DIE TRUGBILDER DER MEDIEN - DAS UNERBITTLICHE TICKEN GEHT WEITER

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 18. APRIL 1999

Wahrheiten, Halbwahrheiten und Lügen werden im Krieg von den Medien transportiert, erzeugen Ängste und bringen die Menschen gegeneinander auf. Was soll man von jener Meldung halten, die am 18. April in den Morgenstunden für Unruhe sorgte: „Die NATO bereitet Pläne für einen Einmarsch in das Kosovo vor. Rund 80.000 Soldaten seien für die Operation vorgesehen. Im US-Staat Colorado hätten sie bereits mit der Ausbildung begonnen. Weit über 100. 000 Mann sollen später die Grenzen sichern helfen.' (ZDF-Videotext, 18. April, 6.00 Uhr). Die Meldung, die auf einem Bericht der Zeitung 'Observer' zurückgeht, wurde bereits um 11. 00 Uhr in einem ZDF-Spezial vom englischen Außenminister COOK dementiert und NATO-Generalsekretär SOLANA bemühte sich eiligst, die öffentliche Meinung zu beruhigen, schloß aber ebenfalls Bodentruppen nicht generell aus, und sei sich sicher, daß dann 'alle Staaten der NATO mitmachen würden'. Selbst SCHARPING sah sich gezwungen mit der Eidesformel vom 'Nichteinsatz von Bodentruppen' zu hausieren.

Seit Ausbruch des Krieges in Jugoslawien wird von verschiedenen Seiten immer wieder ein Einsatz von Bodentruppen gefordert, gleichermaßen aber auch abgelehnt. Die offizielle Linie der NATO lautete bisher immer noch: Keine gewaltsame Invasion, wir werden MILOSEVIC mit unseren Bombern in die Knie zwingen, wir bombardieren so lange, bis er ein Abkommen unterzeichnet, daß die Rückkehr der Flüchtlinge garantiert, daß dem Morden und Vertreiben Einhalt geboten wird, daß den Rückzug seiner paramilitärischen Einheiten vorsieht, und daß eine Stationierung von 'Friedenstruppen' gewährleistet ist. MILOSEVIC hat das Ansinnen der NATO und aller bisherigen Friedensbemühungen in den Wind geschlagen.

Dieser Stand der Dinge hatte dann bereits vor zwei Wochen eine spürbare Wende erfahren, als der inoffizielle Hinweis und die offizielle Andeutung der US-Außenministerin ALBRIGTH, daß bei einer entsprechenden Vorbereitung durch das Bombardement eine 'Eskortentruppe' die Deportierten ins Kosovo zurückgeleiten könnte (die Rede war von 60.000 - 80.000 Mann), bekannt wurde. Schnell widersprachen ihr daraufhin alle NATO-Sprecher, die deutsche Bundesregierung. Nur die Militärs in Gestalt von NAUMANN und CLARK, übernahmen mehr oder weniger eine deutliche Meinungsführerschaft in der Frage von Bodentruppen; denn sie wissen, daß, wenn MILOSEVIC in spätestens 3 - 4 Wochen nicht eingelenkt hat, dieser Einsatz wohl unvermeidlich sein dürfte. Bosnien hat bleibend gezeigt, daß die Frage nicht darin besteht, wie das Kind heißt, sondern wie eine kommende Präsenz des Westens auf dem Balkan auszusehen hat! Daher muß es hinter den Kulissen kräftig rumoren; denn weder das eine, noch das andere anvisierte Ziel, vor allem die Verhinderung der Vertreibung der Kosovo-Albaner, ist von der NATO erreicht worden, und der alte Kriegssatz bewahrheitet sich in der Stunde des schrecklichen einmal mehr: 'Ein großer Teil der Nachrichten, die man im Kriege bekommt, ist widersprechend, ein noch größerer ist falsch und bei weitem der größte einer ziemlichen Ungewißheit unterworfen.' (CLAUSEWITZ: VOM KRIEGE).

Es zeigt sich nun, daß auf dieser Ebene Medien, die Nachrichten evozieren und verbreiten, in einem autistischen System - eine Art neuzeitlicher Gehirnwäsche - agieren, daß die verbreiteten Auffassungen nach dem Prinzip der großen Nachfrage nach Material für Nachrichten aller Art gesichet werden, und daß die Defizite der Berichterstattung die Frage nach der Glaubwürdigkeit von diesen Informationen hervorrufen. Hatte das Mediendesaster des Golfkrieges von 1991 eine Welle des Entsetzens über das eigene Versagen und die Ohnmacht hervorgebracht, ging man spätestens mit dem 1. Balkan-Krieg wieder zur gewohnten Tagesordnung über: Kriegsberichterstattung ist die Wiederholung von Fehlern; egal über welches Medium uns eine Nachricht erreicht, zugespielt wird; sie ruft die Vereinnahmung durch den 'Stoff' hervor, und die gesellschaftlichen Multiplikatoren sorgen dafür, daß eine 'emotionale Mobilmachung' im Sinne der Täter, der Opfer, der kriegsführenden Parteien, der sich verteidigenden oder unterlegenen, erfolgt.

