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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Was ist Standortsicherung wert? Fragen an die gewerkschaftliche Linke Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um ein überarbeitetes Einleitungsreferat von Kirsten Huckenbeck für die Arbeitsgruppe »Was ist Standortsicherung wert?« im Rahmen der 6. Konferenz der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken am 14./15. Januar 2005 in Stuttgart. Dieses und alle weiteren Referate und Erklärungen werden, sofern verfügbar, auch im Labournet-Germany dokumentiert. Würde man unter Gewerkschaftslinken einen Multiple Choice-artigen Fragebogen mit ja oder nein als Antwortmöglichkeit auf die Frage, ob Standortsicherung etwas wert sei, ausfüllen lassen, scheint das Ergebnis klar, eigentlich der Nachfrage nicht wert. Dann könnten wir es uns einfach machen, zur Tagesordnung übergehen und über Forderungskataloge, Gegen-Programme und straffere Organisationsformen der Gewerkschaftslinken diskutieren, wie dies im Laufe der Konferenz angemahnt wurde. Es ist jedoch zu vermuten, dass bei den Begründungen dafür, warum Standortsicherung nichts wert sei, deutlich weniger Einhelligkeit anzutreffen wäre, und das verweist auf die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen mit dieser Frage - auch praktisch - umgegangen wird. Der Versuch ist daher im Folgenden, einige Fragen zum Begriff der Standortsicherung zu formulieren, um uns über jene unterschiedlichen Perspektiven auf das Problem der Standortsicherung und deren jeweilige Grenzen zu verständigen. Kaum ein Jahr im vergangenen Jahrzehnt scheint zunächst besser geeignet als das vergangene, um die Frage aufzuwerden, die dieser Konferenz, insbesondere auch dieser Arbeitsgruppe, zugrunde liegt. Es ist kein Zufall, dass wir uns mit der Frage nach Ansatzpunkten für eine »Gewerkschaftspolitik jenseits von Standort- und Wettbewerbsfähigkeit« befassen, nachdem in 2004 gleich eine Reihe nicht unbedeutender Konzerne in Deutschland (von Siemens über DC, Karstadt, GM bis VW) erfolgreich demonstriert haben, dass dieses »Jenseits« für sie keine Perspektive ist, schon gar nicht existiert. Sie haben in dem Poker um die ominösen 500-Millionen-Einsparsummen durchweg gewonnen, wobei die unisono-Verkündung dieser Zahl angesichts solch unterschiedlicher Konzerne und Branchen alleine schon Grund genug wäre, an der Seriösität der ökonomischen Begründungen für die jeweils geforderten Einsparvolumina zu zweifeln und der Frage nachzugehen, welche Bedeutung der »politische« Kampf des Kapitals für die Akzeptanz von Lohnsenkungen in allen Bereichen der primären und sekundären Verteilungspolitik im Verhältnis zum »ökonomischen« Kampf darum derzeit hat - und dieses Verhältnis neu zu diskutieren. Doch nicht nur die Tatsache, dass sich Unternehmen hier durchsetzen konnten jenseits der Frage einer seriösen Begründung für ihre Drohung mit Verlagerung bzw. Einstellung von Produktion, sondern auch der Umstand, dass erstmals seit der großen Krise 1992/93 Zehntausende von Beschäftigten diese Begründungen nicht umstandslos akzeptiert haben und - nimmt man die Proteste um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall von 1996 aus, die besondere Gründe hatten - in größerer Anzahl direkt gegen das »Concession Bargaining« protestierten, also gegen die Erpressung »Lohnssenkung oder Standortverlagerung/Schließ-ung«, und dies notfalls sogar ohne Rückendeckung der Gewerkschaft wie beim wilden Streik in Bochum, all das legt es nahe, das letzte Jahr als eines zu nehmen, anlässlich dessen nach einem »Jenseits« zur