Home > Branchen > Auto: DC > Argentinien > deutsch > eichmann7_dt
Updated: 18.12.2012 16:07
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

7. Das Recht auf Wahrheit, oder: wie kann man DaimlerChrysler, Exxon_Mobil, Mossad & Co. zur Wahrheit zwingen?

Von Gaby Weber

Seit 1999 recherchiere ich den Komplex „Mercedes-Benz Argentina“ (MBA). Er umfasst mehrere Kapitel:

1. die vierzehn während der argentinischen Militärdiktatur verschwundenen Betriebsräte
2. die aus den Folterkammern entführten Babys (in der Familie des MBA-Managers JR Tasselkraut wurden drei Kinder mit gefälschten Geburtsurkunden als leibliche Kinder eingeschrieben)
3. ab 1951 die Nazigeldwäsche mit Hilfe von MBA
4. den Pakt von Standard Oil mit den Nazis und die angebliche Entführung Adolf Eichmanns durch den Mossad

Ich habe in mehreren Ländern Anträge auf Information gestellt, war in den Firmenarchiven von DaimlerChrysler in Stuttgart und in Austin (Texas), wo das Material von Standard Oil liegt. Immer noch sind viele Fragen offen.

Die Gesetze über den Zugang zu Informationen greifen nicht. Es gibt zahlreiche Ausnahmen („nationale Sicherheit“ etc.), manchmal wird gar nicht geantwortet (Mossad), die CIA bietet, statt die Akten freizugeben, Informationen gegen Geld an. Und in vielen Staaten existieren solche Gesetze nicht.

Ausserdem betreffen sie nur staatliche Stellen, nicht Unternehmen. Die dürfen schweigen und lügen. DaimlerChrysler erklärte auf Aktionärsversammlungen, über William Mosetti, fünfzehn Jahre lang ihr Generaldirektor, keine Unterlagen zu besitzen. Im Firmenarchiv wurden mir gesäuberte Ordner vorgelegt – etwa zum 1. September 1939 (Ausbruch des Weltkrieges) ein einziger Vorstandsvermerk zur Frage, ob Daimler-Benz am Autorennen in Südafrika teilnehmen solle. Exxon-Mobil wollte seine früheren Mitarbeiter Eichmann und Mosetti nicht kennen, und im Archiv in Austin wurden mir, statt ihr Pakt mit den Nazis, Geschichten über die chinesische Öllampe vorgelegt.

Dieses Umgehen mit der Wahrheit ist zynisch und pervers. Es geht um Verbrechen gegen die Menschheit. Aber sowohl die Verbrechen selbst wie ihr Vertuschen werden als „normal“ betrachtet, als Unternehmens-„Kultur“. Und als „komisch“ oder „Querulant“ gilt, wer weiter fragt.

Aber warum fragen wir, die wir seit Jahren und in mehreren Ländern an diesem Thema arbeiten, immer noch nach der Wahrheit? Wir alle könnten mit unserer freien Zeit erfreulicheres anfangen. Wir fordern die Wahrheit ein, weil wir sie für die Verteidigung der Rechte des Einzelnen brauchen, zur Verteidigung gegen staatliche Gewalt und gegen die ungehemmte Raffgier des Kapitals.

Ich habe versucht, über Gerichte an die Informationen heranzukommen. Aber welches Gericht würde sich heute wagen, den Pakt von Standard Oil mit den Nazis zu untersuchen? Schon 1942 scheiterten die Ermittlungen an der Macht des Konzerns.

Den Fall der verschwundenen Betriebsräte habe ich dem „Wahrheitstribunal“ in La Plata vorgelegt, und dort wurden Opfer, Zeugen und mutmassliche Täter vorgeladen. Dies war wichtig, auch weil ich so zum Bildmaterial für meinen Dokumentarfilm kam. Aber das Wahrheitstribunal ermittelt nicht selbst und kann nicht bestrafen. Militärs und Manager wollten sich an nichts erinnern und dabei blieb es.

