letzte Änderung am 11. Febr. 2003

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Interview mit Miguel Angel Sandoval

Von Dario Azzellini

Miguel Sandoval arbeitet als Berater des CALDH, des Zentrums für juristisches Vorgehen in Menschenrechtsfragen, das u.a. die Klagen führt, gegen die für schwere Menschenrechtsverbrechen verantwortlichen guatemaltekischen Politiker und Militärs, von denen viele, wie etwa der grausame Ex-Diktator Rios Montt, nach wie vor in der guatemaltekischen Politik aktiv sind. Als langjähriges Mitglied der Guerilla URNG war er Teil der Verhandlungskommission der guatemaltekischen Guerilla URNG und am Abschluss des Friedensabkommens 1996 beteiligt. 1997 trat er aus der in Partei umgewandelten URNG aus, da er zu einem Minderheitenflügel gehörte, der auf die Stärkung der sozialen Bewegungen setzte. So sollte der notwendige Druck erzeugt werden, um die Durchsetzung der ausgehandelten Abkommen zu forcieren. Allerdings setzte sich eine Mehrheit durch, die der Ansicht war die Realisierung der Abkommen habe in einer Situation des "sozialen Friedens" höhere Chancen. Seit 1997 hat Miguel Sandoval zahlreiche soziale Kämpfe begleitet und an ihnen teilgenommen.

Wie lässt sich die Politik der aktuellen guatemaltekischen Regierung der rechten FRG zusammenfassend beschreiben?

Die Politik hat zwei wesentliche Merkmale. Das schlimmere ist, dass die Regierung während der vergangenen zwei Jahre nahezu täglich durch Korruptionsskandale erschüttert wurde. Der Präsident und die Regierung haben sich im wesentlichen mit Personen umgeben, die zum organisierten Verbrechen gehören. Das hat sogar dazu geführt, dass die US-Regierung etwa 30 Regierungsvertretern das US-Visum entzogen hat. Hinzu kommt dass die Parlamentsmehrheit genutzt wurde alle Kontrollinstanzen des Staates mit eigenen Leuten zu besetzen und dafür zu sorgen, dass sie nicht mehr ihren Aufgaben nachgehen, sondern den Interessen der Regierung folgen. Das hat zu einer Situation geführt, die viele Beobachter als eine Parteidiktatur beschreiben, ich würde eher von einer institutionellen Diktatur sprechen.

Das Ergebnis ist die vollständige Aufkündigung aller Friedensabkommen. Abgesehen von einigen kleinen Programmen, die durchgeführt werden und einigen nebensächlichen Gesetzen, die verabschiedet wurden. Das geschieht aber im Hinblick darauf, die internationale Gemeinschaft zu beruhigen und es geht dabei nicht um den Friedensprozess als solchen.

Das führt zu der paradoxen Situation, dass fast sieben Jahre nach Ende des bewaffneten Konfliktes in Guatemala immer noch nicht die Rede von einem Friedensprozess sein kann. Wir Leben inmitten völliger Unsicherheit und Straflosigkeit Seitens des Staates. Jeder internationale Beobachter, der hierher kommt, kann nicht erkennen wo der Friedensprozess sein soll. Das Land stolpert ziellos von Skandal zu Skandal, es existiert kein Programm zur wirtschaftlichen Entwicklung und die sozialen Aspekte des Friedensabkommens bleiben unerfüllt.

Auf welche ökonomischen Sektoren stützt sich denn die Regierung? Ihre Politik hat ja sogar die traditionellen Unternehmer gegen sich aufgebracht...

Es handelt sich um Sektoren, die an alle möglichen dunklen Geschäfte geknüpft sind und den Staatsapparat wie selten zuvor zur persönlichen Bereicherung nutzen. Dies und Fehlentscheidungen auf allen Gebieten, hat dazu geführt, dass sogar die Unternehmer gegen die aktuelle Regierung sind. Das kann ich noch nicht einmal als positiv oder negativ bezeichnen, es ist schlichtweg ein Faktum, was deutlich macht wie sehr diese Regierung selbst ihre eigentliche Basis verloren hat.

