letzte Änderung am 10. Dez. 2002

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Bericht der Arbeitsgruppe Gesundheitspolitik bei der Konferenz der Initiative für Vernetzung der Gewerkschaftslinken am 11./12.10.2002 in Köln

Es nahmen 16 Konferenzteilnehmer an der AG teil.

Das Einleitungsreferat wurde von Daniel Kreutz von der attac-AG "Soziale Sicherung" gehalten. Er erläuterte kurz, warum die Kostenexplosion eine Lüge ist. Die Forderungen der herrschenden Politik gehe in zwei Richtungen:

Bei der Forderung nach mehr Markt und Wettbewerb bestehe oft das Missverständniss, dass die Patienten, also die Hilfebedürftigen dann die "Kunden" wären. Tatsächlich falle die Kundenrolle den Krankenversicherungen zu, da sie es seien, die die Nachfrage bezahlen. Diese seien daran interessiert, um ihre Beiträge stabil zu halten, die "Preise" der Anbieter (Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte) zu drücken. In diesem Wettbewerb seien die Patienten am ehesten als "Rohstoff" zu sehen. Wir wären mittendrin in dieser Entwicklung zu einem Markt, die bereits mit der Gesundheitsstrukturreform von Lahnstein (1992) eingeleitet worden sei. Dabei seien jetzt neue qualitative Brüche zu befürchten.

In den Krankenhäusern sei mit der Finanzierung über ein Fallpauschalensystem als ein System von simulierten "Preisen" der marktförmige Umbau weitgehend abgeschlossen mit der Folge, dass die Liegezeit zu einem wichtigen Wettbewerbsfaktor werde. Da rasche Entlassungen schwarze und längere Verweildauern rote Zahlen brächten, sei mit einer Tendenz zu vorzeitigen Entlassungen ("quicker and sicker") und damit zu Kostenverschiebungen in angrenzende Versorgungsbereiche zu rechnen. Auch mit dem weiteren Vordringen privater Krankenhausketten im Markt sei zu rechnen.

Der Preis- und Rationalisierungsdruck werde den Druck zur Einsparung von Personal verstärken, da 70% der Kosten in den Krankenhäusern Personalkosten seien.

Im ambulanten Bereich gebe es das Finanzierungssystem der Fallpauschalen noch nicht. Die Einführung eines ambulanter Fallpauschalen sei aber Teil des amtlichen Reformkonzepts von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt für 2003.

Trotz der ausdrücklichen Ablehnung einer Privatisierung des Krankheitsrisikos mit Leistungsabbau und Aufspaltung des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) in Grund- und Wahlleistungen seitens des BMG seien weitere Schritte in dieser Richtung möglich. Insbesondere bei neuen Szenarien des Beitragssatzanstiegs sei mit massivem Druck von Arbeitgeberverbänden und liberal-konservativer Opposition in dieser Richtung zu rechnen, und Teile von Rot-Grün seien ausweislich von Papieren des Bundeskanzleramts, aus dem Wirtschaftsministerium, und Äußerungen von GRÜNEN auch längst für diese Option.

In der anschließenden Diskussion wurden folgende Punkte eingebracht:

Der Gesundheitswissenschaftler Rosenbrock habe festgestellt, dass der seit 1992 bei den Kassen eingeführte Wettbewerb wirke wie Heroin: er sei selbstzerstörerisch aber die Kassen bräuchten immer mehr davon. Dem sei die Forderung nach einer Krankenkasse für alle entgegenzustellen. Außerdem müssten die Verursacher von Krankheiten bezahlen. Eine 2-Klassen-Medizin gebe es bereits, dies sei aber noch nicht gänzlich im Bewusstsein. Der Medizinökonom Lauterbach gehe davon aus, dass 10% aller Krankenhäuser geschlossen werden müssten.

Die von ver.di Baden-Württemberg entwickelte Flugblattreihe "Die 12 dicksten Lügen der Gesundheitspolitik" (http://217.27.2.45/baden-wuerttemberg/lbz/meinungen/die_12_dicksten_luegen) liefere gute Argumente zu diesen Entwicklungen und werde auch von ver.di NRW herausgegeben.

Die neue/alte Bundesregierung plane in einem Vorschaltgesetz die Versicherungspflichtgrenze auf 4500 Euro anzuheben. Die bisherige Beitragsbemessungsgrenze würde bleiben. Für Medikamente solle der Versandhandel zugelassen werden. Die Großhändler des Pharmahandels sollten Preisabschläge hinnehmen müssen. Damit sollten die Beiträge stabil gehalten werden. Es sei aber festzustellen, dass das Hauptproblem der Kassen weiterhin auf der Einnahmeseite durch eine sinkende Lohnquote liege. Auch plane die Regierungskoalition in Richtung von mehr Qualität und von Prävention gehen zu wollen.