Zwei Strafanzeigen wurden gestellt, in Deutschland gegen MBA-Manager Tasselkraut wegen Mordes, in Buenos Aires gegen DaimlerChrysler wegen Bildung einer Kriminellen Vereinigung. Die Staatsanwaltschaft Nürnberg stellte nach vier Jahren das Verfahren ein, u.a. mit der Begründung, dass nicht bewiesen sei, dass die „Verschwundenen“ ermordet wurden, möglicherweise tauchen sie wieder auf. Die Staatsanwaltschaft in Buenos Aires verhörte nicht einmal die Beschuldigten und liess, statt die Daimler-Chefs, wie vom Opferanwalt beantragt, den Betriebsrat verhören.

Ich habe gegen Tasselkraut Strafanzeige wegen der illegalen Aneignung von drei Kindern erstattet und die gefälschten Geburtsurkunden überreicht - in Argentinien ein Verbrechen, das nicht verjährt. Trotzdem scheint nicht ermittelt zu werden. Mir wird Akteneinsicht verweigert, weil ich kein direktes Opfer (nicht Angehörige) bin. Ich kann deshalb auch keine Beweisanträge stellen.

Im Zivilverfahren gegen DaimlerChrysler, das die Hinterbliebenen der Verschwundenen vor dem Bezirksgericht in San Francisco (USA) eingeleitet haben, konnte die Klageschrift in Stuttgart nicht zugestellt werden, weil für Daimler (und das Oberlandesgericht Karlsruhe) die Klage die Nationale Sicherheit der Bundesrepublik bedrohe. Trotzdem nahm das US-Gericht das Verfahren nicht an, man könne ja in Deutschland oder Argentinien klagen ...

Die Gerichte verletzen ihrer Pflicht zur Aufklärung. Und die Regierungen helfen beim Vertuschen. Dass dies eine Bush-Administration tut, verwundert wenig. Dass dies die uruguayische Frente Amplio tut, schmerzt. Wir alle, die wir im Oktober 2004 auf den Strassen Montevideos ihren Wahlsieg gefeiert haben, wussten, dass nicht das Paradies ausbrechen würde. Vielleicht muss man Ungerechtigkeiten hinnehmen und Kompromisse schliessen, weil eine Weigerung schlimmere Konsequenzen hätte, vielleicht muss man die Auslandsschulen bezahlen, weil sonst ein internationaler Boykott droht. Aber eines sollte die Frente anders machen: sie sollte nicht weiter lügen. Sie sollte die Dinge offen benennen, um Bewusstsein und Bedingungen für eine Überwindung des Unrechts schaffen. Doch die alte Politik der Sachzwänge wird fortgeführt. Werte wie Wahrheit und Gerechtigkeit stören dabei, auch, wenn es um den Holocaust geht.

Die Medien könnten das Recht auf Wahrheit einfordern, unterlassen es aber. Einige Medienzaren (Berlusconi in Italien, Cisneros in Venezuela) begnügen sich nicht mehr mit der wirtschaftlichen Macht, sondern wollen die politische Macht.

Aber berichten die Medien nicht über Menschenrechtsverletzungen und werden über Eichmann nicht bis heute Bücher geschrieben und Filme gedreht? Ja, aber ohne wirtschaftliche Interessen zu verletzen, ohne die Version des Mossad in Frage zu stellen. Wer folgt, nach Kriegen und Bürgerkriegen, der Spur des Geldes?

Die Welt rückt zusammen, wird globaler; aber die Medien werden provinzieller, feiger und banaler. Journalismus hat heute mit der Wahrheit soviel zu tun wie die Prostitution mit der Liebe. Das Fernsehen bringt Unterhaltung (auf niedrigem Niveau), und die Zeitungen überfüttern durch geschichtslose Informationen.

