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Updated: 18.12.2012 15:51 |
NIEDERLANDE High-Tech-Gemüse Marijke Bijl, Mitarbeiterin des Unterstützungskomitees
für illegal Beschäftigte (OKIA), Den Haag
Die „gläserene Stadt“ Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Produktion noch ziemlich
vielfältig: von Gemüse über Beerenobst bis zu Trauben.
Erst nach dem Krieg ging man zu einer hochintensiven Bewirtschaftung und
gleichzeitigen Spezialisierung auf Tomaten, Paprika und Gurken über.
Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch die Entdeckung bedeutender
Gasvorkommen im Jahr 1959 im Norden des Landes, welche die Voraussetzungen
für den Gemüsebau unter Glas im grossen Massstab schuf. 1963
wurden die ersten mit Gas beheizten Treibhäuser aufgestellt. Seither
nimmt die Fläche ständig zu – 1996 waren ca. 12’200
ha Nutzfläche des Westlandes mit Glashäusern verbaut. Ursprünglich
besassen die Glashausunternehmer nur kleine Parzellen von ca. 1 ha. Aber
in den letzten Jahren sinkt die Zahl der Betriebe, während die durchschnittlich
bewirtschaftete Fläche zunimmt. Mit dem Ziel, den niederländischen
Gartenbau im weltweiten Wettbewerb noch leistungsfähiger zu machen,
fördert der Staat den Konzentrationsprozess. Blumen- und Gemüsebörsen Der Absatz war während sehr langer Zeit auf genossenschaftlicher Basis organisiert: Bereits im 19. Jahrhundert schlossen sich die Gärtnereien in örtlichen Vermarktungsvereinigungen zusammen, welche die Gemüseversteigerungen durchführten. Im Laufe der Zeit fusionierten diese Verkaufsgenossenschaften. Heute gibt es nur noch einige wenige – dafür umso grössere – wie z. B. die „Bloemenveiling Alsmeer“ („Blumenbörse Alsmeer“), mit 5’000 Glashausbetrieben als Teilhabern. Stattliche 75 ha umfasst das Grundstück, auf welchem deren Lager-, Verarbeitungs- und Versteigerungshallen untergebracht sind. Derzeit werden vierzig Prozent des europäischen Gemüsehandels – aber nicht des Anbaus – über die niederländischen Börsen abgewickelt. Jahrzehntelang hatten diese eine nahezu unantastbare Monopolstellung. Erst ab 1990 gerieten sie zunehmend unter Konkurrenzdruck: Die billigen Transportmöglichkeiten – insbesondere im Flugverkehr – eröffnen nicht nur neue Absatzmärkte (z. B. die USA oder Japan), sondern ermöglichen den Grosseinkäufern auch zwischen Produkten aus der ganzen Welt zu wählen. Rasch bauen sie ihre Machtposition aus. Kontrollieren 1991 die dreissig grössten europäischen Handelsgesellschaften noch 49 Prozent des gesamten Obst- und Gemüsemarktes, so sind es im Jahr 2000 schon 68,5 Prozent. Heute verfügen die ersten zehn Grossverteiler in Europa über 42 Prozent der Marktanteile und in den Niederlanden beherrschen vier Supermarktketten 86 Prozent des Marktes. Die wesentliche Veränderung der letzten zehn Jahre besteht darin, dass der Obst- und Gemüseverkauf nicht mehr von den Produzenten kontrolliert wird, sondern von weltweiten Handelsorganisationen. 1997 wurden noch 97 Prozent über die traditionellen Versteigerungen abgesetzt, 2001 waren es nur noch 30 Prozent. Das bedeutet das Ende der gemeinschaftlichen Vermarktungsstrukturen. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch im Blumensektor
beobachten. In sechzig Prozent der Gewächshäuser werden inzwischen
Blumen gezüchtet, weil damit mehr zu verdienen ist als mit Tomaten.
