20 Jahre Fabrikkommission bei Mercedes Benz
Brasilien
2 Reisen von Mitgliedern der DC - Koordination zum
Fest in Brasilien
Im Herbst 1984 gelang es der Belegschaft vom Mercedes-Benz-Werk in Sao
Bernardo (LKW), nach dreitägigem Streik die Anerkennung einer Fabrikkommission
durchzusetzen. Dies und das jahrelange Wirken dieser Kommission mit jeweils
befristet geltendem Statut war und ist ein ständiger Kampf. Denn
es gibt in Brasilien kein Betriebsverfassungsgesetz. So muss diese Art
der Belegschaftsvertretung im Betrieb hart erkämpft werden. Zum 20
jährigen Bestehen organisierte die aktuelle Kommission ein großes
Fest.
Beim Entstehen und bei den jeweiligen Auseinandersetzungen
um ein neues Statut hat der GBR-Vorsitzende in Deutschland Hilfestellung
beim Konzernvorstand geleistet. Von anderer Art und genau so wichtig war
jedoch die jahrzehntelange solidarische Begleitung durch KollegenInnen
von Mercedes - Benz oder jetzt DaimlerChrysler aus den deutschen Werken.
Von Anfang an bis jetzt haben sich hier der AK „Solidarität
mit Brasilianischen Gewerkschaften“ aus Mannheim und Kollegen aus
Stuttgart hervorgetan; später weitete sich der Kreis der aktiven
deutsch-brasilianischen Zusammenarbeit auf die gesamte Mercedes-Koordination
aus. In den 80 Jahren wurde der Austausch vor allem durch TIE - International,
seit Ende der 90er Jahre durch TIE - Deutschland organisiert.
Kein Wunder also, dass die brasilianischen Kollegen Vertreter
aus Deutschland zu ihrem Fest eingeladen haben. So machte sich Anfang
November eine Delegation aus Mannheim und Untertürkheim, begleitet
von Cordula aus Hamburg, die bereits vor 20 Jahren bei dem ersten Austausch
als Übersetzerin tätig gewesen war, auf den Weg zu einer neuerlichen
Austauschreise. Allerdings war das eigentliche Fest inzwischen um einen
Monat verschoben worden; der Reisetermin konnte jedoch nicht mehr verändert
werden. Zum eigentlichen Fest Anfang Dezember flogen dann nochmals Michael
Clauss und Fritz Stahl; so gab es innerhalb kürzester Zeit zwei Brasilienreisen.
1. REISE IM NOVEMBER 2004
Vom 8. bis 13. November waren die KollegInnen aus MA und
UT Gast der Fabrikkommission in Sao Bernardo, die das Programm, die Unterkunft
und den Transport hervorragend organisiert hatten. Hier nun die Schwerpunkte
des Programms:
Montag, 8. November
Austausch mit den CIPA-Vertretern der Fabrik im Gewerkschaftshaus von
Sao Bernardo über neue Formen der Gesundheitssorge im Betrieb. (CIPA
ist eine gesetzlich verankerte paritätisch besetzte Kommission zum
Unfallschutz.) Es wurde unter anderem die Mapping - Methode dargelegt.
„Mapping“ ist eine Form von „Gesundheitszirkel“,
bei der die Kollegen - also die eigentlichen Experten bezüglich ihrer
Probleme am Arbeitsplatz - Forderungen bezüglich Verbesserungen selbsttätig
erarbeiten. Aus Kanada kommend, wird diese Methode durch TIE-Deutschland
in mehreren Ländern vorangetrieben und ist in UT bereits in zwei
Abteilungen erfolgreich durchgeführt worden.
Dienstag 9. November
Besichtigung von zwei Kooperativen. Eine Metallverarbeitende Fabrik und
eine Produktionsstätte für Wolldecken und Umhänge wurden
von den jeweiligen Fabrikbesitzern aufgegeben und danach von den Belegschaften
in eigener Regie übernommen. Der harte Kampf um die Erringung der
Eigentumsrechte, um die Wiedergewinnung der abgewanderten Kunden und Lieferanten
und um die demokratische Organisierung von Firmenleitung und Produktionsabläufen
lässt wichtige Erfahrungen für die Selbstorganisation solidarischen
Wirtschaftens zu.
Mittwoch 10. November
Ein Tag in einer von der Arbeiterpartei (PT) regierten Stadt: Santo André.
