Berlin, 26.9.99

Liebe KollegInnen,

(Dieser Bericht enthält nur einen kleinen Teil der vielfältigen Aktivitäten in und um das nunmehr seit zwei Wochen besetzte Alcatelwerk in Berlin Neukölln, besonders natürlich solche, an denen SI/SL/RJ beteiligt waren).

Am heutigen Sonntag abend sind 60 Alcateler vom besetzten Neuköllner Werk nach Paris gefahren, um dort morgen vor der Konzernzentrale gegen die Schließungspläne zu protestieren und um Solidarität bei den französischen KollegInnen zu werben. Unterdessen ist es gelungen dafür zu sorgen, daß sie auch von französischen KollegInnen empfangen werden.

Wesentlich mehr wollten mitfahren, aber es stand nur ein Bus zur Verfügung. Bei der Verabschiedung wurde auch ein Solidaritätsfax der CGT CEGELEC, einer letzten Jahr an Alstom verhöckerten Alcatel-Filiale in Nanterre verlesen, das wir noch rechtzeitig über unsere französischen GenossInnen erhalten hatten und großen Jubel auslöste.

Rechtzeitig konnten wir auch Buttons mit dem Logo: "Wir lassen uns nicht plattmachen!" auf einer gestern von uns gekauften und zur Verfügung gestellten Buttonmaschine herstellen. Es gibt bereits zahlreiche Vorschläge für weitere Buttons, mit denen nicht nur Solidarität ausgedrückt sondern mit deren Verkauf auch das Spendenkonto aufgefüllt werden soll.

Der ASTA der Technischen Universität hat den Druck von 2000 unserer Plakate übernommen und auch weitere Unterstützung zugesagt. Überall in Berlin sollen diese dazu beitragen, den Kampf der Alcateler bekannt zu machen und weitere Solidarität anzustoßen.

Das besetzte Alcatelwerk ist unterdessen zu einem ständigen Ort kultureller und politischer Veranstaltungen geworden. Delegationen aus vielen Betrieben sowie auch Einzelpersonen kommen, um sich über diesen vorbildichen Kampf zu informieren, Spenden und ermutigende Grußbotschaften zu übergeben oder einfach nur mit ihrer Anwesenheit den Alcatelern zu zeigen, daß sie nicht alleine sind.

Und tatsächlich ist der Sprung im Bewußtsein der Belegschaft spektakulär, die bis vor kurzem noch wie in vielen anderen Betrieben in die Sozialpartnerschaft vertraute, Überstunden und Stellenabbau akzeptierte und so auf die "Standortsicherung" hoffte. Vor drei Monaten war es kaum möglich, auch nur halbstündige Protestkundgebungen gegen den Stellenabbau zu organisieren, von dem weltweit 12000 der 120000 Beschäftigten des Multis betroffen sind. Dieser unerwartete Widerstand führt auch in der Konzernspitze zu einer enormen, kaum zu verheimlichenden Krise über den weiter einzuschlagenden Weg, nicht nur wegen der entgangenen Verkaufserlöse von 600000 DM täglich. Sowechselten auch mindestens 2 KollegInnen das Lager, die bisher im gegenüberliegenden Hotel Estrel mit Vertretern der Konzernspitze und einigen unternehmertreuen Angestellten den Arbeitskampf zu sabotieren versuchen und bei denen unterdessen die Nerven blank liegen.

Ein großes Plus in diesem Arbeitskampf ist die Tatsache, daß die lokale IG Metall-Führung im Unterschied zu vielen anderen früheren Betriebsschließungen diesmal die Aktionen unterstützt und diesen Kampf offensichtlich gewinnen will. Es ist an dieser Stelle müßig über die Motive dieses Sinneswandels zu spekulieren, der auch mit der Kritik der IGM am Sparpaket zusammenfällt. Jedenfalls trifft er eine weitverbreitete Stimmung innerhalb der gewerkschaftlichen Basis (und auch der bisher nicht Organisierten. Unterdessen sind auch fast alle erreichbaren Beschäftigten in der IGM organisiert (vorher waren es um die 20%). Dies beweist auch, daß die Gewerkschaften ihren Mitgliederschwund dann berwinden können, wenn sie sich als konsequente Interessensvertretung aller ArbeitnehmerInnen erweisen und nicht als Co-Verwalter von Stellenabbau und Opferung sozialer Errungenschaften. Letzteres zeigt in Berlin gerade die ÖTV-Führung mit erschreckenden Konsequenzen im Öffentlichen Dienst, bei Krankenhäusern, BEWAG, BVG usw.