Eine holländische Dele¬gation stellte anlässlich einer Besuchsreise
nach Kenia und Tanzania fest, dass kleinblumige Rosen – trotz hoher
Transportkosten – dort billiger produziert werden können. In
beiden afrikanischen Ländern kostet ein Arbeitstag nur 1 bis 2 €,
in den Niederlanden hingegen 160 €. Das Management der ausgelagerten
Betriebe und die Vermarktung der Rosen müssen dabei natürlich
fest in holländischer Hand bleiben. Niederländische Einwanderungspolitik Um 1950 beginnen die Niederlande mit der staatlich gesteuerten Rekrutierung von Gastarbeitern – vorwiegend aus Spanien, Italien und Jugoslawien. Neben den offiziell Angeworbenen kommen auch sogenannte „spontane Migranten“ ins Land. Im ersten Jahrzehnt finden diese Arbeitskräfte vor allem im Bergbau, in den Schiffswerften und in der Textilbranche Beschäftigung. Der Gemüsesektor war damals noch zum grössten Teil auf der Grundlage von Familienbetrieben organisiert. Erst durch die Intensivierung des Gartenbaus Anfang der 1960er Jahren nimmt die Arbeit in den Glashäusern industriellen Charakter an. Damit steigt der Bedarf an billigem, nicht qualifiziertem Personal. Dies umso mehr, als mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und dem wachsenden Bildungsstand, auch die meisten Bauernkinder nicht mehr bereit sind, die anstrengende, schlecht bezahlte Landarbeit zu verrichten. In der Zeit von 1968 bis 1974 stellt man erstmals Billiglohnarbeiter vor allem aus der Türkei und aus Marokko ein. Ihre Arbeitsverträge erstrecken sich über eine Mindestdauer von einem Jahr und die Unternehmen werden angehalten, für die Unterbringung ihrer Angestellten zu sorgen. Die Erdölkrise 1973 bremst das Wirtschaftswachstum
und führt zu einer Wende in der niederländischen Migrationspolitik.
Ein offizieller Anwerbe¬stop sowie eine weitaus selektivere Vergabe
von Arbeitsgenehmigungen für Ausländer sind die Folgen. Dennoch
geht die Einwanderung weiter, nur werden die bisher „spontan Zugewanderten“
jetzt „illegale Migranten“ genannt. Ab Mitte der 1980er Jahre
nehmen die Immigrationszahlen auch durch die Fortsetzung des Familiennachzugs
und die wachsende Anzahl von Asylsuchenden zu. Aufgrund der Verschärfung
der Fremden- und Asylgesetzgebung werden immer mehr Menschen illegalisiert.
Nach verschiedenen spektakulären Aktionen der Papierlosen kommt es
zu mehreren Regularisierungswellen in den 1970er und 1980er Jahren. Im
Zuge der ersten – 1975 – erhalten 18’000 Personen eine
Aufenthaltsgenehmigung, in einer zweiten – 1979/80 – weitere
1’700. Illegalisierte – ideale Arbeitskräfte für den Glashaussektor Bis 1991 haben alle Ausländer – ob mit geregeltem Aufenthaltsstatus oder nicht – eine Sozialversicherungsnummer, die ihnen Zugang zu arbeitsrelevanten Sozialleistungen garantiert. Seitdem sind durch ein neues Gesetz Versicherungsnummer und Sozialleistungen an eine Aufenthaltsgenehmigung gebunden. Bereits versicherte Personen dürfen ihre Nummer noch bis 1998 weiter verwenden. Die soziale Situation der Illegalisierten, deren Zahl mittlerweile auf über 100’000 gestiegen ist, hat sich entsprechend verschlechtert. Offiziellen Schätzungen zufolge arbeiten ein Drittel aller „Sans-Papiers“ im Gartenbau. Schon in den 1970er Jahren hatten etwa 20 Prozent der Migranten im Westland keine Aufenthaltsgenehmigung. 1994 waren es – laut amtlicher Statistiken – 17 Prozent und 23 Prozent im Jahr 2000. Die Beschäftigung von Illegalisierten ist ein fester Bestandteil der industrialisierten Wirtschaftsweise. Verschiedene Versuche von staatlicher Seite, holländische Arbeitslose – unter Androhung, ihnen die Sozialleistungen zu streichen – in die Gewächshäuser zu vermitteln, scheitern am Widerstand der Betroffenen, die extrem harten Arbeitsbedingungen und die niedrigen Löhne zu akzeptieren. Ausserdem entsprechen sie in puncto Geschicklichkeit, Ausdauer und Geschwindigkeit nicht den Anforderungen. Die Gärtnereien ziehen es bei weitem vor, erfahrene und motivierte Papierlose anzustellen, die bereit sind, 50 bis 70 Stunden pro Woche sowie Nachtschichten in Kauf zu nehmen. Und sie müssen 14 Stunden lang auf einem Knie Salat pflanzen oder ernten können – für beide Knie reicht der Platz zwischen den Reihen nicht aus! Früher erhielten Landarbeiter oft noch feste Anstellungen