Morgens wurden mehr informatorische Einblicke in Organisationen vermittelt,
die die Arbeitslosigkeit verringern, neue Arbeitsplätze schaffen,
berufliche Fortbildung anbieten oder Hilfestellung bei Firmengründungen
leisten. Nachmittags dann konkretes kennen lernen eines Elendsviertels,
das die Stadtverwaltung mit den Bewohnern zusammen durch infrastrukturelle
Maßnahmen in seiner Lebensqualität wesentlich verändert
hat. Besonders beeindruckend die Begegnung mit der Leiterin eines kürzlich
errichteten Gemeindezentrums.
Donnerstag 11. November
Begegnung mit der Landlosenbewegung . Mit Hilfe der Metallgewerkschaft
von Campinas fuhr die Gruppe zu einer seit 18 Jahren bestehenden Landbesetzung,
die sich inzwischen zu einem richtigen Dorf entwickelt hat (Sumaré
1). Leider fiel eine detaillierte Besichtigung dem unerbittlich niederprasselnden
Regen zum Opfer; so konnte allein der Bericht eines der Verantwortlichen
die Bedeutung der Landlosenbewegung (vor allem MST) für die anstehende
Agrarreform und für die Politik des Landes überhaupt schildern.
Auf dem Weg nach Sumaré 1 besuchte die Gruppe eine
bestreikte Fabrik, in der Druckmaschinen hergestellt werden. Die KollegInnen
hatten die Arbeit niedergelegt, weil sie ihren Lohn nicht erhalten hatten;
und die Firmenleitung drohte damit, das Werk ganz stillzulegen. Solidarische
Grüße und Ermunterung der KollegInnen aus Deutschland kamen
gut an. Es entwickelte sich eine interessante Diskussion mit den Kollegen
vor dem Tor.
Freitag 12. November
Um 5 und um 7 Uhr jeweils Teilnahme an den Versammlungen vor dem Werkstor
bei DaimlerChrysler Sao Bernardo. Die Kollegen wurden über wichtige
Pläne für 2005 zur Arbeitszeitgestaltung informiert und zu dem
großen Fest am Sonntag eingeladen. Zudem wurde die deutsche Delegation
begrüßt, in deren Namen Serkan Senol solidarische Worte an
die Brasilianer richtete. Danach wurden je nach Interesse die Achsenfertigung
und der Rohbau besichtigt. Der Personalchef ließ es sich nicht nehmen,
die Delegation bei einem kleinen Früh-stück zu begrüßen.
Es folgte ein Tagesseminar mit den Mitgliedern der Fabrikkommission.
Auch Genevaldo aus Campinas und Henrique aus Juiz de Fora nahmen daran
teil. Das Programm:
1. Kurze Darstellung der betrieblichen Situation
Juiz de Fora: Immer noch sehr wenig Arbeit; immer noch sind
nicht alle Unsicherheiten bezüglich des für 2006 geplanten Produktionsanlaufs
für den speziellen Smart beseitigt.
Campinas: Von der früheren Busproduktion (4
500) ist nur ein großes Zentrallager übrig geblieben (600).
Es droht die totale Vergabe an Fremdfirmen. Zudem wird damit gedroht,
die Mehrheit der Beschäftigten, die ja in der Verwaltung tätig
sind, nicht mehr als Metallarbeiter zu betrachten, sondern sie in einen
anderen Tarifbereich mit schlechteren Bedingungen zu überführen.
Sao Bernardo:
Im Augenblick herrscht Hochkonjunktur im NFZ- und Motorenbau. Die Fabrikkommission
kämpft gegen das maßlose Überstunden fahren und für
weitere Neueinstellungen. In den letzten 2 Jahren wurden 2 150 neue Leute
teils befristet teils unbefristet eingestellt.
Für 2005 läuft zurzeit ein Diskussionsprozess um neue Arbeitszeitregelungen.
Die Vorschläge werden in diesen Wochen mit der Belegschaft diskutiert.
Die Abstimmung soll noch vor Weihnachten erfolgen.
Mannheim:
Die neuesten Vereinbarungen haben schwerwiegende Folgen bezüglich
der Flexibilität der Arbeitszeiten (18 Stundenschicht) und bringen
Lohnverluste mit sich. Im Rohbau bei EVO BUS werden neue Technologien
(Roboter) ausprobiert, die ebenfalls Arbeitsplatzabbau mit sich bringen.