Der jüngste Skandal betrifft die "Eurobonos", Pfandbriefe, die die Regierung ausstellt und die niemand kauft, nicht einmal die Unternehmer, obwohl mehr als zehn Prozent Zinsen gezahlt werden und eine Zahlungsgarantie besteht. Es ist das erste Mal, dass sich Unternehmer aus politischen Gründen ein gutes Geschäft entgehen lassen. Das ist schon ungewöhnlich, denn Unternehmer suchen immer gute Geschäfte, ungeachtet der Umstände. Doch der Bruch zwischen Unternehmern und Regierung ist so tief, dass die Unternehmer alles tun, um die aktuelle Krise zu vertiefen und das ist schlecht für das Land, nicht nur für die Regierung. Es herrscht praktisch eine andauernde Ziellosigkeit, eine kontinuierliche Abwesenheit von strategischen Regierungshandlungen in jeder Hinsicht. Es könnte das Land mit der schlimmsten Krise in Lateinamerika sein – außer vielleicht Venezuela, aber da gibt es wenigstens eine Massenmobilisierung und die fehlt hier in Guatemala völlig, daher bleibt nur ein hoher Frustrationsgrad.

Verfügt die Armee über gute Beziehungen zur regierenden FRG und dem Präsidenten Alfonso Portillo ?

Sie ist eng mit der FRG verknüpft. So sehr, dass der Sohn von Rios Montt nun zum Verteidigungsminister ernannt werden soll. Da er allerdings nicht über die entsprechenden Erfahrungen verfügt, hat dies ernsthafte Widersprüche innerhalb der Armee verursacht. Dies wird zwar von der Armee nicht nach außen getragen, ist aber daran ablesbar, wie dort Posten wechseln und rotieren. Die internen Konflikte in der Armee werden durch die enge Anbindung eines großen Teils der hohen Dienstgrade an die Regierungspartei verschärft. Das hat schwerwiegende Folgen für das Land, denn verhindert eine wirkliche Institutionalisierung der Armee, diese bleibt durch politischen Druck beeinflusst.

Und die Armee bekommt heute mehr Geld, als noch während des Krieges...

Das ist eine der besorgniserregendsten Entwicklungen. Die Armee sollte nach Ende des Krieges um ein Drittel reduziert werden, ebenso wie ihre Finanzen. Doch sie wurde nur in einigen Aspekten reduziert, während der Haushaltsposten ähnlich dem während des Krieges ist, zum großen Teil aufgrund von Sonderzuweisungen des Präsidenten. Das entspricht zwei Entwicklungen, einerseits dass sich die Armee dagegen sträubt Macht abzugeben und andererseits besteht der Verdacht, dass diese Finanztransfers in Wirklichkeit Aktionen zur Geldwäsche sind. Es gibt genügend Informationen von Militärs, die besagen, dass diese Finanztransfers zu keinerlei Verbesserung in der Truppe führen, d.h. dort herrscht Korruption. Das alles geschieht auf dem Rücken des Friedensprozesses und ist sehr gravierend.

Wenn wir über die verschiedenen Bestandteile der Friedensabkommen sprechen, wie sieht es aus bezüglich der Landfrage?

Die Friedensvereinbarungen wurden in ihren formalen Bestandteilen erfüllt, d.h. es wurden die entsprechenden Kommissionen gebildet und einige Gesetze verabschiedet, die aber nicht befolgt werden. Die grundlegenden Probleme wurden aber gar nicht angegangen. Das schwerwiegendste davon betrifft die Landfrage. Über sechs Jahre nach Unterzeichnung bleiben die Vereinbarungen bezüglich der Landfrage unerfüllt, wie z.B. überhaupt das Landeigentum zu überprüfen und richtig zu vermessen. Der Agrarfond, der eigentlich dazu dienen sollte Ländereien für arme Bauern zu kaufen, ist ein Hort der Korruption. Es wurden Ländereien, Fincas, zu völlig überhöhten Preisen gekauft und die Vermittler haben dafür noch Bestechungsgelder kassiert. Außerdem besagten die Abkommen, dass der Agrarfond aus mindestens sechs oder sieben Quellen gespeist werden sollte, einschließlich staatliche Ländereien, ungenutztes Land, brachliegendes Nutzland, Sonderzahlungen der Banken, Ländereien, die sich Militärs vor allem im Norden im Krieg angeeignet haben, illegal von Großgrundbesitzern bewirtschaftetes Land - das ist nicht geschehen. Es wurde lediglich in korrupten und betrügerischen Geschäften schlechtes Land zu überhöhten Preisen gekauft.

Das hat dazu geführt, dass die Unzufriedenheit auf dem Land stetig wächst. Das drückt sich in Mobilisierungen aus, vor allem in Besetzungen von Fincas und Bauernmärschen. Die Bauernbewegung ist das dynamischste soziale Element im Land und schwer mittels traditioneller Politik kontrollierbar. Entweder wird die Landproblematik in Guatemala grundlegend angegangen oder wir werden weiterhin Gutsbesetzungen, Bauerndemonstrationen und letztlich Unregierbarkeit erleben. Es ist nicht mehr möglich die Leute mit schönen Worten zu überzeugen wenn die Ergebnisse ausbleiben.