Standortpolitik gefragt werden kann. Allerdings: Sowohl ökonomisch als auch politisch hätte sich diese Frage im Prinzip auch in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer wieder stellen lassen - und sie ist im Sinne einer kritischen empirischen Bilanz des Concession Bargaining auch vereinzelt immer wieder gestellt worden, [1] allerdings ohne dass dies zu nennenswerten Verweigerungen der Belegschaften, der BR oder auch der Gewerkschaften geführt hätte. Zu erklären wäre also: Unter welchen Bedingungen führen solche Bilanzen zu massenhaften Protesten, wann und wo bleibt es bei der Haltung der nolens volens-Unterwerfung unter die Wettbewerbs- und Standortlogik? Es soll hier jedoch nicht auf die zahlreichen empirischen Beispiele des letzten Jahres im Einzelnen eingegangen werden, an denen sich die für diese Arbeitsgruppe aufgegebene Frage diskutieren ließe. Dann nämlich müsste man im Einzelnen genauer untersuchen, warum
Zu den empirischen Fällen nur so viel: Standortsicherung heißt hier zunächst immer nur Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen der jeweils aktuell Beschäftigten - »sozialverträglicher« Personalabbau ist also jederzeit möglich - und dies auch nur unter dem Vorbehalt der »wirtschaftlichen Entwicklungen«. Letzteres eine Klausel, die seit Anfang der 90er Jahre unter jedem Standortsicherungsvertrag zu finden ist, prominent jedoch formuliert als »Revisionsklausel« jüngst bei VW. Anzumerken ist hier allerdings auch, dass es sich bei dem Problem der Nicht-Einhaltung solcher »Garantien« nicht um einen spezifischen Skandal des VW-Managements (oder entsprechender »Nieten in Nadelstreifen« bei GM, DC, Siemens oder wo auch immer) handelt, sondern um ein allgemeines und auch nur bedingt in den Händen des Managements liegendes Problem unter den Bedingungen von Privateigentum an Produktionsmitteln und Konkurrenz. Jenseits dieser und vieler weiterer untersuchenswerter Fälle im Einzelnen müsste es für uns hier und für alle Lohnabhängigen daher um zwei grundsätzlichere Fragen gehen:
Welcher Standort ist gemeint?Unbestritten ist einerseits: Ein korporatistisches Bündnis für Arbeit auf nationaler Ebene, wie es 1996 noch unter Zwickel mit Kohl-Legislatur, 2001/02 dann am rot-grünen »Kanzler-Kamin« geschlossen (und später aufgekündigt) wurde, ist etwas anderes als die zahllosen betrieblichen Bündnisse, die wir massiert seit Anfang der 90er Jahre feststellen können. Sicher besteht auf volkswirtschaftlicher Ebene die Möglichkeit und Notwendigkeit, andere »Parameter« mit einzubeziehen, z.B. Tauschgeschäfte folgender Art zu vereinbaren: Lohnzurückhaltung wird gegen ein »Ausbildungsbündnis« oder gegen Verzicht auf Eingriffe in die Tarifautonomie etc. angeboten etc. Aber hat sich nicht mittlerweile die gleiche Logik: »Lohnverzicht schafft Arbeitsplätze« auf allen Ebenen gewerkschaftlicher Lohnpolitik etablieren können, und wird damit nicht gesagt, dass das Lohnniveau also entscheidend sei für die Arbeitsmarktsituation? Und hat nicht gerade auch diese Logik dazu geführt, dass »qualitative« Forderungen in der Tarifpolitik (etwa Arbeitszeitpolitik, Humanisierung der Arbeit, Krankenstände etc.) ebenso wie »gesellschaftliche« Forderungen (wie etwa die Frage der Herstellung gleicher Lebensbedingungen in der BRD, das Recht auf Bildung bzw. Ausbildung etc.) auf der Ebene nationaler Standortpolitik zunehmend auch in den Reihen der Gewerkschaften nur noch unter dem Aspekt ihrer Monetarisierung und Verrechenbarkeit mit Lohnforderungen betrachtet und gedacht wurden? Unbestritten ist andererseits auch, dass selbst unter diesem