| letzte Änderung am 07. Jan 2003 | |
 
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"Raffarin schleicht um den heißen Brei", titelt die Pariser linksliberale 
  Tageszeitung Libération am heutigen Dienstag (4. Februar), während 
  die Boulevardzeitung Le Parisien schlicht kommentiert: "Geschickt". Die Schlagzeilen 
  gelten der Rede zur Rentenreform, die der konservativ-liberale Premierminister 
  Jean-Pierre Raffarin am Montag vor dem CES (Conseil économique et social)- 
  einem Beratergremium der Regierung in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen, 
  in dem die zählenmäßig stärksten Gewerkschaftsorganisationen 
  und die Arbeitgeber vertreten sind - hielt. Daneben wandte sich der Regierungschef 
  am Abend desselben Tages auch über den (privatisierten) ersten Fernsehkanal 
  an die Nation. Die beiden Auftritte sollten den Startschuss für die seit 
  dem Regierungswechsel im Frühsommer 2002 angekündigte, viel erwartete 
  "große Reform" im Bereich der Renten abgeben. 
  
  Viele individuelle Kommentatoren sind sich einig: "Er hat nichts gesagt", oder, 
  so ein vom Parisien befragter Bürger: "Er ist ein guter Verkäufer, 
  aber ich weiß nicht so recht, was er mir denn nun verkauft hat." Dennoch 
  kann der französische Premier sich derzeit auf ein stattliches Vertrauenspolster 
  stützen. Einerseits, weil der Regierungschef - bisher fast nur den Zeitplan 
  und die Methoden seiner "Reform" enthüllend - mit seinen wenig konkret 
  Äußerungen damit auch (noch) keine Hiobsbotschaften verkündet 
  hat. 
  Andererseits aber deswegen, weil er das Thema der Rentenreform, das seit zwei 
  Jahren als "sehr heißes Eisen" der französischen Innenpolitik gilt, 
  überhaupt anpackt.
  
  Die sozialdemokratisch dominierte Regierung von Lionel Jospin hatte Anfang des 
  Jahrzehnts - nachdem im Jahr 2000 Untersuchungsberichte im Regierungsauftrag 
  erstellt worden waren, wie der Rapport Charpin - das Thema vor sich hergeschoben, 
  aus Angst vor Reaktionen an der Basis der Linksparteien und in den Gewerkschaften. 
  Schließlich hatte das Jospin-Kabinett Entscheidungen in der Materie für 
  nach den Wahlen im Frühjahr 2002 angekündigt. Das Vertrauen in die 
  Regierung war dadurch nicht gerade gewachsen. Denn gleichzeitig wurde von den 
  durch die Regierung selbst eingesetzten Experten, einem Teil der Presse und 
  dem Arbeitgeberlager kräftig Panik geschürt. Die umlagefinanzierten 
  öffentlichen Rentensysteme, die auf dem berühmten "Generationenvertrag" 
  aufbauen, würden komplett zusammenbrechen, die Altersversorgung sei somit 
  überhaupt nicht mehr gesichert - so lautete die Befürchtung, die vielerorten 
  an die Wand gemalt wurde.
Dabei macht der neoliberale Diskus sich eine reale Begebenheit zunutze, die 
  freilich nur als Vorwand dient, um ein längerfristig verfolgtes gesellschaftspolitisches 
  Projekt durchzusetzen - nämlich die Einführung einer privaten Altersvorsorge, 
  und generell die Abwälzung möglichst vieler "sozialer Risiken" auf 
  das "selbst für sich verantwortliche" Individuum. Realität ist, dass, 
  bei einem gesetzlichen Rentenalter von (im Prinzip) 60 Jahren, ab 2005 einige 
  geburtenstarke Jahrgänge in die Rente eintreten: Jene, die in der Aufbauphase 
  unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bzw. der 1944 erfolgten Befreiung 
  Frankreichs geboren wurden. Damit wird das Rentensystem zeitweise einen erhöhten 
  Finanzierungsbedarf aufweisen, der aber auf sehr unterschiedliche Weise gelöst 
  werden könnte.
  
