaufmännischen und technischen Angestellten des unteren Beschäftigungssektors. Hier hängt es maßgeblich vom unternehmerischen Interesse ab, ob das gewerkschaftlicherseits zur Demontage preisgegebene Einkommensniveau erhalten bleibt. Wo ein solches Interesse nicht vorliegt, wird die betriebliche Interessenvertretung der Beschäftigteninteressen einen schweren Stand haben.


Kasten:

Gerechtigkeit war vor 15 Jahren das schwergewichtige Schlagwort der IG Chemie bei der Einführung des Bundesentgelttarifvertrages und ist es heute wieder bei den Verhandlungen der IG Metall. Es geht, wie bei allen Tarifverhandlungen, natürlich nicht um solche schwergewichtigen Schlagworte, sondern um Kräfteverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital, und diese werden unter marktwirtschaftlichen Bedingungen bekanntlich vorrangig bestimmt von der Situation am Arbeitsmarkt.

Allen Hoffnungen zum Trotz wurde das von der IG Chemie propagierte Gerechtigkeitsziel, die Durchlässigkeit und Aufstiegsmöglichkeit von Arbeiterqualifikationen in klassische Angestellteneingruppierungen, bis heute nicht erreicht. Umgekehrt: Eher gelang es den Arbeitgebern, eine negative Gerechtigkeit durch eine Angleichung nach unten herzustellen. In der Breite wurden immer mehr Angestellte in klassische Arbeitereingruppierungen integriert. HochschulabsolventInnen, die vor dem Inkrafttreten des Entgelttarifvertrags grundsätzlich außertariflich eingestellt wurden, werden jetzt tariflich eingruppiert. TechnikerInnen besetzen jetzt jene Eingruppierungen, die früher den LaborantInnen vorbehalten waren, und LaborantInnen oder qualifizierte kaufmännische Angestellte finden sich oft auf Dauer in Entgeltstufen wieder, die vorher qualifizierten ArbeiterInnen vorbehalten waren. Dies ist natürlich auch ein Verfahren, mit dem man Gerechtigkeit herstellen kann. Wie wenig Gerechtigkeitsziele über ein einheitliches Entgeltsystem erreicht werden können, zeigt die aktuell verbreitete Praxis bei der Anwerbung von am Arbeitsmarkt knappen hochqualifizierten ArbeiterInnen: Statt diesen höhere Eingruppierungen anzubieten, werden lieber Arbeitsmarktzulagen gezahlt.

Es ist gewerkschaftlicher Selbstbetrug, Ungerechtigkeiten, die man seit Jahrzehnten in jährlichen Lohn- und Gehaltstarifverhandlungen durch Prozentforderungen mitverursacht hat, durch nicht-praktizierbare Strukturtarifverträge korrigieren zu wollen. Der einzige Ausweg ist seit vielen Jahren bekannt: Festgeldforderungen müssen her, um ein Anwachsen der Schere zu verhindern, und die Arbeiterentgelte – nicht nur für die Hoch-qualifizierten – müssen überdurchschnittlich angehoben werden.

H.-W. Krauss, April 2002 


Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/02

 

1) Ich gehe im weiteren von der in der Mehrzahl der Tarifbezirke gültigen Einteilung in sechs Lohn- (L), je acht K- und T- sowie fünf M-Gehaltsgruppen aus und lege beim Vergleich der Gruppen die Sätze in Niedersachsen zugrunde; auf die M-Gruppen wird dabei nur am Rande eingegangen.

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