Von den etwa 60 besetzten Fincas sind 80 Prozent Staatseigentum, die schon vor vielen Jahren an die Bauern hätten verteilt werden müssen. Die Besetzung dieser Fincas ist als faktisch nur die Erfüllung der Friedensabkommen auf direktem Wege. Das zeigt einerseits wie wenig die Abkommen erfüllt werden und andererseits, wie einzig und allein die soziale Mobilisierung und der soziale Druck der Weg sind, um die Einhaltung der Abkommen zu forcieren.

Zusätzlich reorganisieren sich die Paramilitärischen Gruppen der PAC, es hat in den vergangenen zwei Jahren verstärkt selektive Morde gegeben gegen Bauern- und Menschenrechtsaktivisten, vor allem auf dem Land. Die Situation hat sich in dieser Hinsicht also noch verschlimmert...

Auf dem Land gibt es eine Reaktivierung der Paramilitärs, der sogenannten "Patrullas de Autodefensa Civil" (PAC). Das sehe ich in einem allgemeinen Kontext der Remilitarisierung. Aber es hat auch die zwei Auswirkungen einer Mobilisierung der Bevölkerung und der Eindämmung der Kämpfe um Land.

Doch auch wenn diese die Unterstützung von Ex-Militärs der Veteranenvereinigung AVEMILGUA haben und auf Verbündete unter hochrangigen aktiven Militärs zählen, hat dies nicht ausgereicht, um die bäuerlichen Forderungen zu bremsen. Einige Bauernführer folgen sogar der Vorstellung, dass die Ex-PAC, da sie auch aus armen Bauern bestehen, eigentlich auch ein Interesse an Fortschritten bezüglich der Landfrage haben müssten. Jenseits der Remilitarisierung hat dies also nicht allzu großen Einfluss auf die Bauernmobilisierung. Aber es ist voraussehbar, dass diese Gruppen in Zukunft stärker zur Neutralisierung der Bauernmobilisierung genutzt werden könnten.

Ich hoffe, dass die Bauernkämpfe auf dem Land so stark sind, dass sie diesen Versuchen der Remilitarisierung, oder dem Ablenken von den wichtigsten Problemen der Bauern, entgegen wirken.

Der gefährlichste Punkt scheint mir aber die Möglichkeit einer Nutzung der PAC-Strukturen Seitens der aktuellen Regierung für eine Wahlmobilisierung bei den Wahlen in diesem Jahr. Das Versprechen einer finanziellen Vergütung könnte zu zahlreichen Stimmen für die FRG führen, was sehr schlimm für das Land wäre.

Die Bauernbewegung scheint – neben der Indianerbewegung – die einzige bedeutend mobilisierungsfähige soziale Kraft in Guatemala zu sein, wie sehen ihre Zusammensetzung und Aktivitäten aus?

Die Landfrage hat sich in letzter Zeit aus zwei wesentlichen Gründen zugespitzt: Einerseits die Nicht-Erfüllung der Friedensabkommen, die lange akkumulierte Forderungen darstellten. Und andererseits reifte während der vergangenen zwei Jahre eine massive Krise im Kaffeesektor heran, das Hauptanbauprodukt während des vergangenen Jahrhunderts. Diese Krise hat 350.000 Leute ihre Arbeit gekostet, vieles Fincas sind verlassen worden und das ist ein zusätzliches Element, das zur Mobilisierung vieler Campesinos beiträgt. Die Existenz von mehr als 60 besetzten Fincas zeigt deutlich wie zugespitzt die Situation ist.

Die Bauerndemonstrationen – vor einigen Wochen kamen erst wieder Zehntausende in die Hauptstadt – zeigen das Niveau der Verzweiflung. In diesem Jahr werden die Bauernkämpfe im ganzen Land zunehmen und es wird keinen Weg geben sie aufzuhalten, es sei denn mit einer massiven Repression wie Anfang der 80er, aber das scheint heutzutage ausgeschlossen. Sowohl aus internen Gründen, ich glaube nicht, dass es auch nur einen Sektor in Guatemala gibt, der eine solche Repression gutheißen würde, als auch weil ein internationaler Kontext existiert, der von einer Repression wie in den 80ern – gegen die "kommunistische Gefahr" usw. – eher absieht. Heute ist klar, dass die Landproblematik einer Lösung bedarf. Die Wege sind umstritten, aber es ist klar, dass das bäuerliche Elend gelöst werden muss. Es gibt sicher Sektoren, die den Demonstrationen ablehnend gegenüber stehen, aber sie sehen ein, dass sie unvermeidbar sind.