  Beispielsweise durch eine Verringerung der Zahl der (derzeit knapp 3 Millionen) 
  Arbeitslosen und der prekären Beschäftigungsverhältnisse, was 
  die Zahl der Beitragszahler erhöhen würde. Oder durch die "Legalisierung" 
  des Aufenthaltsstatus (mindestens) mehrerer zehntausend in die "Illegalität" 
  gedrängter Immigranten, die auf diese Wege gezwungen sind, unter extrem 
  schlecht bezahlten und sozial nicht abgesicherten Bedingungen für französische 
  Arbeitgeber zu schuften. Würden diese Arbeitsverhältnisse - die in 
  einigen Branchen (Bau, Reinigungssektor, Gastronomie) eine hohe wirtschaftliche 
  Bedeutung aufweisen - "normalisiert", würde auch dies die Beitragsaufkommen 
  erhöhen. Ferner wäre auch an eine zeitweise Erhöhung der Beiträge 
  von abhängig Beschäftigten und Arbeitgebern denken, was allerdings 
  bedeuten würde, der Tendenz zur Senkung der Sozialabgaben und Lohnnebenkosten 
  für die Unternehmer (die angeblich "Beschäftigung fördert") entgegen 
  zu steuern.
  
  Diese vorübergehende Zunahme der Zahl von Pensionsberechtigten wird in 
  den Folgejahren freilich durch eine Gegenbewegung ausgeglichen werden - so steht 
  ab 2036 die Verrentung extrem geburtenschwacher Jahrgänge ins Haus. Doch 
  jene, die Panik stiften und die Individualisierung eines Teils des "Alters-Risikos" 
  durchsetzen wollen, benutzen die Situation, um schwärzeste Prognosen an 
  die Wand zu malen. Dabei wird die absehbare Entwicklung der nächsten Jahre, 
  im Zeitraum 2005 bis 2010, einfach auf einen größeren Zeitraum (oftmals 
  bis 2040) hochgerechnet.
  
  Dabei werden die Tendenzen der kommenden nächsten Periode einfach linear 
  in die Zukunft verlängert, obwohl - wie ausgeführt - sich die Entwicklungstendenz 
  etwa ab 2036 in ihr genaues Gegenteil umgekehrt haben dürfte. Auch werden 
  nur bestimmte Faktoren berücksichtigt, nämlich die Tendenz zur Verlängerung 
  der Lebenserwartung in der Bevölkerung und die Erhöhung der RentnerInnen-Zahl 
  in den nächsten Jahren. Andere Faktoren, wie etwa die Steigerung der Arbeitsproduktivität, 
  die Anzahl der Erwerbslosen, oder die Möglichkeit eines Bevölkerungszuwachses 
  durch Immigration (die i.d.R. die jüngeren Generationen verstärkt), 
  bleiben hingegen ausgeblendet. Durch dieses Prozedere kommt man zu extrem pessimistischen 
  Prognosen für 2040 oder 2050, und erzeugt in Verbindung damit eine reale 
  Zukunftsangst, was die materielle Absicherung nach dem Arbeitsleben betrifft. 
  Insofern kann die rechte Regierung derzeit auf eine echte Grundzustimmung bauen, 
  wenn sie erklärt, dass "die Probleme nur schlimmer werden dadurch, dass 
  man sie nicht anpackt".
So hat es auch Premierminister Raffarin in seiner Rede vor dem CES ausgedrückt. 
  Dazu führte er aus: "Ich höre den (Anmerkung: gewerkschaftlichen) 
  Slogan : <Retten wir das Umverteilungssystem!> Hier, vor Ihnen, unterschreibe 
  auch ich diese Petition. (Aber) Es ist das Nichtstun, welches das Umverteilungssystem 
  zu Tode bringt - und es ist die Reform, die es retten kann." Ferner erklärte 
  er: "Der Aufprall im Jahr 2006 ist vorprogrammiert, aber solange das Schiff 
  den Eisberg noch nicht gerammt hat, geht die Kreuzfahrt weiter." Worte, mit 
  denen die Bevölkerung auf Opfer eingestimmt werden soll.
  