Nichtdestotrotz ist bei vieln aktiven Alkatelern die Sorge vor einem faulen Kompromiß verbreitet, aber auch die Bereitschaft, einen solchen nicht ohne weiteres hinzunehmen. Dies entspricht nicht nur früheren Erfahungen. Sie spüren auch, daß 150 alleine in Berlin einem profitgierigen Weltkonzern nicht unendlich lange trotzen können, dessen Handeln mit der Rechtfertigung der Allmacht der Sachzwänge einer "globalisierten Weltwirtschaft" die Billigung der meisten Gewerkschaftsführungen und (sozialdemokratischen) Regierungen findet.

Umso wichtiger ist, eine aktive Solidarität zu organisieren bzw. diese auszudehnen.

Daß dies möglich ist, zeigt auch der Beschluß der IGM-Vertreterversammlung, am kommendem Mittwoch um 16 Uhr ein Treffen aller Betriebsräte auf dem besetzten Werksgelände zu organisieren.

Einige weitere Aktivitäten

Am Samstag vor einer Woche hatten RJ-GenossInnen (deren Hauptaktivität in Ostdeutschland bisher der Kampf gegen die dort wütenden Nazibanden war) Geld und Unterschriften am Alexanderplatz gesammelt, was dann aber von der Polizei unterbunden wurde. Der Bericht hierüber löste große Empörung bei den Alcatelern aus, die bisher die Polizei nur als liebe Menschen, die bei den zahlreichen Demonstrationen den Verkehr regeln, erlebt hatten.

Am letzten Mittwoch hatten wir einen Abend mit lateinamerikanischer Musik und einigen Informationen organisiert, an dem sich Leute aus der Chile-Koordination beteiligten hatten. Fast sämtliche Anwesenden unterschrieben auch einen Brief an die kolumbianische Regierung, in dem gegen die Drohungen gegen kolumbianische Gewerkschafter durch die von der Regierung organisierten Todesschwadronen protestiert wird. So zeigt sich, daß internationale Solidarität keineswegs nur eine leere Phrase sein muß.

Am Donnerstag fand eine Solidaritätskundgebung der IG Medien vorm Werkstor statt.

Am Samstag wurde auf Initiative eines spanischen Beschäftigten und seiner Familie ein "Spanischer Abend" mit Paella und Sangria organisiert. Auch im Zusammenhang mit den kulturellen Darbietungen leisteten Mitgleider der IG Medien unschätzbare Zuarbeit. Auch waren Mitglieder des AK Internationalismus der IGM sowie der Gewerkschafter aus Spanien und Brasilien anwesend.

Die riesige Zahl "türkischer Abende" mit Essen und Musik, die von türkischen und kurdischen KollegInnen organisiert werden, kann hier gar nicht aufgezählt werden.

Und daß die deutschen KollegInnen genauso Tag und Nacht im Werk aktiv sind und das Rückgrat der Besetzung stellen widerlegt all diejenigen, die zur Rechtfertigung ihrer eigenen Bequemlichkeit und Anpassung ständig vom "Ende des Proletariats" schwadronieren.

Besonders empörend ist in diesem Zusammenhang, daß angebliche linke Kommentatoren (nicht nur in der TAZ) meinen, nichts besseres tun zu können, als vor der Schürung antifranzösischer Ressentiments gegen einen Multi zu warnen, dessen Zentrale zufällig in Paris sitzt. Sie sollten sich einfach bei den ArbeiterInnen informieren, die eine widersprüchliche aber umso reichhaltigere Erfahrung machen, von der wir nur lernen können.

Wie schon gesagt, ist dieser Bericht nur ein kleiner Ausschnitt aller Geschehnisse. Die Tafeln im Pressezelt und an den Pinwänden reichen nicht mehr aus, all die eingehendene Solidaritätserklärungen und Pressemeldungen aufzunehmen. Wer es nicht schafft, direkt ins Werk zu kommen, kann weitere Informationen unter "www.labournet.de (Solidarität gefragt)" und der Homepage der IGM Berlin usw. abfragen. All die zahlreichen Meldungen, die hier fehlen, sollten ergänzt werden. Wir werden jedenfalls trotz aller Zeitknappheit (wir müssen nebenher noch normal arbeiten) versuchen, in den nächsten Tagen weitere Informationen zu liefern, damit Solidarität organisiert werden kann.

Thomas C.