Zu welchen Vereinbarungen kam es bezüglich der indigenen Rechte und was wurde davon umgesetzt?

Guatemala ist international als die Wiege der Maya-Kultur bekannt. Die Maya-Kultur ist eine der sogenannten "starken Kulturen", d.h. dass sie sich als eigenständige Kultur entwickelt und erhält. In Guatemala sind etwa 60-70 Prozent der Bevölkerung Mayas, das macht deutlich, dass es ein zentrales Thema ist. Daher sind die Friedensabkommen zu "Identität und indianische Rechte" von grundlegender Bedeutung. Dennoch wurde seit der Unterzeichnung faktisch nichts davon umgesetzt, außer der Gründung paritätischer Kommissionen zur Diskussion verschiedener Themen der Abkommen im ersten Jahr: Spiritualität, Land, indianisches Recht, Partizipation auf allen Ebenen, Rechte der indigenen Frauen und einige mehr. Zwar haben alle Kommissionen Vorschläge erarbeitet, aber nicht ein einziger wurde umgesetzt. Das hängt mit der historischen Marginalisierung und dem rassistischen Charakter der Institutionen und Herrschaftseliten des Landes zusammen. Guatemala und seine internen Dynamiken können nicht ohne die starke rassistische Komponente verstanden werden, ebenso wie die bestialische Brutalität der Repression in den vorhergehenden Jahrzehnten nicht begriffen werden kann, ohne die rassistischen Sichtweise unter den hohen Militärs und im politischen System zu berücksichtigen.

Die indianische Bewegung hat sich schrittweise auf verschiedensten Wegen entwickelt und dabei die merkwürdigsten Formen genutzt. Von indianischen Priestern und Vereinigungen zur Respektierung der indianischen Sprachen über politische Organisationen bis zu Zusammenschlüssen verschiedenster Art. Es handelt sich um eine sehr vielfältige Bewegung. Und auch die Bauernorganisationen haben ihre starke indianische Komponente. Dabei ist die indianische Bewegung ein neuer Akteur. Diese beiden Bewegungen werden in den nächsten Jahren mit ihren Kämpfen auf der Tagesordnung stehen.

Die Nichterfüllung der Friedensabkommen bezüglich der indianischen Rechte bringt Guatemala in eine sehr komplexe Lage, denn die Indianer von heute sind nicht mehr die Indianer von früher. Sie sind sich ihrer Rechte bewußt, sie organisieren sich und mobilisieren. Es existiert auch ein wachsendes Bewußtsein anderer Sektoren, dass es nicht weiter möglich ist mehr Ausschluss, Marginalisierung und Diskriminierung zu produzieren.

Eine Rolle spielt dabei auch, dass die Forderung nach indianischen Rechten zugenommen hat, nicht nur in Guatemala, auch in Mexiko, Bolivien und Ecuador steht die Frage auf der Tagesordnung. Diese internationale Dimension situiert auch die Forderungen in Guatemala in einem breiteren Kontext. Es handelt sich um eine politische, soziale und kulturelle Entwicklung des Endes des 20. und Beginn des 21. Jahrhunderts. Die indianischen Völker können nicht mehr als etwas "Übriggebliebenes", im Aussterben befindliches oder als ohne eigenen Identität oder spezifische Rechte, für die sie kämpfen, angesehen werden. Das ist das Bedeutendste.

Dennoch hat bei vergangenen Wahlen die extreme Rechte zugelegt, während die Linke nicht die erhofften Resultate erzielen konnte und die URNG bei etwa 10 Prozent lag. Wie kann es sein, dass die extreme Rechte, die FRG um Rios Montt, nach den Erfahrungen der vorherigen Jahrzehnte, weiterhin Stimmengewinne in ländlichen Regionen verzeichnet?