Die sogenannten Einkaufsmodelle bedeuteten, dass ich nicht mehr zu einem Arzt meiner Wahl gehen könne, wenn dieser keinen Vertrag mit meiner Kasse habe.

Es sei zu erwarten, dass die Pharma-Lobby aus allen Rohren gegen ihre Einbußen schießen würde. Wie diese Auseinandersetzung ausgehe, hänge auch davon ab, wie wir uns aufstellen würden. 80% aller Ausgaben der GKV entfielen auf 20% der Versicherten, das seien hauptsächlich die chronisch Kranken.

Gegenüber den Chronikerprogrammen (Disease Management Programme DMP) wurde kritisch eingewandt, dass bei allen Versprechen von Qualitätssteigerungen zu beachten sei, dass vor allem kurzfristige Sparziele die Politik prägten.

Welche Auswirkungen die Entwicklung von DMP für die Patienten haben werde, stehe nicht fest: es könne zu einer Verbesserung der Versorgung von Chronisch Kranken führen, aber auch einfach nur zur Kostensenkung genutzt werden. Die entscheidende Frage sei, wessen Interessen bei der Umsetzung die Oberhand behielten. Dabei sei die fiskalische und ökonomische Macht der Anbieter nicht zu unterschätzen. Zusätzliche Einnahmen der Kassen durch die Anhebung der Pflichtversicherungsgrenze könnten auch wieder aufgefressen werden durch Kosten für Chronikerprogramme, da derzeit noch unklar sei, ob diese nicht auch zu einer Kostensteigerung führen könnten.

Der Widerstand der privaten Versicherer sei auch nicht zu unterschätzen. Diese hätten bereits Klage gegen die Anhebung der Pflichtversicherungsgrenze angedroht. In der Tarifrunde der privaten Versicherungswirtschaft hätten sie bereits von ver.di verlangt auf die Forderung nach Erhöhung der Pflichtversicherungsgrenze zu verzichten. Bei der Kostendiskussion sei die Einnahmeseite in den Vordergrund zu stellen. Das bedeute, dass die Wirtschaft bezahlen müsse, sie sei der Verursacher von Arbeitslosigkeit, die zu niedrigeren Kasseneinnahmen führe. Außerdem würden viele im Arbeitsleben wegen der Arbeitsbedingungen das Rentenalter gar nicht erreichen. Die Pharmaindustrie mache durch viele Medikamente die Menschen krank. Mit den Möglichkeiten der Gentechnik sei künftig eine auf den einzelnen Menschen zugeschnittene Medizin möglich. Ob das noch von dem bestehenden Gesundheitssystem bezahlbar sei?

Um innerhalb des bestehenden Finanzierungssystems der Kassen zu höheren Einnahmen zu kommen, seien höhere Löhne und Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnverlust immer noch das beste Mittel, weil damit die Lohnquote und die Anzahl der Beitragszahler über die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen erhöht würden. Dafür gelte es Druck zu machen. Allerdings berichtete eine Kollegin aus Belgien, sinkende Arbeitslosigkeit müsse nicht zwangsläufig zu mehr Einnahmen führen, wenn neue Beschäftigungsverhältnisse vor allem in Teilzeit- und Niedriglohnjobs geschaffen würden. Am Beispiel der Umwelt- und Nahrungsmittelskandale würde deutlich, dass hier eine Kontrolle durch den öffentlichen Dienst fehle.

Es müsse auch gegen die Propaganda vorgegangen werden, die Menschen seien selbst schuld an ihren Krankheiten. Nachgewiesenermaßen sei es so, dass wer arm ist, eher krank werde und früher sterbe. Ein Arbeitsplatz mit schlechten Arbeitsbedingungen sei ein hohes Krankheitsrisiko, ein noch höheres sei Arbeitslosigkeit. 20 Mrd. Euro an Kosten würden jährlich durch Arbeitsschäden entstehen. Es gehe nicht darum, das Verhalten der Menschen zu ändern, sondern darum krankmachende Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu verbessern oder zu beseitigen. Dies sei früher Position der Gewerkschaften gewesen, werde aber heute von vielen in den Gewerkschaftsführungen nicht mehr oder nur noch teilweise vertreten.