  Dass es um Opfer gehen wird, darauf deutet schon seit positiver Bezug auf die 
  "Balladur-Reform" vom Sommer 1993 hin. (Raffarin sprach in seiner CES-Rede am 
  Montag von "mutigen Entscheidungen, die 1993 ergriffen wurden" und die "erlaubt 
  haben, den Niedergang des Rentensystems in Grenzen zu halten".) Damals, die 
  voraus gegangene schwere Niederlage der Linksparteien bei den Wahlen im März 
  1993 sowie die Urlaubssaison - denn während der Sommerferien lassen sich 
  kaum Proteste mobilisieren - ausnutzend, hatte der neokonservative Premierminister 
  Edouard Balladur die erste größere "Reform" im Rentenbereich durchgesetzt. 
  Sie betraf zunächst die abhängig Beschäftigten im privaten Sektor, 
  aber nicht in den öffentlichen Unternehmen oder öffentlichen Diensten. 
  Dadurch unterbrach sie den bis dahin seit der Nachkriegszeit anhaltenden Prozess, 
  der die privat Beschäftigten allmählich an das zuvor erreichte Niveau 
  sozialer Errungenschaften bei den öffentlich Bedienstete heran geführt 
  hatte, und so zu einer Angleichung der sozialen Bedingungen nach "oben" beitrug.
  
  Für die abhängig Beschäftigten im privaten Wirtschaftssektor 
  bedeutete dies konkret, dass sie künftig 40 Jahre (statt bisher 37,5 Jahre) 
  Beitrag zum Rentensystem zahlen mussten, um die volle Pensionshöhe ausschöpfen 
  zu können. Ferner wurde aber auch eine drastische Senkung der Renten der 
  Beschäftigten in der Privatwirtschaft eingeleitet, die jetzt in den kommenden 
  Jahren greifen wird. Denn wenn bisher die Rente in Prozentanteilen gegenüber 
  dem Durchschnittslohn der zehn "besten" Verdienstjahre berechnet wurde, so sollte 
  der Bezugszeitraum nunmehr auf den Durchschnitt der "besten" 25 Verdienstjahre 
  ausgedehnt werden.
  
  Die neue Norm wird, nach einem schrittweisen Anpassungsprozess, nunmehr ab 2008 
  (für die Zukunft, noch nicht die bereits bestehenden Rentenansprüche) 
  definitiv greifen. Das aber bedeutet, dass - durch die Veränderung der 
  Berechnungsgrundlage - der Bezugslohn für die Rente drastisch gesenkt wird. 
  Damit werden die Beschäftigten im Privatsektor sowohl länger Beitrag 
  zahlen, als auch (mittelfristig, wenn die Auswirkungen der Reform voll greifen 
  werden) deutlich geringere Pensionsansprüche haben, als jene im öffentlichen 
  Sektor. Erstere werden dadurch auf mittlere Frist deutlich benachtteiligt sein, 
  auch wenn die öffentlich Bediensteten Nachteile anderer Natur in Kauf nehmen 
  müssen - beispielsweise werden im öffentlichen Dienst zahlreiche Lohnzuschläge 
  aus der Berechnung der Renten ausgeklammert.
  
  Damit gelingt es nunmehr den Neokonservativen, einen Neid-Diskurs gegen die 
  "privilegierten" und "zu Unrecht vor den Anforderungen des realen Wirtschaftslebens 
  geschützten" Beschäftigten öffentlicher Unternehmen oder öffentlicher 
  Dienste zu schüren. 1995 versuchte die damalige Rechtsregierung unter Alain 
  Juppé, unter Ausnutzung geschürter Neidgefühle, zu einer brachialen 
  Offensive gegen die sozialen Rechtspositionen der öffentlich Beschäftigten 
  anzusetzen. Damals misslang das jedoch gründlich. Das Juppé-Kabinett 
  hatte zu viele Angriffe gegen verschiedene soziale Bereiche miteinander zu einem 
  einzigen "Reform"vorhaben vermengt: Den Rückbau des öffentlichen Transportsystems 
  (die Stillegung von 6.000 "nicht rentablen" Streckenkilometern Bahn), die Angriffe 
  auf die Rentensysteme in verschiedenen öffentlichen Diensten - etwa bei 
  den Eisenbahnern -, die "Reform" der Krankenversicherung... Die Reaktionen im 
  Streikherbst - November und Dezember 1995, auf dem Höhepunkt waren 2 Millionen 
  Demonstrierende gleichzeitig in ganz Frankreich auf den Beinen - waren so heftig, 
  dass die Juppé-Regierung vom größeren Teil ihrer Vorhaben 
  abließ, nachdem sie sich ordentlich die Finger daran verbrannt hatte. 
  Besonders die Rentensysteme der öffentlich Bediensteten blieben daraufhin 
  unangetastet.
  