Gesichtspunkt eine Verschiebung von der gesamtwirtschaftlichen (d.h. implizit zumindest noch gesellschaftlichen) Ebene auf die betriebliche Ebene stattgefunden hat: »Dezentralisierung der Tarifpolitik« nennen dies Reinhard Bispinck und Thorsten Schulten. Egal ob es sich dabei um »wilde« (also Bruch von Tarifvereinbarungen durch betriebliche Bündnisse) oder »kontrollierte« (also gewerkschaftliche vereinbarte und betrieblich genutzte tarifliche Öffnungsklauseln) Dezentralisierung handelt: Beides hat zugenommen. [2] Damit lässt sich auch der schwarze Peter nicht länger einseitig den wahlweise »betriebsegoistischen« oder »ohnmächtigen« Betriebsräten oder den ebenfalls wahlweise »schwachen« oder vom Geist des Neoliberalismus »infizierten« Gewerkschaften zuzuschieben. Auf beiden Ebenen - in Tarifverträge wie auch Betriebsvereinbarungen - lässt sich diese Dezentralisierung, d.h. »Verbetrieblichung« feststellen. [3] Wenn also diese Verlagerung von Regelungen über direkte und indirekte Lohnbestandteile auf Betriebsebene festgehalten werden kann, lässt sich auch auf dieser Ebene immer noch fragen, was hier eigentlich mit Standortsicherung gemeint ist: Arbeitsplätze oder Unternehmensstandorte? Und selbst wenn es um Arbeitsplätze im Sinne einer »Garantie«, wie sie - zuletzt z.B. von Klaus Franz in der »Restrukturierungs-Vereinbarung« mit GM - gerne immer wieder gefordert wird, ginge: »gesichert« wären immer nur die Arbeitsplätze der jeweils im einzelnen Unternehmen, Werk oder Cost Center aktuell Beschäftigten, unabhängig von volkwirtschaftlichen Arbeitsmarkteffekten, unabhängig von der Lohnhöhe (Hartz IV, 1-Euro-Jobs, tarifliche Niedrigstlohngruppen etc. lassen grüßen) und unabhängig von allen qualitativen Bestimmungen des Arbeitsverhältnisses (geschweige der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit). Was heißt Sicherung, und was wird gesichert?Gefragt werden muss entsprechend immer (und das hängt mit der Frage, um welchen Standort es geht, zusammen), was eigentlich gesichert werden soll: Geht es um gesellschaftlichen Wohlstand oder vielleicht nur um Einkommen(srelationen)? Wessen Wohlstand und wessen Einkommen, und in was sind diese dann zu messen bzw. zu bewerten? In funktionalen ökonomischen Größen wie Kaufkraft? Oder als »Verteilungsgerechtigkeit«, wie dies in manchen keynesianischen Argumentationen noch durchscheint? Reden wir dann von verteilungsneutralen, sich im Rahmen der Formel von Produktivitätsfortschritt und Inflationsausgleich bewegenden und vielleicht bloß deshalb >gerechten< »Anteilen am Kuchen« (wie etwa Bispinck/Schulten, s.o.), oder gar von »Umverteilung« (und zwar »von oben nach unten«), also jener legendären »dritten Komponente« der Tarifpolitik, wie sie die Gewerkschaften früher noch im Programm hatten? Und ist diese Umverteilung etwa erst berechtigt, wenn und weil sie, wie in mancher auf Hochlohnpolitik setzenden keynesianischen Variante angenommen wird, einen Zwang zu Innovationen, Investitionen und Produktionsausweitung bei den Unternehmen in Gang setze? Oder geht es um nationale Arbeitsmarktkennziffern? Erinnert sei an die »funktionale Sockel-Arbeitslosig-keit« der »neoklassischen Synthese«, also an den Versuch, ein volkswirtschaftlich »vernünftiges« Gleichgewicht aus Lohnhöhe und Geldwertstabilität zu ermitteln, wie dies z.B. im »magischen Viereck« des bundesdeutschen Stabilitätsgesetzes formuliert ist. Oder geht es um spezifische Unternehmens-Kennziffern - und wenn ja, um welche? Auf solche Fragen müssen Standortsicherer gleich welcher politischen Herkunft und ökonomietheoretischen Überzeugung eine