Das System der Fallpauschalen (DRGs) und das sogenannte Einkaufsmodell bedeuteten ja gerade mehr Markt in einem sensiblen Bereich der öffentlichen Daseinsfürsorge. Dagegen müssten sich Gewerkschaften aussprechen. Es sei ein Problem, dass ver.di sich nicht eindeutig gegen die Einführung der DRGs ausspreche und Bsirske jetzt auch noch vor der Bundestagswahl zusammen mit Lauterbach das Einkaufsmodell gefordert habe, entgegen der ver.di-Beschlusslage, die in der Berliner Erklärung ein Zurückdrängen von Markt und Wettbewerb gefordert habe. Derselbe Lauterbach würde übrigens auch Ulla Schmidt beraten. Ein weiteres Problem bei Bsirskes Vorgehen sei, dass damit die Arbeitgeber mit ihren Forderungen nach Leistungsabbau und Privatisierung als Gegner der Gewerkschaften von der Bildfläche verschwinden würden.

Mit dem Begriff "Reform" sollten Gewerkschafter vorsichtig umgehen. Dies bedeute erfahrungsgemäß Verschlechterungen für uns.

Entscheidende Frage für die Gewerkschaften in dieser Auseinandersetzung sei, ob sie in der Lage seien, ihre Mitglieder zu informieren und zu mobilisieren.

Es sei wichtig, dass die Gewerkschaften sich eindeutig gegen Markt und Wettbewerb im Gesundheitswesen positionieren. 1977 habe der damalige Hauptvorstand der ÖTV festgestellt, dass die kostentreibende Grundstruktur des Gesundheitswesens in der öffentlichen Finanzierung und der privaten Leistungserstellung zu sehen sei. Folge man dieser Argumentation, so könne man entweder folgern, dass private Leistungserstellung auch privat finanziert werden müsse - was nicht im Interesse der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder sein könne - oder dass der öffentlichen Finanzierung auch eine öffentliche Leistungserbringung folgen müsse. Das laufe auf ein öffentliches Gesundheitswesen hinaus, in dem das Interesse privater Unternehmer nichts mehr zu suchen habe. Diese Forderung sei zu diskutieren.

Es wurde die Frage aufgeworfen, was unser Ideal eines Gesundheitswesens sei? In der früheren DDR hätte es gute Ansätze gegeben. Es hätte eine Einheitskasse, Polikliniken, ein gut ausgebautes System der Vorsorge unter Einbeziehung der Betriebe und Erziehungseinrichtungen (Kindergärten, Schulen) gegeben.

Wie soll es weitergehen mit der Kampagne gegen die von der Regierung geplante Gesundheitsreform? Die Fachkonferenz in Stuttgart/Ludwigsburg im Februar, die attac-Konferenz in Heidelberg, die Aktionen am 14.9. wären bisherige Meilensteine gewesen. Am Beispiel des Hafenkrankenhauses in Hamburg würde deutlich, dass es Bewegungen von unten gegen die Schließung von Krankenhäusern geben könne. In vielen Einrichtungen werde privatisiert und Beschäftigten gekündigt, gerade in der Pflege. Die Wohlfahrtsverbände würden sich als völlig üble Arbeitgeber verhalten. Dabei hätten viele Beschäftigte die Einstellung, sich zu wehren habe ja sowieso keinen Zweck. Die Wohlfahrtsverbände seien wie die Kirchen private Träger. Sie verhielten sich als Marktteilnehmer und hätten schlechtere Arbeitsbedingungen als im öffentlichen Dienst. In NRW seien 72% aller Krankenhäuser kirchlich.

Die Kampagne zur Gesundheit sei nicht nur Propaganda. Die Frage sei, ob wir mobilisieren könnten, wenn Pharma-Lobby und Privatversicherer ihre Interessen durchsetzen wollten. Ein Szenario für die Aktionsfähigkeit der Gewerkschaften sei noch nicht vorstellbar. Sollte die Pharmaindustrie und Pharmahandel bei Gewinneinbußen mit Arbeitsplatzabbau drohen, könne mit dem Argument gekontert werden, dass dort riesige Gewinne gemacht werden. So werde zum Beispiel der Pharma- und Chemie-Konzern Aventis im Jahr 2002 pro Beschäftigten einen Gewinn von mindestens 170.000 Euro machen.

Die Gewerkschaften müssten mit attac die gesundheitspolitische Arbeit weiter unter dem Motto und mit dem Ziel "Gesundheit ist keine Ware" betreiben. Um das Thema in die politische Diskussion zu bringen seien Regionalkonferenzen der Gewerkschaften mit Vertretern der Krankenkassen und Bundestagsabgeordneten vorstellbar. Vorstellbar seien auch Kundgebungen und Demonstrationen anlässlich wichtiger politischer Entscheidungstermine.

Dieter Janßen

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