Im jetzigen Balkankrieg versagen wieder die westlichen Medien: Der Beutejournalismus ist besonderes Kennzeichen der Berichterstattung geworden, und fast erscheint es so, daß sie zu Mitkriegsführenden geworden sind. Folgt man CLAUSEWITZ, dann gibt es kein realistisches Bild von den Geschehnissen eines Krieges. Das ist bitter, da der gesteuerte Video-Krieg der zensierten Information unterliegt; moderne Medientechnik im knalligen Aufreißer lassen mangelnde Sorgfalt vermissen, der Eindruck mag erweckt werden, daß sie sich eifrigst bemüht, die Absichten der kriegführenden Parteien zu erläutern. Diese Umstände verunmöglichen es, daß eine ernsthafte öffentliche Diskussion über die Kriegsberichterstattung vom Balkan entsteht, erst recht keine Korrektur ihrer Einfärbung stattfindet. Die Wahrheit über den Kriege erfährt man vermutlich erst dann, wenn er vorbei ist, die militärischen Ziele und politischen Ziele erreicht sind. Medien und Öffentlichkeit scheinen das zu akzeptieren, was der englische Schriftsteller ARTHUR PONSOBY einst formulierte: 'In Kriegszeiten ist das Versäumnis zu lügen eine Nachlässigkeit, das Bezweifeln der Lüge ein Vergehen und die Erklärung der Wahrheit ein Verbrechen.'

In der Realität kann die Wahrheit keine Verbrechen verhindern; sie beeinflußt jedoch die Berichterstattung und führt sie auf das gefährliche Terrain der Manipulation. Mit den Meldungen über den Einsatz von Bodentruppen in Jugoslawien wird der Nachrichtenschub in Gang gesetzt: Niemand weiß, ob er tatsächlich bevorsteht; vermutlicht wissen das nur die Militärs. Und doch ist es genau diese Nachricht, die Information und Desinformation in einem zum Bedeutungsträger werden läßt. Die Nachricht besteht aus zwei Informationsteilen, die dem Radio, dem Fernsehen, der Zeitung, dem Internet entnommen werden kann. Sie verflüchtigt sich schon in dem Augenblick, wenn der eigentliche Wert der Nachricht, oder eines Teils, hinterfragt wird: Im Hinblick auf Dauerhaftigkeit, Kontinuität und Kohärenz ist sie in der Zeitabfolge, in der sie erscheint, eigentlich wieder bedeutungslos: Die blitzartige Information erreicht uns nämlich 'später', sie hat sozusagen erst den langen Weg der Übermittlung von Botschaften durch die Institutionen genommen, bevor sie wiederum von einer 'aktuelleren' verdrängt wurde.

Ein Tennismatch auf einer Video-Texttafel aufgerufen, zeigt die Exesse, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart auftreten: Das Match ist bereits beendet, doch sie vermittelt diesen Eindruck zunächst gar nicht. Danach kann ein dritter Satz gerade angefangen haben, oder befindet sich in der entscheidenden Phase: Fakten drängen sich ins Bewußtsein und werden wiederum von anderen verdrängt, und zwar mit einem Tempo, das eine eingehende Prüfung weder zuläßt noch unmittelbar fordert. Medienpolitik im Krieg ist seltsam: Ihre Sprache ist die der Schlagzeile, auf Sensation versessen, bruchstückhaft, unpersönlich, rechtfertigend. Nachrichten nehmen mehr und mehr die Form von Slogans an, die man voller Erregung aufnehmen kann, um sie dann unverzüglich wieder zu vergessen. Sie hat mit den Botschaften, mit denen, die ihr vorausgingen oder folgen, nichts mehr zu tun. Sie sagen uns, welche Information wir für wichtig halten sollen, welche aus unserem Köpfen zu absorbieren sind: Der symbolische Code der Medien! Gleichsam werden sie zur Hintergrundstrahlung unseres sozialen und kulturellen Umfelds, ihre Technik ist eine bloße Maschine, wie das Gerhirn selbst, daß eine 'innere Tendenz' zur Verarbeitung von Informationen enthält: Darin sind Nutzungsmöglichkeiten angelegt und andere nicht, die ständige Verbindung zur Außenwelt problematisiert Themen und präsentiert Unterhaltung.

Diese offenkundige Widersprüchlichkeit erfährt medial eine gewisse Ausbeutung: Statt zu analysieren und alle Seiten des gegenwärtigen Krieges zu beleuchten, was der Situation angemessen wäre, ist die Berichterstattung einfach ereignisorientiert - und durch die Propaganda selektiv gesteuert. Kommunikation ist für unsere Kultur zur wichtigsten Form der Selbverständigung geworden. Deshalb - das ist m. E. der entscheidende Punkt - wird die Art, wie Medien die Welt in Szene setzen, zum Modell dafür, wie die Welt eigentlich aussehen sollte. Betrachtet man Nachrichten- und Krisenkommunikation, so werfen sich schier unlösbare Probleme auf. Vor allem die Verselbständigung des Kommunikationsprozesses im Krieg ist derart, daß man mit dem Erkenntnisstand nie Schritt halten kann.