Antwort geben, wenn sie >Arzt am Krankenbett des Kapitalismus< spielen wollen. Produziert werden je nach Antwort jeweils bestimmte Ausschluss- und Konkurrenzmechanismen: Aber auch die nationale Perspektive - und selbst eine den einzelstaatlichen Rahmen verlassende Perspektive wie die auf EU-Ebene formulierte »Lissabon-Strategie«, Europa zum mächtigsten Wirtschaftsraum zu machen - setzt immer noch auf Konkurrenz, d.h. dann: entweder Nachfrage hier oder in Asien (für die Nachfragetheoretiker), dito auf betrieblicher Ebene: entweder Arbeitsplätze in Bocholt bzw. Kamp Lintfort oder eben bei Flextronics in Zalaegerszeg, wohin die Handy-Produktion von Siemens wohl verlagert werden sollte. [4] Solche Null-Summen-Spiele der Konkurrenz-Logik sind derzeit vorherrschende »Meinung«. Festzuhalten bleibt: Das in Anlehnung an die neoklassische Arbeitsmarkt- und Lohntheorie formulierte schlichte Credo »Verzicht schafft Arbeitsplätze« ist auch innerhalb der Gewerkschaften (und egal auf welcher institutionellen Ebene) verankert. Demzufolge gilt Arbeitslosigkeit als Effekt zu hoher, eben nicht markträumender Löhne. Das Rezept ist so einfach wie bekannt und wird ja bis zum Exzess auch praktiziert: Löhne, inclusive all ihrer Bestandteile, runter - und das Gute an der Argumentation ist, dass sie sich selbst gegen Kritik immunisiert: In dieser Logik kann eine nach wie vor existierende Arbeitslosigkeit immer als noch nicht hinreichende Lohnsenkung interpretiert werden. Die Konsequenz dieser Logik lautet aber: funktionale Überflüssigkeit der von ihr Betroffenen (aus der Perspektive markträumender Löhne) einschließlich des Problems, wie diese sozialverträglich und friedlich entsorgt werden können... Linksreformistische Rezepte gegen angebotspolitische Wende in Gewerkschaften?Was sind die Rezepte bzw. »Eckpunkte« eines »Alternativprogramms« der »Links-Reformisten« gegen diese zynische Logik, wie Bernd Riexinger und Werner Sauerborn in ihrer Broschüre »Gewerkschaften in der Globalisierungsfalle. Vorwärts zu den Wurzeln!« [5] fragen? Die Antwort: »Beschäftigungspolitik, die Arbeitsplätze schafft« (ebd.). Doch was heißt das, und wie geht das? Die Formel dafür lautet, vereinfacht und verkürzt zusammengefasst: Lohnabschlüsse unterhalb des verteilungsneutralen Spielraums haben deflationäre Wirkung, schaden im Endeffekt der Gesamtwirtschaft und sind verantwortlich für mangelndes Wirtschaftswachstum und steigende Arbeitslosenzahlen, die Devise lautet ergo: Verteilungsspielräume ausschöpfen (oder gleich zurück zur »Hochlohnpolitik«), Binnennachfrage stärken, dies induziert dann Produktionsausweitungen und schafft Arbeitsplätze... soweit (ich bitte Keynes-KennerInnen um Nachsicht) die Einfach-Variante keynesianisch orientierter Lohnpolitik in einschlägigen gewerkschaftlichen Publikationen. Festzuhalten ist zweierlei: a) eine solche Position ist derzeit ökonomisch und wirtschaftspolitisch (vor allem in Deutschland) absolut in der Minderheit, und b) Keynesianismus findet bestenfalls auf Ebene der wirtschaftspolitischen Empfehlungen und Gutachten (z.B. in der Tarifabteilung von ver.di, oder jüngst mit Gustav Horn als Chef des neuen gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung) statt. Auf der Ebene betrieblicher Vereinbarungen und in der Tarifpolitik dagegen dominieren Pragmatismus und/oder angebotstheoretische Argumentationen. Zu erklären ist daher, woher die, wie Michael Wendl dies nannte, »angebotspolitische Wende« in der praktischen Gewerkschaftspolitik seit etwa Anfang der 90er Jahre kommt.