Das ist sehr schwer zu begreifen und hat verschiedene Ursachen. Die guatemaltekische Gesellschaft ist zutiefst konservativ, auch wenn es schwer fällt es anzuerkennen und zu akzeptieren. Und die ärmliche demokratische Tradition Guatemalas führt dazu, dass klientelistische und auf "Caudillos", Führer, ausgerichtete politische Organisationen nach wie vor viel Gewicht haben. Hinzu kommt die spärliche Verankerung der Linken als Partei. Denn zugleich sind ja alle sozialen Bewegungen im Land von Linken initiiert und getragen, aber eben nicht Parteilinken. Das relativiert etwa die Frage hinsichtlich der gesellschaftlichen Verankerung der Linken in Guatemala. Während die Verankerung der Parteilinken sehr schwach ist, ist die der sozialen Linken sehr stark. Es existiert eine Spaltung zwischen beiden und das ist ja auch ein Thema welches in den vergangenen Jahren auf dem ganzen Kontinent diskutiert wurde. Erst wenn es gelingt diesen Dualismus zu überwinden, werden wir einen bedeutenden Erfolg in Wahlergebnissen erleben. So lange dies nicht der Fall ist, bleibt die Handlungsfähigkeit der Parteilinken marginal.

Viele der wesentlichen AktivistInnen sozialer Bewegungen sind Mitglieder oder ehemalige "Kader" der URNG. Warum schafft es die URNG nicht dies in politisches Kapital für sich umzumünzen? Wie wird innerhalb der URNG diskutiert und warum hat sie kaum Einfluss auf eine öffentliche Debatte?

Es gibt keine wirkliche Debatte innerhalb der URNG und das ist genau das Hauptproblem, die Abwesenheit einer politischen Debatte. Wie kam die URNG als Linke in diese schwierige Situation, in der sie sich heute befindet? Der Ursprung liegt meiner Ansicht nach in einer Fehldeutung der eigenen Rolle nach Unterzeichnung der Friedensabkommen. Das Grundproblem ist, dass die Ex-Guerilla-Linke nicht in der Lage gewesen ist sich von vertikalen, in vielen Fällen autoritären, politisch-militärischen Organisationen in breite, demokratische politische Organisationen umzuwandeln. Darüber wurde zwar wenig diskutiert, aber es spielt eine große Rolle.

Die URNG hat nach Unterzeichnung des Friedensabkommens eine falsche Entscheidung getroffen. Denn auch wenn sie Partner der Regierungspartei beim Friedensprozess und Unterzeichnung der Friedensabkommen war, hätte sie danach eine andere Dynamik auslösen und die Erfüllung der Friedensabkommen einfordern müssen. Sie hätten soziale Kräfte mobilisieren müssen, um Druck auszuüben und das ist nicht geschehen. Das ging so weit, dass in einigen Sektoren im ersten Halbjahr 1997, also nach Unterzeichnung der Abkommen, der Eindruck bestand, die URNG habe mit der amtierenden Regierung einen Pakt abgeschlossen, der ihr die Hände gebunden hatte. Die Folge war, dass die amtierende Regierung der PAN einer neoliberalen Umgestaltung den Vorzug gab, anstatt sich zuerst an die Umsetzung der Abkommen zu machen. Die URNG hat darauf nicht energisch reagiert, sondern alles zugelassen und so ihr Profil als Oppositionspartei verloren. Heutzutage ist URNG – neben der Tatsache, dass es sich um die historische Linke handelt, die die Friedensabkommen unterschrieben hat – nicht als Oppositionspartei in der Gesellschaft wahrzunehmen. Das ist schwer anzuerkennen und erklärt auch die internen Probleme.

Auf was sind die zahlreichen Spaltungen in der URNG zurückzuführen? Die letzte war ja im Mai 2002, als der historische Comandante Monsanto mit drei Strömungen die Partei verlassen hat...

In der URNG herrscht die Tendenz vor langjährige kleine Streitigkeiten und Unterschiede am Leben zu erhalten. Das betrifft auch die letzte Spaltung, wo ich ehrlich gesagt keine grundlegenden politischen oder ideologischen Unterschiede erkennen kann. Es handelt sich um persönliche Rivalitäten, die in der momentanen Situation keine Existenzberechtigung haben. Jene die die Partei verlassen haben und jene die geblieben sind, hatten nach Unterzeichnung der Abkommen die gleiche Position bezüglich des politischen Vorgehens. Sie entschieden sich dafür niemanden gesellschaftlich zu mobilisieren, offene oder verdeckte Allianzen mit der Regierung einzugehen... letztlich sind beide Strömungen dafür verantwortlich und keine von beiden stellt einen Ausdruck wirklicher Opposition zum Regime dar. So bleibt die Distanz zwischen parteipolitischer Linker und Bewegungen in der guatemaltekischen Gesellschaft erhalten.

Im November sind Wahlen, welche Perspektiven hat die URNG, wird es im schlimmsten Fall vier verschiedene Ex-URNG-Parteien geben?