Emailketten und alternative Agenturen im Internet spriessen wie Pilze aus dem Boden, sie zeugen von einem nicht erfüllten Hunger nach Wahrheit. Das Problem: Kaum jemand will dafür bezahlen, die Arbeit beruht auf Selbstausbeutung, die chronische Finanznot erschwert professionelle Recherchen und die ewige Spendensuche kann zu neuen Abhängigkeiten führen.

In Deutschland wird derzeit über das Grundrecht auf Information diskutiert, darüber ob alle Haushalte an die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten eine Abgabe zahlen, unabhängig ob sie einen Fernseher oder nur einen Computer haben, über den sie Programme empfangen können. Die Diskussion über das Grundrecht auf Information ergibt Sinn, aber sie muss die neuen, alternativen Medien miteinbeziehen, die mehr informieren als das Fernsehen mit seinen Talkshows.

Oft scheint es, dass sich die Leute nur um ihre unmittelbare Bedürfnisse sorgen und die Geschichte den Historikern überlassen. Es sind seltene Sternstunden der Menschheit, in denen sie das Recht auf Wahrheit erobern, 1917 mit der Inbesitznahme des Archivs des zaristischen Geheimdienstes Ochrana oder 1990 mit dem Sturm auf die Stasizentrale.

Doch der Eindruck täuscht und sogar die internationale Rechtsprechung – wie die UN-Menschenrechtskommission (Resolution 2005/66) – fordert das „Recht auf Wahrheit“. Die im Dezember 2006 verabschiedete UN-Konvention über verschwundene Personen wird es zum Völkerrecht erheben. Argentinien und Frankreich haben sich dafür stark gemacht, Deutschland hat gebremst. Artikel 24 der Konvention gewährt den Opfern das „Recht, die Wahrheit zu erfahren“, wobei als Opfer „jedes Individuum (gilt), das einen direkten Schaden als Folge eines gewaltsamen Verschwinden erlitten hat“. Schon heute geht die Rechtsprechung davon aus, dass in diese Kategorie nicht nur Familienangehörige fallen sondern in Regimen, wo das Verschwinden-Lassen die gesamte Gesellschaft bedroht, alle Personen einen „legitimen Anspruch“ auf die Wahrheit besitzen, der sie ermächtigt, zur Durchsetzung dieses Rechtes die Gerichte anzurufen.

Die Konvention ist ein wichtiger Schritt. Sie muss noch von den Staaten ratifiziert und mit Ausführungsbestimmungen versehen werden, wie und von wem das Recht auf Wahrheit vor welchen Gerichten, in welchen Grenzen und mit welchen Ausnahmen, durchgesetzt werden kann.

Wird sich das Recht auf Wahrheit auch in der Praxis durchsetzen? Im Komplex Mercedes-Benz-Argentina haben sich Gerichte, Behörden und Medien - in Deutschland, Argentinien und den USA - auf die Seite derjenigen gestellt, die von den Verbrechen profitiert haben.

Trotzdem haben Big Oil und Big Car den Krieg um die Köpfe verloren. Natürlich können sie Richter, Gutachter und Politiker kaufen, und sie können sich darauf verlassen, dass die Medien ihre Anzeigenkunden schonen. Aber wer heute im Internet surft, der weiss:

- wer die Betriebsräte ans Messer geliefert hat
- wer die Babies bekam, die die Militärs gerade zu Waisenkindern gemacht hatten
- wer das von den Nazis geraubte Geld in den Kreislauf der bundesdeutschen Nachkriegswirtschaft geleitet hat und
- wer mit den Nazis das Erdöl von Baku erobern wollte und dabei fünfzig Millionen Kriegstote einkalkuliert hat.

Wie sieht ihr Kalkül für den nächsten Ölkrieg aus?


Home | Impressum | Über uns | Kontakt | Fördermitgliedschaft | Newsletter | Volltextsuche
Branchennachrichten | Diskussion | Internationales | Solidarität gefragt!
Termine und Veranstaltungen | Kriege | Galerie | Kooperationspartner
AK Internationalismus IG Metall Berlin | express | Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken
zum Seitenanfang