Die jüngste These in diesem - an sich alten - Zusammenhang ist die einer »veränderten internationalen Arbeitsteilung«. Es geht demnach nicht so sehr darum, dass Unternehmen ihre Produktion bzw. ihre Standorte komplett verlagern, sondern darum, offener gewordene Märkte systematisch zu nutzen: auf der einen Seite (Teil-)Verlagerungen vor allem arbeitsintensiver, aber nicht unbedingt unqualifizierter Produktion, wo dies möglich ist, ins Ausland und auf der anderen Seite migrationspolitisch-staatlich flankierter und ermöglichter Einkauf billigerer Arbeitskräfte für hier, wo nötig (also vor allem im immobilen Dienstleistungssektor). Die veränderte Arbeitsteilung führt u.a. auch zum Einkauf billigerer Vorprodukte aus dem Ausland, die hier nur noch montiert werden, was sich in steigenden Anteilen der Importe an den Exporten niederschlägt (so viel zur Bedeutung von Deutschland als »Exportweltmeister«). Sie kann sich jedoch auch in multinationalen Joint Ventures niederschlagen, deren Produkte nur noch für den jeweiligen Endverbrauchermarkt unterschiedlich »gelabelt« werden. [9] Der »nationale« Produktionsstandort hat im Rahmen eines konsequenten Contract Manufacturing nur eine relationale Bedeutung als jeweils spezifischer Absatzmarkt. Vor diesem Hintergrund lassen sich analytisch vier Fälle unterscheiden, in denen Belegschaften vor der strategischen Entscheidung stehen, dem Argument billigerer Produktion respektive einer Betriebsschließung oder Konzessionen zuzustimmen. Davon ist m.E. vor allem einer interessant, weil er auf eine undiskutierte Schwäche verweist. Ausgeschlossen sind dabei also die Fälle: Die Produktion im Ausland ist unter Berücksichtigung aller »Produktionsfaktoren« nicht billiger, das Unternehmen mag sich in dieser Annahme irren (a) oder nicht (b), und: Die Produktion im Inland ist billiger, und das Unternehmen irrt sich in dieser Einschätzung (c). Hierher gehört übrigens die unter Standortsicherungsökonomen umstrittene Frage, welchen Anteil die Löhne als »Produktionskostenfaktor« im Verhältnis zu anderen »harten« und »weichen« Produktionskostenfaktoren haben, die enorm aufklärerisch sein könnte, vor allem wenn es gelänge, wieder darüber zu diskutieren, dass der Lohn für die von ihm Abhängigen mehr und etwas anderes ist als ein Produktionsfaktor und auch sie selbst etwas anderes als Produktionsfaktoren sind; gleiches gilt für Bildung, Infrastruktur, Qualifikation etc.) Was aber wäre, um auf die Frage zurückzukommen, im vierten Fall, wenn also alle jeweils »standortrelevanten Faktoren« tatsächlich günstiger wären im Ausland, und das Unternehmen irrt sich nicht bzw. blufft nicht? Damit ist, um Missverständnisse zu vermeiden, nicht dagegen gesprochen, gerade solche Fragen zum Gegenstand eines kollektiven Untersuchungsprozesses mit den von den Erpressungen bedrohten Beschäftigten zu machen und in den Belegschaften gemeinsam zu klären, ob und inwiefern an der Argumentation des Unternehmers etwas dran ist - was Bluff und was »reale« Erpressung ist. Die einsame expertokratische Stellvertreterpolitik in den Betriebsräten in den letzten Jahren hat hier viel dazu beigetragen, die Belegschaften in dieser Frage zu entmündigen, und sie hat alles andere als aufklärerische Prozesse über die Funktion des Lohns angestoßen. Aber: Die Hilflosigkeit rührt doch wohl eher daher, dass auf eben jene Situation, in der sich erweist, dass die »Exit«-Option des Kapitals real ist, ökonomisch keine Antwort gewusst wird. Die volle Brutalität der Konkurrenzlogik zeigt sich genau hier, wo die ökonomischen Abhängigkeiten und Funktionen als strukturelle Unterlegenheit der Lohnabhängigen auf einzelbetrieblicher