  Die Regierung Raffarin, die den 1995er Albtraum der Neokonservativen natürlich 
  ebenfalls im Nacken sitzen hat, geht deswegen heute weitaus vorsichtiger und 
  behutsamer vor. Allerdings durfte auch bei Raffarin am Montag der Fingerzeig 
  auf die öffentlich Bediensteten nicht fehlen. Zwar führte er aus, 
  er "akzeptiere nicht, dass pauschale Urteile die öffentlich Bediensteten 
  als Privilegierte darstellen". Es folgte dann aber dennoch die Beschwörung 
  einer Situation, in der "ein wirklicher Konflikt zwischen dem (übrigen) 
  Land und den öffentlich Bediensteten" entstehen könnte, da deren Renten 
  ja vom Steuerzahler aufgebracht würden. Daher durfte auch der - bisher 
  sehr im Diffusen bleibende - Appel Raffarins an die "Erfordernisse der Gerechtigtkeit" 
  nicht fehlen, denen zufolge "die Situationen von Personen, die sich in vergleichbarer 
  Lage befinden, harmonisiert" - d.h. aneinander angeglichen - werden sollten. 
  Gleichzeitig rief der Regierungschef die Franzosen (demagogisch) zur "Überwindung 
  der Egoismen" auf.
Auf jeden Fall sucht die derzeitige Regierung, stärker als ihre Vorgänger 
  1995, auch die Gewerkschaften einzubinden. Daher hat Premierminister Raffarin 
  bisher nur den "Kalender", also den Zeitplan seiner so genannten Reform, vorgegeben. 
  Ab dem heutigen Dienstag, 4. Februar beginnt die "Konsultation" der verschiedenen 
  Gewerkschaftsorganisationen durch Arbeits- und Sozialminister François 
  Fillon. Über die Inhalte, die sie dabei letztendlich durchsetzen will, 
  schweigt die Regierung sich bisher größtenteils aus.
  
  Dabei ist abzusehen, dass es der Regierung gelingen dürfte, eine Art von 
  Front aus "reformwilligen" Gewerkschafte rund um die sozialliberale und "modernistische" 
  CFDT, aber auch unter Einbezug der christlichen CFTC und der "unpolitisch-unabhängigen" 
  UNSA zu errichten. Die CFDT erhebt als Hauptforderung bereits jetzt, dass eine 
  stärker individualisierte Rente "à la carte" anerkannt werden müsse. 
  Dabei kehrt sie in der Öffentlichkeit vor allem das Beispiel jener Lohnabhängigen 
  nach außen, die zwar noch nicht das Rentenalter von 60 Jahren erreicht 
  haben, aber bereits länger als die (nunmehr) erforderlichen 40 Beitragsjahre 
  in die Rentenkasse eingezahlt haben, da sie seinerseits bereits im Alter von 
  14 oder 15 Jahren zu arbeiten begannen. Die Regierung wird sich wahrscheinlich 
  darauf einlassen. Auch ist die Rede davon, das Eintrittsalter in die Rede nach 
  Berufsgruppen und jeweiliger "Mühsamkeit" der Arbeit zu differenzieren 
  - ähnlich wie früher die Bergarbeiter ein früheres Renteneintrittsalter 
  hatten. Das mag in manchen Fällen ein legitimes Ziel sein, dient aber in 
  die Regierungsplänen vor allem dazu, die sozialpolitische Front zu zersplittern 
  und so einheitliche Mobilisierungen zu erschweren.
  