Speziell für die obige Nachricht heißt das, daß die Digitalisierung und Internationalisierung einer Information, die uns erreicht, schwerwiegende und nachhaltige Glaubwürdigkeitsverluste hervorrufen muß; sie war in den 14. 00 Uhr Nachrichten in sich dermaßen 'veraltet', daß die eigene Unsicherheit über den Bestand dieser Information sich auch in diesem Artikel widerspiegelt. Wir können eben Manipulation und Desinformation nicht verhindern, wir können ihnen nicht entgehen. Es gibt keine Möglichkeit die Militarisierung von Medien und Information - und damit der Öffentlichkeit - abzuwenden, ihr entgegenzuwirken. Das ist das eigentliche Handicap im Ringen um die sachliche Information. Die Nachricht wird den Marktgesetzen der Moderne folgend, zur Ware, die zur Herstellung und Verbreitung von oftmals sachfremden Kriterien bestimmt ist. Was nützt uns eine Information, die - wie auch immer - ein Geschäft hervorruft, in zweiter Linie erst etwas mit Ethik zu tun hat? Wo ein Kriegsschauplatz ist, geht das Geschäft besonders gut.

Die Perversion im gegenwärtigen Krieg ist auch die, daß eine große Nachfrage nach Reportern für das Kriegsgebiet besteht, und daß sie sich 'gute' Reportagen durch harte Dollars bezahlen lassen. Was ist eine 'gute' Reportage? Daß man Nachrichten vermarktet, und damit schnelles Geld verdient, und es sei es nur dadurch, daß die Einschaltquoten der Fernseher bezüglich dieser hier untersuchten Nachricht, hochgedreht werden? Wenn sie, in dem Augenblick, wo sie abgerufen werden können, in sich schon nicht mehr in der öffentlichen Meinung 'verankert' sind, so stellt sich die Frage, von welchen Überlegungen sie sich leiten lassen?

Die Weiterverbreitung von Nachrichten werden von den Nachrichtenagenturen aufgegriffen und weitegegeben. Deren Entstehung liegen eindeutige marktwirtschaftliche Überlegungen zugrunde - die unmittelbare Gefährdung kann man jeden Tag erfahren. Trau keiner Berichterstattung über Kriegsnachrichten - eine der Grundregeln des CLAUSEWITZschen Basisrepertoire. Der Produktion von Trugbildern sind keine Grenzen gesetzt. Bilder können täuschen, Übertragungstechniken stürzen wie ein Jet oder Bomber auf uns nieder. Die Netzwelt ist ein Kürzel von einem Kürzel. Wie früher die Druckpresse hat heute die Kommunikationstechnologie die Macht erlangt. Sie bestimmt, in welcher Form Nachrichten übermittelt werden sollen, und sie bestimmen auch, wie wir darauf zu reagieren haben. Das, was sie weitergeben, wird zugleich verwandelt, wobei der ursprüngliche Wesenskern erhalten bleibt oder nicht. Sie sind ein lichtgeschwindes, gegenwartszentriertes Medium, gewähren keinen Zugang zur Vergangenheit mehr. Alles, was laufend weitervermittelt wird, erfährt oder erlebt man so, als geschehe es 'jetzt' und hier'.

Das graue Dunstloch, daß auf uns zukommt, wird m. E. auch die Metapher für die Geschichtsvorstellung sein, die uns von den Medientechnologien suggeriert wird. Auf alle erdenkliche Weise ermuntern sie uns, ständig mit Informationen zu jonglieren, sie machen den eigentlichen Kontext substanzlos, unbrauchbar und ahistorisch, sie versimpeln, präsentieren sie in einer Form, die nur noch noch Unterhaltungswert hat, eingepackt in Werbung und Krimis, in Hitparaden und BIOLEKs Kochstunden, - so wird die reale Sichtschau des Krieges verdrängt. Tyrannen jeglicher Coleur haben mit ihr umzugehen gewußt. Wie nützlich es ist, den Massen Vergnügungen und Zerstreuung zu bieten, um ihre Unzufriedenheit zu besänftigen, erfährt der gebeutelte Mensch auf den 'elektronisch-medialen Schlachtfeldern'.

Leider leben wir in einer Welt, in der die große Merheit den unterschwellig-lancierten Nachrichten Glauben schenkt. Wenn die Botschaften, die bezogen werden, in der Gestalt des Amüsements auftreten, die politischen Diskurse dadurch vereinnahmt werden, dann ist das Gesicht der Weltöffentlickeit nicht mehr zu retten; das grauenvolle Schauspiel - das Spiel des Medienweltmarkts - nimmt seinen Lauf.

Dietmar Kesten, Gelsenkirchen

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