Viele Leute hegen die Hoffnung einer Wiedervereinigung der parteipolitischen Linken, einer größeren Flexibilität, um Brücken zu anderen Sektoren zu bauen, aber das geschieht nicht. Das ist ein Problem, denn obwohl Guatemala eine konservative Gesellschaft ist, gibt es Raum für eine Linke, sie hätte viele Möglichkeiten, müsste dafür aber vor allem den Vertikalismus beiseite lassen, der sie prägt, sich nicht mehr gegenüber außerparteilichen Sektoren taub stellen und eine wirkliche Oppositionsrolle einnehmen.

Wenn es einen Einheitsprozess gäbe und Verbindungen zu den sozialen Bewegungen aufgebaut würden, könnte dies der Linken eine Perspektive geben. Sie würde die Wahlen nicht gewinnen können, aber doch wichtige Stimmenanteile bekommen. Dafür sehe ich allerdings wenig Chancen, ich denke wir werden eine gespaltene Linke bei den Wahlen sehen, die mit ihren kleinen Streitigkeiten beschäftigt sein wird – zur Freude und zum Vorteil der Rechten. Damit wird die Linke fünf bis sechs Prozent der Stimmen bekommen, mehr nicht.

Die guatemaltekischen Parteilinken glauben die Gralshüter des linken Denkens zu sein und verstehen nicht, dass die Linke ein politisches, soziales und kulturelles Phänomen ist. Alles was nicht parteipolitisch ist, wird nicht gesehen, nicht anerkannt, ausgeschlossen, während das parteipolitische ohne den Rest kein großes Gewicht hat. Die Linke als soziale Erscheinung im breiteren Sinne, als Weltsicht, als Prozess, der die gesellschaftliche Transformation zu mehr Gleichheit, Gerechtigkeit usw. sucht, wird in Guatemala als exklusives Parteieigentum gesehen und hat so keinen größeren sozialen Einfluss. Ich nenne das "die kleinen Kirchen der Linken", die keine gesellschaftliche Projektfähigkeit haben und daher auch keine Entwicklung durchmachen. Nehmen wir als Beispiel das Foro de Sao Paolo hier in Guatemala im Dezember 2002. Eine Versammlung diesen Kalibers hat auch hier großes Interesse geweckt, zugleich war die Unfähigkeit der organisierten Linken dem ganzen eine gewisse Ausstrahlung zu verleihen und sie zu nutzen wirklich bemerkenswert. Jenseits davon, dass die Presse konservativ ist und sie die Linke nicht mag, existiert eine bedeutende Eigenverantwortlichkeit dafür, dass das Ereigniss nicht das entsprechende Echo gehabt hat. Ich habe an verschiedenen Foren teilgenommen und in keinem war die Ausstrahlung so gering, wie hier in Guatemala. Unglücklicherweise, denn in allen Ländern des Kontinents wird sich auf das Treffen in Antigua bezogen, außer in Guatemala.

Dies obwohl das Foro de Sao Paolo im Vergleich zu den 90er Jahren heute deutlicher linke Positionen bezieht, weniger sozialdemokratische Beteiligung und dafür mehr von linken Bewegungen zeigte...

Ja, Anfang der 90er war der Fall der Berliner Mauer noch sehr frisch, der Neoliberalismus befand sich im Vormarsch und die Linke vermeintlich in der Defensive. Heute ist die Niederlage des Neoliberalismus deutlich zu sehen und folglich werden wieder viel mehr Erwartungen an linke Optionen gestellt. Dennoch gibt es Länder, wie eben Guatemala, wo es nicht gelungen ist diese Entwicklung zu sehen, zu begreifen, dass der Neoliberalismus keine Option mehr darstellt und wie die Ansätze der Linken – befreit von einem Haufen alter Dogmen – eine Option für die Zukunft sind. Nach einer Phase in der es darum ging, dass die Linke nicht verschwindet, befinden wir uns heute in einer Situation, in der die Linke weltweit Räume erobert. In verschiedenen Formen und mit unterschiedlichen Komponenten, eine Linke die weniger mit den alten Schemata verknüpft ist, aber letztlich eine Linke, die eine Transformation in die Richtung auf die Tagesordnung setzt, wie sie immer schon historisch von der Linken verfolgt wurde. Es wird offensichtlich nicht mehr der Sozialismus mit der gleichen Vehemenz wir früher vertreten, aber eben eine Transformation, mehr Gleichheit, die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, also die Wurzeln der sozialistischen Idee. So ist die Linke nicht nur nicht verschwunden, sondern die einzige Option, die wir haben. Nicht nur in Lateinamerika, wenn ich mir z.B. Italien anschaue... das Pendel schlägt heute wieder in die Gegenrichtung. Auch wenn das in Guatemala noch nicht sichtbar ist, aber hier kommt immer alles zehn Jahre später.