  Im Gegenzug zur Annahme der CFDT-Forderung wird die Regierung jedoch fordern, 
  dass das Rentenalter in beide Richtungen - nach oben und nach unten hin - flexibilisiert 
  wird. D.h. ein abhängig Beschäftigter soll mit 55 Jahren in Rente 
  gehen "dürfen", aber eben auch mit 70 Jahren, wenn er länger zu arbeiten 
  wünscht. Den Ausschlag wird dann letztendlich die Höhe des Rentenanspruchs 
  geben. Hier aber liegt der neuralgische Punkt. Denn der öffentliche Diskus 
  gilt zwar der Beitragsdauer, die verlängert werden müsse - für 
  die öffentlich Bediensteten auf 40 Jahre, bei den Beschäftigten des 
  privaten Sektors war (in Testballons) bereits einmal von 41 Jahren die Rede. 
  (Der Arbeitgeber-Verband MEDEF fordert seit Beginn des Jahrzehnts eine Erhöhung 
  der Beitragsdauer auf 45 Jahre.) Doch in der Realität sehen die Dinge ohnehin 
  anders aus. Statt mit 60 Jahren, wie in der Theorie, hören die Lohanbhängigen 
  im privaten Sektor durchschnittlich mit 57,5 Jahren zu arbeiten auf. Die Differenz 
  erklärt sich aus der gerade in diesem Alter erhöhten Arbeitslosigkeit, 
  aus Massenentlassungen und aus Sozialplänen mit Vorruhestands-Regelungen, 
  die allzu oft vom Staat finanziert werden. Eigentlich auf dem Spiel steht daher 
  gar nicht unbedingt - jeweils in vielen Bereichen nicht - die reale Dauer des 
  Erwerbslebens, sondern die Höhe der sozialen Ansprüche, die ein Beschäftigter 
  am Ausgang seines Arbeitslebens erheben kann. In vielen Fällen tendieren 
  diese eben dann (oder bereits jetzt) hin zur Arbeitslosen- oder gar Sozialhilfe.
  
  Eine wichtige Frage wird natürlich jene nach der Einführung und die 
  Rolle privater Rentenfonds sein. Bisher ausgeschlossen wird durch die Regierung, 
  jedenfalls auf der Diskursebene, die Schaffung börsennotierter Aktienfonds 
  für die Pensionen, wie sie in den USA gang und gäbe sind (...aber 
  im Zuge der jüngsten Börsenkrise zahlreiche Renter/innen für 
  mehrere Jahre ruiniert haben). Sie "sind unserer Sozialgeschichte fremd", erklärte 
  Raffarin in seiner Rede am Montag. Gedacht wird aber wohl daran, Ähnliches 
  unter anderen Formen einzuführen - die konservative Mehrheit unter Alain 
  Juppé hatte im März 1997 bereits ein Gesetz zur Einführung 
  privater Rentenfonds verabschiedet, das aber durch den Regierungswechsel in 
  der Schublade verschwand (die Loi Thomas).
  
  Heute ist vor allem daran gedacht, etwa betriebliche "Sparfonds" - die an die 
  einzelnen Unternehmen gebunden sind - einzuführen (für die bereits 
  Jospins Finanzminister Laurent Fabius die Tore geöffnet hat). Oder auch 
  daran, private Rentenfonds ähnlich der oben beschriebenen einzuführen 
  - aber "unter Kontrolle der Sozialpartner", etwa mit gewerkschaftlichen Vertretern 
  in den Aufsichtsräten. Manche "modernisierungswillige" Gewerkschafter versprechen 
  sich davon, eine "ökologische und soziale Orientierung" der Investionen 
  (die durch die Fonds getätigt würden) zu gewährleisten. Die "offizielle" 
  CFDT, aber auch der besonders "modernisierungsbewusste" Teil der CGT (um den 
  Wirtschaftswissenschaftler Jean-Christophe Le Duigou) etwa wären dafür 
  durchaus zu gewinnen.
  
Die Gewerkschaften demonstrierten zwar bisher gemeinsam Stärke. Am Samstag, 
  1. Februar demonstrierten - zum ersten Mal seit langem - die sieben zahlenmäßig 
  bedeutsamsten Gewerkschaftsorganisationen (CGT, CFDT, FO, CFTC, CGC, die Lehrergewerkschaft 
  FSU und der <Verband der Unabhängigen> UNSA) gemeinsam hinter einem 
  Fronttransparent in Paris. Auch die linken Basisgewerkschaften SUD hatten zu 
  der Demonstration aufgerufen. Neben Paris, wo rund 30.000 Demonstrierende auf 
  die Straße gingen, fanden in 110 weiteren französischen Städten 
  Demos statt. Insgesamt nahmen daran rund 350.000 Personen teil. Das ist etwas 
  mehr als die insgesamt 300.000 TeilnehmerInnen am letzten landesweiten Demonstrationstag 
  zum Thema "Rettung der Renten", am 25. Januar 2001. Es ist aber bisher "keine 
  Massenmobilisierung, nur eine Warnung", wie die Wirtschaftszeitung La Tribune 
  schreibt.
  