Untertürkheim:
Die DC- Vereinbarung vom Juli 2004 wurde kritisch dargelegt, der besondere
Kampf der Mettinger am Aktionstag 15. Juli geschildert. Eine Reaktion
der Brasilianer: „Wie kann ein solcher Abschluss von ein paar Leuten
ohne Diskussion mit den Belegschaften unterschrieben werden? Unmöglich!!!“
Das anlässlich des Austausches angefertigte T-Shirt mit Bildern von
dem Marsch auf der B10 und einem Protestzug auf der Stadtautobahn Anchieta
in Brasilien wird unter den Teilnehmern verteilt (und wie sich im weiteren
Verlauf der Reise herausstellte von den brasilianischen Kollegen auch
regelmäßig getragen.)
2. Illustrationen
Es wurde eine PowerPointPresentation vorgeführt, die
von der Mannheimer Gruppe aus Anlass des Festes angefertigt worden war
und eindrücklich die Geschichte der deutsch-brasilianischen Solidaritätsarbeit
bei DaimlerChrysler illustriert. Entsprechende CD-ROMs wurden verteilt.
Die PPP ist erhältlich bei Fritz Stahl.
Valter Sanches legte anhand von einigen Statistiken die augenblickliche
Hochkonjunktur in der brasilianischen Industrie im Allgemeinen und Automobilindustrie
im Besonderen dar.
3. Weitere Planung der Zusammenarbeit
-- Die 2. Nummer der Internationalen Zeitung DC-workers
news soll spätestens ab Januar weiter konkretisiert werden. (Die
brasilianischen Kollegen baten darum, mit der Erstellung und Herausgabe
der 2. Ausgabe bis nach den Festlichkeiten zum 20-jährigen Bestehen
der Fabrikkommission und ihren Betriebsferien zu warten.)
-- An einigen Beispielen soll ein „alternatives Benchmarking
von unten“, d.h. der Arbeitsbedingungen in Abteilungen gleicher
Produktion (z.B. Motorenbau in Mannheim und Sao Bernardo) ausprobiert
werden. Das Ziel ist es, dem ausschließlich an Kosten orientierten
Benchmarking der Unternehmensleitung etwas entgegen zu setzen und die
Arbeitsbedingungen nach oben anzuheben und nicht nach unten zu nivellieren.
Konkrete Absprachen bezüglich der Vorbereitung hierzu wurden getroffen.
-- Im Frühjahr 2006 soll ein weiteres Internationales
Treffen für DC - Beschäftigte stattfinden. Als möglicher
Termin/Ort wird die Hauptversammlung in Berlin ins Auge gefasst, um auch
dort „alternativ“ zum Shareholder-Kapitalismus aufzutreten.
Verantwortliche für die notwendige Vorbereitung wurden festgelegt.
Samstag, 13. November
Halbtagesseminar im größeren Rahmen zum Thema „20 Jahre
Fabrikkommission“ und Reform der Arbeitsgesetzgebung in Brasilien.
Mit etwa 90 Kollegen aus der Fabrik wurde anhand von mehreren Referaten
die Geschichte der Fabrikkommission aufgezeigt. (Fritz Stahl stellte in
seinem Referat die deutschen Interessenvertretungsstrukturen mit ihren
Vor- und Nachteilen heraus.) Die anschließende, teilweise heftige
Diskussion über die Reform der Arbeitsgesetzgebung und dabei speziell
der Gesetzgebung für Gewerkschaften prägten das Programm.
Den Abschluss des Tages und der gesamten Begegnung bildete
eine Grillparty mit Samba - band, guten Speisen, viel Cachaca und herzhaften
Diskussionen, in welchen Sprachen auch immer. Dies ließ erahnen,
welche Ausmaße das große Fest im Dezember haben würde.
Abschließend sei nochmals bemerkt, dass auch diese
Reise wieder einmal die vielen kleinen Gelegenheiten außerhalb des
offiziellen Programms bot, um die notwendigen persönlichen Beziehungen
zu vertiefen und die eine oder andere Verabredung zu treffen. Nur auf
Basis dieser persönlichen Beziehungen ist eine dauerhafte internationale
Zusammenarbeit überhaupt möglich.
Ausdrücklich bedanken wollen wir deutschen Teilnehmer uns bei TIE-
Deutschland und bei der Stiftung „Menschenwürde und Arbeitswelt“
Berlin, deren organisatorische und finanzielle Unterstützung auch
diese Reise wieder möglich gemacht hat.
2. REISE IM DEZEMBER 2004
Die Einladung einer deutschen Delegation zum eigentlichen
Fest Anfang Dezember konnte nicht ausgeschlagen werden. So haben Michael
Clauss und Fritz Stahl die deutsche Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung
vertreten. Es gab drei wichtige Höhepunkte:
Donnerstag, 9. Dezember
Im Gewerkschaftshaus von Sao Bernardo wurden die ehemaligen und jetzigen
Mitglieder der Fabrikkommission im Rahmen einer Feierstunde geehrt, die
ehemaligen Koordinatoren der Kommission Tarcisio Secoli, Adi dos Santos,
Sergio Nobre und Valter Sanches sowie der jetzige Koordinator Moises Selerges
erhielten nochmals eine besondere Auszeichnung.