Wie ist die Situation in den 13 Gemeinden, die von der URNG kontrolliert werden? Ist dort eine andere Politik spürbar? Gibt es dort eine stärkere Unterstützung der URNG?

Die URNG hat dort die Bürgermeisterwahlen gewonnen, mehr nicht. Sie hatte bestimmt ein Interesse dort ein alternatives Modell zu schaffen, doch das ist nicht geschehen. Die kontinuierliche Beschwerde der Bürgermeister betrifft die mangelnde Unterstützung seitens der Parteistrukturen. Daher wird der Sieg bei den nächsten Wahlen dort nicht mehr so leicht wie beim ersten mal sein. Es gibt zu wenig Anzeichen eines alternativen Projekts, einer anderen Art Politik zu machen, eines starken Engagements der politischen Institutionen. In Brasilien z.B. entwickelte die PT in einigen Gemeinden den partizipativen Haushalt, das gab den Kommunen der PT – nicht in allen – aber doch in vielen Fällen, eine eigene Note. In Guatemala gibt es kein Merkmal das die Kommunalpolitik der Linken charakterisiert, wo sie die Bürgermeisterämter besetzt. Das ist ein bisher ungelöstes Problem, leider, denn es hätte eine andere Verwaltung entwickelt werden können, es hätte von diesen Gemeinden eine Gestaltungsweise ausgehen können, die auf andere abfärbt, aber das ist nicht der Fall.

Gegen Rios Montt, der grausamste Ex-Diktator Guatemalas und zentrale Figur in der regierenden FRG, läuft seit geraumer Zeit ein Verfahren wegen Völkermord. Kürzlich wurde sogar ein Zeuge ermordet. Wie ist der aktuelle Stand?

Das Verfahren gegen Rios Montt wegen Völkermord befindet sich noch in der Phase der Ermittlung, aber die Darlegung der Beweise wurde schon eröffnet. Das Verfahren kommt jedoch nicht voran, weil keine Regierungsinstitution existiert, die bereit wäre die Kloake der Straflosigkeit aufzuräumen. Dennoch verlässst Rios Montt das Land nicht, da er weiß, dass es ihm so ergehen kann wie Pinochet, da in verschiedenen Ländern Anzeigen gegen ihn vorliegen.

Und welche Verfahren sind gegen den amtierenden Präsidenten Portillo angestrengt worden?

Im wesentlichen Korruptionsverfahren, aber die Verfahren kommen ebenfalls nicht voran.

Werden Portillo, Montt und andere die wie Montt schwerwiegender Verbrechen angeklagt sind, letztlich ungestraft davon kommen?

Ich denke es wird in Zukunft Umstände geben, die erfolgreiche Verfahren ermöglichen. Angesichts der Verantwortlichkeit von Rios Montt bezüglich des Völkermords an zehntausenden von Indianern und angesichts der Beweise, glaube ich nicht, dass er als unschuldig aus einem Prozess hervorgehen kann. Zumindest nicht in einem Land in dem die Justiz funktioniert.

Funktioniert sie denn in Guatemala?

Nein, daher kann ich mir vorstellen, dass diese Prozesse über lange Zeit blockiert bleiben.

Welche Rolle hat die internationale Gemeinschaft hier gespielt? Ist genügend Druck ausgeübt worden?

Die internationale Gemeinschaft hat so weit sie konnte Druck ausgeübt. Sie sehen sich aber auch einer legal konstituierten Regierung gegenüber, daher äußert sich der Druck z.B. darin, dass hinter vorgehaltener Hand angekündigt wurde, dass alle Hilfe und Zusammenarbeit gestrichen wird, sollte Montt als Präsidentschaftskandidat ernannt werden. Sollte das geschehen, hätten wir einen klaren Beweis für das Engagement verschiedener Regierungen. Das ist bisher nicht geschehen – nicht einmal mit Pinochet. Die internationale Gemeinschaft übt Druck aus, wartet aber letztlich die Verhandlungen von Regierung zu Regierung ab. Die EU hat bereits geäußert die Unterstützung Guatemalas sei gefährdet, wenn nicht eine politische Kurskorrektur erfolgt, ähnlich äußerten sich auch die USA. Viele Länder sehen die Zukunft Guatemalas aufgrund der Korruption und Straflosigkeit mit großer Skepsis und das kann nicht ewig so weiter gehen.