  Doch die Fassade der gewerkschaftlichen Einheit dürfte alsbald zerbröckeln, 
  zumal der gemeinsame Aufruf für Samstag wachsweich gehalten worden war, 
  um sie nicht vorab in Frage zu stellen. Vor allem die CFDT zeigt sich bereits 
  deutlich von den Sirenenklängen der Regierung angezogen. Der CFDT-Generalsekretär 
  François Chérèque etwa sagte am Montag, nach der CES-Rede 
  des Premierministers : "Der Premier hat gehört, was die Beschäftigten 
  am Samstag (Anm.: anlässlich der Demos) gesagt haben. (...) Herr Raffarin 
  ruft zu einem wirklichen <Test für den sozialen Dialog> auf. Wir 
  stehen bereit." Am Samstag selbst hatte der CFDT-Chef bereits erklärt, 
  dass er darum gehe, "der Regierung zu zeigen: Hier tun sieben Gewerkschaften 
  sich zusammen, um zu sagen: -<Man muss eine Rentenreform machen>. 
  (Anm.: !!) Und um der Regierung zu zeigen, dass sie diese Botschaft hören, 
  und mit den Gewerkschaften zusammen arbeiten muss."
  
  Radikalere Positionen nehmen derzeit besonders der Dachverband Solidaires (er 
  umfasst vor allem die linksalternativen SUD-Basisgewerkschaften und einige weitere 
  Organisationen), die Lehrergewerkschaft FSU und der populistische Gewerkschaftsbund 
  Force Ouvrière ein. Alle drei fordern derzeit, das Problem der Ungerechtigkeit 
  zwischen privat und öffentlich Beschäftigten dadurch zu lösen, 
  dass man die Balladur-Reform zurücknimmt und zu den 37,5 Jahren Beitragsdauer 
  - wie sie vor 1993 galten - zurückkehrt. (Das war damals noch die Positionen 
  aller Gewerkschaften, die 1993 die Reform ablehnten...) Auch die CFDT-Linke 
  teilt diese Position, in schroffem Gegensatz zum Dachverband CFDT, der davon 
  absolut nichts hören will.
  
  Hingegen sind die Dachverbände CFDT (sozialdemokratisch, die Spitze ist 
  klar neoliberal orientiert), UNSA ("unpolitisch-unabhängig", aber normalerweise 
  den Orientierungen der CFDT folgend) und CGC (die Gewerkschaft der höheren 
  Angestellten) im Prinzip offen für eine Verlängerung der Beitragsdauer 
  im öffentlichen Dienst und den öffentlichen Betrieben. Derzeit fordern 
  sie lediglich bestimmte Gegenleistungen dafür, etwa die Einbeziehung bestimmter 
  Lohnzuschläge in die Bemessungsgrundlage der Rente.
  
  Irgendwo in der Mitte steht die CGT, die derzeit eine eher undefinierbare Position 
  einnimmt. Einerseits sucht sie, um fast jeden Preis an der "gewerkschaftlichen 
  Einheit" mit der ungefähr gleich starken CFDT - die beiden bilden zusammen 
  die zahlenmäßig stärksten Dachverbände - festzuhalten. 
  Andererseits stellen in ihrem Inneren einige Sektionen und Branchenorganisationen 
  spürbar radikalere inhaltliche Forderungen auf, namentlich auch nach einer 
  Rückkehr zu den "37,5 Jahren" (eine Forderung, die allgemein durch Nennen 
  der bloßen Zahl verstanden wird). Dort, wo die CGT-Verbände sich 
  entsprechend posioniert hatten, findet sich die Forderung nach den "37,5" übrigens 
  mitunter auch in den gemeinsamen Aufrufen zu den lokalen und regionalen Demonstrationen 
  vom Samstag wieder - im Gegensatz zum Pariser Aufruf zum 1. Februar.
  