Freitag, 10. Dezember
Im Rathaus von Sao Bernardo (eine etwa 600 000 Einwohner zählende
Stadt am Rande von Sao Paulo) fand eine ähnliche Ehrung statt. Hier
in Sao Bernardo liegt das DC - Werk. In den 70/80er Jahren fanden in dieser
Stadt entscheidende Arbeitskämpfe statt, die zu neuen Aufbrüchen
in der Gewerkschaftsbewegung führten. Auf Antrag eines PT Stadtrates
stimmte der gesamte Stadtrat dieser Ehrung zu, obwohl die PT nur 5 von
21 Sitzen im Parlament der Stadt innehat. So erhielten alle ehemaligen
und jetzigen Mitglieder der Fabrikkommission eine Ehrenmedaille, die Koordinatoren
wurden zu besonders verdienstvollen Ehrenbürgern ernannt. Ein Empfang
vorher und hinterher lockerte die etwas steife Atmosphäre auf.
Sonntag 12. Dezember
Große Show auf dem Parkplatz vor dem Werkstor von Mercedes. National
gut bekannte Rockmusiker, eine Samba Band aus Rio und ein bekannter Sänger,
der schon viele, viele Jahre gewerkschaftliche und politische Kämpfe
unterstützt, lockten über 10 000 Leute an, die natürlich
in entsprechend guter Stimmung waren.
Eingestreut eine ganz kurze Phase von mehreren Ansprachen. Auch Michael
und Fritz wurden wie bei den Veranstaltungen vorher begeistert begrüßt
und erhielten für ihre Redebeiträge tosenden Applaus. Es gibt
eine große Sensibilität für dauerhafte internationale
Zusammenarbeit. Moises, der aktuelle Koordinator der Fabrikkommission,
schloss seinen Aufruf mit den Worten: „ Unser Engagement besteht
darin, die Tradition einer kämpferischen Arbeitervertretung aufrecht
zu erhalten und uns den Herausforderungen für eine gerechtere Gesellschaft
zu stellen.“
Kämpferische Interessenvertretung zu sein, hat die
Fabrikkommission in all den Jahren bewiesen. Dabei ist ein lebendiger
Austausch mit der Belegschaft das A und O. Dies konnten Michael und Fritz
auch in diesen Tagen bei verschiedenen Anlässen wieder erleben. Die
Fabrikkommission beschließt nichts, wenn nicht vorher intensive
Diskussionen mit den Betroffenen geführt worden sind. Der ständige
lebendige Kontakt mit den KollegInnen (diesmal erlebt bei einer Versammlung
der Auszubildenden oder in einer Mittagspause in benachbarten Lokalen)
nimmt die Furcht, dass sich dieses Gremium verselbständigen könnte.
Die gesellschaftliche Verantwortung zeigte sich übrigens
ganz konkret in Folgendem: Am Montagmorgen, also gleich nach dem Fest
mit den ganzen Strapazen, fuhr um 6 Uhr früh ein Omnibus mit vielen
Mitgliedern der Fabrikkommission und anderen Gewerkschaftern aus dem Betrieb
nach Brasilia (14 Stunden Busfahrt und anschließend ein Fußmarsch
von gut 20 km standen auf dem Programm! ), Die Gruppe nahm an dem nationalen
Marsch teil, mit dem mehrere Gewerkschaftsdachverbände auf die Lula
- Regierung Druck machen wollten, damit diese den Minimum-Lohn von 260
auf 320 Reais erhöht. Ebenfalls soll die Steuertabelle verbessert
werden.
„Ein Stück des Weges liegt hinter Dir, ein anderes
Stück hast Du noch vor Dir. Wenn Du verweilst, dann nur um Dich zu
stärken, nicht aber um aufzugeben“. So sagte ein Philosoph
vor vielen Jahren.
Die Fabrikkommission bei Mercedes - Benz do Brasil hat ihr 20 jähriges
Bestehen gefeiert. Sie wird weiterarbeiten und weiterkämpfen; jedenfalls
gibt es keine Anzeichen für das Gegenteil. Eine Herausforderung an
die Mercedes - Koordination, ihrerseits die internationalen Beziehungen
weiter auszubauen. Heute mehr denn je notwendig!
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