und erledigten auf den Gemüsebetrieben eine Reihe verschiedener Arbeiten. Sie wohnten oft in Scheunen oder Wohnwagen neben den Glashäusern. Heute leben die meisten in den nahen Städten in Pensionen, in der Regel zu dritt oder viert in einem Zimmer. Das fixe Arbeitsverhältnis wurde durch ein flexibles abgelöst. Der technische Fortschritt multipliziert die Saisonhöhepunkte, die ungefähr zwei Drittel des gesamten Arbeitsanfalls im Jahr ausmachen. Die Produktion erfordert zeitlich begrenzte Grosseinsätze, fixe Stellen sind zu teuer. Mitte der 1980er Jahre entstehen die „HAL“1, Leiharbeiterfirmen, die sich auf die Rekrutierung und Vermittlung von Tagelöhnern spezialisieren. 1998 tritt ein neues Gesetz in Kraft, das die Genehmigungsvorschriften für die Gründung privater Temporär-Agenturen erheblich erleichtert. Von nun an genügt ein Mobiltelefon, um eine Leiharbeiterfirma zu eröffnen. Im Westland vermehrt sich ihre Anzahl innerhalb weniger Monate von einigen Dutzend auf fast zweitausend. Die Temporär-Agenturen stellen die Migranten oft nur mehr stundenweise an. Die Vorteile für die Gartenbaubetriebe liegen auf der Hand: Sie brauchen nur eine „Bestellung“ aufgeben, anschliessend werden die benötigten Hilfskräfte jeden Tag mit Bussen aus der Stadt zu ihren Einsatzorten gebracht. Ausserdem ist es auch viel schwieriger, die Glashausunternehmer für die Einstellung von Schwarzarbeitern rechtlich zu belangen. Im Fall von Kontrollen haben sie von nichts gewusst und wälzen die Verantwortung auf die Leiharbeiterfirmen ab. Seit kurzem werden die Arbeiter auch per Computer überwacht. Sie bekommen – ebenso wie jeder Arbeitsvorgang und jede Gemüsereihe – einen Code zugeordnet, mit dem Quantität und Qualität ihrer Leistungen täglich kontrolliert werden. Die Glashausbetreiber können so zwischen den Temporär-Agenturen, die Agenturen zwischen den Leiharbeitern für den nächsten Tag auswählen. Wer arbeitet am schnellsten und billigsten? Das drückt die Stundenlöhne und erhöht die Leistungsanforderungen. Noch vor ein paar Jahren erhielt ein „Illegaler“ einen durchschnittlichen Stundenlohn zwischen 5,50 € und 6,80 €; heute arbeiten viele für nur 3,50 oder gar 2 € die Stunde. Das Arbeitstempo ist enorm gestiegen und häufig verrichten die Tagelöhner immer die gleiche Arbeit, von einem Glashaus zum anderen, was auch vermehrt zu Gesundheitsschäden führt. Oft fällt auch der Zahltag aus, weil der Chef der Vermittlungsfirma die Agentur schliesst, selber untertaucht oder die Firma bankrott macht. Ein Blick in die Zukunft Seit dem Jahr 2000 können bulgarische Staatsangehörige als Touristen einreisen. Sie finden zunehmend Beschäftigung in den Gewächshäusern. Meist handelt es sich um ethnisch türkische Bulgaren, die durch türkische Leiharbeiterfirmen vermittelt werden. Als Neuankömmlinge haben sie kaum Netzwerke und sind der Ausbeutung von Unternehmern und Hauswirten wehrlos ausgeliefert. Massive Polizei-Aktionen schüchtern diese Menschen zusätzlich ein – bei solchen Einsätzen werden an einem Abend bis zu 100 Bulgaren aus ihren „Wohnungen“ geholt und direkt per Charterflug nach Bulgarien ausgeschafft. Die Zurückbleibenden sind bereit, jede Arbeit auch zu niedrigsten Löhnen anzunehmen. Die alteingesessenen Papierlosen können in diesem Rennen kaum mithalten. Viele von ihnen sind über vierzig, sie haben oft zehn, fünfzehn, oder sogar zwanzig Jahre unter grossem Druck und in ungesunder Körperhaltung gearbeitet. Nach all diesen Jahren werden die Alten verdrängt oder gar abgeschoben. Jetzt sind junge und schnellere Männer gefragt. Was die Zukunft bringt, zeichnet sich in Umrissen bereits ab: Dreissig Jahre lang haben hauptsächlich Türken, Marokkaner und in geringerem Masse Ägypter die Arbeit in den Gewächshäusern getan. Mit der Erweiterung der Europäischen Union wird sich der Arbeitsmarkt ab Mai 2004 für Beitrittsländer, wie z. B. Polen, öffnen. Die holländische Regierung hat den Gartenbauunternehmen in Aussicht gestellt, ab diesem Zeitpunkt legale Saisonniers ins Land zu holen, die ihren „illegalen“ Vorgängern in Sachen Flexibilität, Motivation und Billiglöhnen, in nichts nachstehen.
Bittere Ernte – Die moderne Sklaverei in der industriellen Landwirtschaft Europas«. Verlag Europäisches Bürgerforum/ CEDRI, Basel
2004 |