Ebene deutlich werden. An dieser Stelle jedenfalls einfach auf ein Zurück zu »produktivitätsorientierter Tarifpolitik«, gar eine Wieder-belebung der »Umverteilungskomponente«, und - auf makroökonomischer Ebene - eine entsprechende Wiederbelebung keynesianisch orientierter Wirtschaftspolitik (d.h. die Orientierung auf das Vollbeschäftigungsziel durch deficit spending) zu setzen, erscheint mir zu kurz gegriffen. Erklärt werden müsste zudem nicht nur, warum diese offenbar in und seit den frühen 70er Jahren in der Bundesrepublik gescheitert ist (anders z.B. ausgerechnet in den USA, dem Vorzeigeland für die hiesigen »Marktradikalen« - allerdings um welchen Preis dort?). Dann würde sich zeigen, warum es nicht nur eine Frage des mangelnden politischen Willens ist, ob staatliche Haushalts- und Wirtschaftspolitik sowie gewerkschaftliche Tarifpolitik zu den Prinzipien keynesianischer Politik zurückkehren. In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage: »Warum gelingt es den Gewerkschaften seit über zehn Jahren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht einmal mehr, den verteilungsneutralen Spielraum auszuschöpfen?« (Riexinger/Sauerborn, a.a.O.) Vielleicht hat dies in der Tat mit den Verteilungsspielräumen selbst und mit veränderten ökonomischen Bedingungen zu tun, die den so genannten »Handlungsspielraum« staatlicher Politik einschränken? So verweisen Frank Deppe und Michael Wendl, zwei ausgewiesene Vertreter einer Position der Umverteilung und Wachstumssteigerung durch Nachfragestärkung, darauf, dass die »90er Jahre durch Überkapazitäten einerseits und die Internationalisierung des Preiswettbewerbs andererseits gekennzeichnet« seien und gehen davon aus, dass die »Arbeitskosten neben den Unternehmenssteuern die einzig national noch zu beeinflussenden Kostenfaktoren darstellen« [10]. Vielleicht hat dies aber auch mit den Nähen zwischen einer keynesianisch orientierten »gesamtwirtschaftlichen Lohnpolitik« und neoklassischen Vorstellungen zum Zusammenhang von Lohnniveau, Arbeitsmarkt und Geldwertstabilität zu tun, wie sie als »neoklassische Synthese« auch für die Bundesrepublik politikbestimmend wurden. [11]. Nicht zuletzt Keynes selbst habe dabei, so Thorsten Schulten, einige gravierende Einwände gegen die »High Wage Party« (John W. Rowe, Maurice Dobb) formuliert, u.a. dass unter den Bedingungen einer offenen Volkswirtschaft mit hoher internationaler Kapitalmobilität die Durchsetzung von hohen Löhnen lediglich dazu führe, dass ein steigender Anteil des Kapitals im Ausland investiert werde - »unless they are applied internationally, or unless we place obstacles in the way of the mobility of foreign lending«. [12] Der von Keynes angedeutete Protektionismus wäre eine eigenständige Kritik wert und muss hier ausgeklammert bleiben. Ich möchte nur kurz auf Keynes' Liebäugeleien mit dem »totalen Staat« der Nazi-Diktatur verweisen, unter dessen Bedingungen seine »Theorie der Produktion als Ganzes >viel leichter< hätte umgesetzt werden können«, wie er im Vorwort zur 1. Auflage der »Allgemeine[n] Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes« von 1936 erwähnt. [13] Wenn der nationale Rahmen jedoch ebenso wenig wie der betriebliche einen Bezugspunkt bilden kann für irgendwelche »Garantieansprüche« oder »Sicherheiten« und die bestehenden institutionalisierten Regelungen für eine Begrenzung oder gar Aufhebung von Konkurrenz nicht mehr greifen, dann stehen die Lohnabhängigen wieder am Anfang der Geschichte, die zur Gründung von Gewerkschaften führte - und zwar nicht nur in Bezug auf das erpresserische Lohndumping in