In Guatemala ist eine gravierende Zunahme von Fällen "sozialer Säuberungen", also Morden an Straßenkindern, Sexarbeiterinnen usw., zu verzeichnen. Was steckt dahinter?

In Guatemala gibt es augenblicklich etwa sechs Morde täglich, was ein höheres Niveau als während des Krieges darstellt. Und die Zahlen steigen ständig, sie haben sich in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr, verdoppelt. Es handelt sich um eine Situation völliger Unsicherheit.

Die "sozialen Säuberungen" sind in Guatemala zu einer Strategie geworden, um die Kriminalität zu bekämpfen, was hochgradig kriminell ist und ohnehin nicht funktioniert. Es gibt schwerwiegende Anklagen gegen die Nationalpolizei Autor dieser Morde zu sein. Ebenso existieren Anschuldigungen gegen Banden des organisierten Verbrechens, die ungestraft in Guatemala agieren. Vor allem aber gibt es eine Schutzlosigkeit der Bevölkerung als Ergebnis der fehlenden Finanzen für eine Politik der öffentlichen Sicherheit. Die Nationalpolizei wird nicht mehr trainiert, ausgebildet und professionalisiert wegen fehlender Mittel, das geht so weit, dass die Polzeiakademie geschlossen werden sollte. Und das während alle dagegen protestieren, wie hohe Geldsummen an den Generalstab und das Verteidigungsministerium transferiert werden. Solange es keine umfassendere Finanzierung der Nationalpolizei gibt, wird es schwer sein die Kriminalität stärker zu kontrollieren. Darüber hinaus steht die Kriminalität natürlich auch mit der wirtschaftlichen Krise in Zusammenhang. Das heißt er müsste eine zweigleisige Politik sein, die einerseits soziale und wirtschaftliche Politiken implementiert und andererseits Sicherheitsmaßnahmen und Stärkung der Nationalpolizei. So lange dies nicht geschieht, wird die repressive Tendenz in "sozialen Säuberungen" ihren Ausdruck finden, die ganz klar auf Sicherheitsorgane der Staates und organisierte Gruppen - die auf die Komplizenschaft der Sicherheitsapparate des Landes zählen – zurück gehen.

Guatemala hat sich auch zu einem immer wichtigeren Durchgangsland für Drogentransporte entwickelt und selbst die Produktion von Mohnopium und Heroin hat begonnen. Wie sieht die Situation aus?

Vor kurzem wurden fünf ranghohe Militärs vom Dienst suspendiert gegen die wegen Verwicklung in den Drogenhandel ermittelt wird. Hier war auch die Intervention der US-Regierung stark, die fordert, dass ermittelt wird. Ein erstes deutliches Zeichen des Unmuts war, als sie diesen Militärs und anderen bereits vor der Anklage schon die Visa entzogen. Die US-Regierung erklärte auch, dass es schwerwiegende Folgen haben kann, wenn die guatemaltekische Regierung keine Maßnahmen ergreift. Als schlimmste Drohung steht der Ausschluss vom Freihandelsabkommen.

Das alles, weil der Drogenhandel in Guatemala ungestraft agieren kann. Vor einigen Monaten erst sind ein bis zwei Tonnen Kokain aus den Lagern der Drogenbekämpfungseinheiten verschwunden. In Folge wurde eine Anzahl Angestellter entlassen. Guatemala hat sich in ein wichtiges Durchgangsland verwandelt. Es gibt eine Reihe anerkannter Drogenkartelle in verschiedenen Regionen, aber die Regierung macht keine Anstalten sie zu bekämpfen, da sie möglicherweise selbst darin verwickelt ist. So sagt es zumindest die US-Regierung. Und das gehört wohl zu den Sachen, die man der US-Regierung glauben kann, da es sich gegen ihre Interessen richtet.

Guatemala ist eines der Länder mit der höchsten Anzahl klandestiner Flugpisten und mit der weitreichendsten Straflosigkeit bei der Nutzung von Unternehmen im Sinne des Drogenhandels. Sogar mit der Komplizenschaft der Polizei zur Drogenbekämpfung. Das zeigt gut die Problematik, denn wenn die Polizei zur Drogenbekämpfung in einem Land zugleich Drogenhändler oder deren Partner ist, kann es keine funktionierende Antidrogenpolitik geben.

Danke für das Gespräch

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