internationalen Dimensionen, sondern auch in Bezug auf immer wieder neu geschaffene Konkurrenzsituationen im eigenen Land. Kirsten Huckenbeck erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/05 (1) Z.B. mit der Broschüre »Werktage werden schlechter. Die Auswirkungen der Unternehmenspolitik von Daimler Benz auf die Beschäftigten«, Offenbach 1997, die von BR und Vertrauensleuten bei damals noch Daimler Benz verfasst wurde und in der bereits festgestellt wurde, dass trotz Konzessionspolitik und Standortsicherungsvereinbarungen allein zwischen 1991 und 1995 rund 40000 Arbeitsplätze vernichtet wurden. (2) Vgl. Bispinck, R./Schulten, Th.: »Zur Kritik der wettbewerbsorientierten Tarifpolitik«, in: Hilde Wagner (Hrsg.): »Interventionen wider den Zeitgeist. Für eine emanzipatorische Gewerkschaftspolitik im 21. Jahrhundert. Helmut Schauer zum Übergang in den Un-Ruhestand«, Hamburg 2001, S. 209-225, hier S. 213 (3) Berthold Huber resümierte kürzlich, dass die IGM allein letztes Jahr 300 Betriebsvereinbarungen auf Basis von Öffnungsklauseln zugestimmt habe; FR vom 11.11.2004, zit. nach Schäfer, Jakob: »Opel - ein weiterer Meilenstein im Rückwärtsgang der IG Metall«, in: Netzwerk-Info Gewerkschaftslinke, Nr. 4/2004, S. 6 (4) Hürtgen, Stefanie: »Hase und Igel... Globalisierung: keine Geschichte ideologischer Märchenerzähler«, in: express, Nr. 12/2004, S. 13 (5) Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Nr. 10/2004, Hamburg 2004, S. 12 (6) Vgl. z.B. Daniel Beruhzi: »Widersprüchliche Bilanz. Gewerkschaften im Jahr 2004: Kampflose Niederlagen und offener Ausverkauf, aber auch beginnende Selbstorganisation an der Basis und in den Betrieben«, in: junge Welt, 28.12.2004 (7) Bispinck/Schulten, a.a.O., S. 218ff. (8) Das gilt auch für die Argumentation von Bispinck/Schulten selbst, die zunächst ausführen, dass die »materielle Grundlage der Tarifpolitik jener Jahre«, d.h. der ersten drei Jahrzehnte der BRD, ein »fordistischer Verteilungskompromiss« gebildet habe, »demzufolge die Reallohnzuwächse in etwa den Produktivitätsgewinnen entsprachen und damit im Sinne einer »Verteilungsneutralität« das Verhältnis von Lohn- und Kapitaleinkommen relativ konstant hielten«, um dann nicht nur darauf hinzuweisen, dass diese materielle Basis offensichtlich relativ unabhängig von den institutionellen Ausgestaltungen der tariflichen Regelsysteme sei, sondern im direkten Anschluss an diese Feststellung das Ende des »Verteilungskompromisses« einerseits auf den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, andererseits auf die politische »Gegenoffensive« der Arbeitgeber und deren »Aufkündigung« zurückzuführen. Ökonomischer Determinismus und politischer Dezisionismus bleiben hier unverbunden - Kehrseiten der gleichen Medaille? - nebeneinander stehen. Ebenso unklar bleibt, warum und wieso dieses goldene Zeitalter »aufgekündigt« wurde, wenn zudem die Gewerkschaften gerade durch ihre Hochlohnpolitik »Wachstumsmotor« gewesen sein und nicht nur sozial- und verteilungspolitische, sondern auch »wirtschaftspolitische Verantwortung« übernommen haben sollen; vgl. dazu Bispinck/Schulten, a.a.O., S. 210f. (9) Vgl. zum Contract Manufacturing und zur »Tarnkappenproduktion«: Hürtgen, Stefanie, a.a.O., S. 13f. sowie Kliche, Ralf: »Tarnkappenproduktion«, in: express, Nr. 2/2003, S. 15 (10) Vgl. z.B. Deppe, F./Wendl, M: »Von der Wirtschaftsdemokratie zur Standortpflege. Zur Kritik des Mitbestimmungsgutachtens«, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 3/99, S. 150-157, hier S. 155 (11) Schulten, Th.: »Solidarische Lohnpolitik in Europa«, Hamburg 2004, S. 107 |