  Die Regierung selbst lässt bisher offen, wie stark sie auf die Gewerkschaften 
  bei der Reform zugehen wird. Am vorigen Samstag (1. Februar) hieß es am 
  Regierungssitz gegenüber der Presse (Le Monde), von "Verhandlung" könne 
  keine Rede sein, da letztendlich das Parlament entscheide - wohl aber von "vertiefter 
  Konzertierung". Arbeitgeber-Präsident Ernerst-Antoine Seillière 
  stellte aus Sicht seines Lagers klar, dass das Wort "Verhandlung" gar nicht 
  in Frage komme, da das letzte Wort bei der Regierung liegen müsse, und 
  wollte nur eine "Konsultierung" gelten lassen. Dagegen unterstrich Sozialminister 
  François Fillon - der um Glättung der Wogen bemüht sein muss 
  - später am Samstag abend, doch doch, es handele sich um Verhandlungen 
  : "Wir verhandeln mit den Gewerkschaften, dann stimmt das Parlament ab" - was 
  ja irgendwie auch bedeutet, dass die Regierungsmehrheit im Parlament das letzte 
  Wort behält. Die Gewerkschaften seien aber auf jeden Fall "nicht bloße 
  Zuschauer".
  
  Berater des Premierministers bemühten am Samstag die Formel von der "gemeinsamen 
  Reise", wobei auch klar sein müsse : "Wenn die Gewerkschaften uns nach 
  Nizza (in Südostfrankreich) bringen wollen, wir aber nach Perpignan (im 
  Südwesten) wollen, dann wird es ein Problem geben." Am Montag sprach Premierminister 
  Raffarin dann von "Dialog".
Der Zeitpunkt, zu dem die Regierung die "Rentenreform" (siehe 1. Teil) - wie angekündigt - lanciert, wird allerdings von einigen Ereignissen an der sozial- und wirtschaftspolitischen "Front" überschattet, die der Regierung gerade in dem Moment kaum in den Kram passen können. Auch wenn Premierminister Jean-Pierre Raffarin sich Anfang Februar noch auf positiven Umfragewerten von 55 bis 60 Prozent der Befragten ausruhen konnte - denn die Regierung ist bisher bei den schmerzhaften "Reformen" sehr zurückhaltend vorgegangen, und hat deswegen die sozial- und wirtschaftspolitischen Themen ein halbes Jahr lang hintangestellt -, droht die Idylle doch, nicht von Dauer zu sein.
Das erste Mal richtig in die Suppe der Regierung gespuckt wurde am 9.. Januar 
  2003. An jenem Tag stimmten die 138.000 Mitarbeiter der beiden, bisher noch 
  öffentlichen, Energieversorgungsbetriebe EDF (Elektrizität, 113.000 
  Mitarbeiter) und GDF (Gas, 25.000 Beschäftigte) über die Zukunft ihres 
  spezifischen Rentensystems ab. Dabei ging es vor allem darum, die Privatisierung 
  der beiden Versorgungsbetriebe - die 1946 als einheitliches Unternehmen, EDF-GDF, 
  begründet und vor wenigen Jahren erst in zwei autonome Einheiten aufgetrennt 
  wurden - einzuleiten. Der Staatsanteil an den Unternehmen soll unter die 50-Prozent-Marke 
  gedrückt werden. Um aber für Investoren attraktiv erscheinen zu können, 
  sollen die Renten aus dem betrieblichen Rechnungssystem von EDF ausgeklammert, 
  und in die allgemeine Rentenkasse eingegliedert werden. Bisher genossen die 
  EDF- und GDF-Beschäftigten ein spezifisches Rentensystem, das relativ vorteilhaft 
  war (der Renteneintritt ist im Prinzip ab dem Alter von 55 Jahren möglich, 
  wobei die volle Rentenhöhe - 75 Prozent des Endgehalts - beim Erreichen 
  von 37,5 Beitragsjahren ausgeschöpft werden kann) und integraler Bestandteil 
  der Unternehmensfinanzen. Im Übrigen spricht man im EDF-Jargon nicht von 
  "Beschäftigten und Rentnern", sondern von "aktiven und inaktiven Beschäftigten". 
  
  
  Die EDF-Leitung - die sich bereits in den letzten Jahren wie ein privater Konzern 
  verhalten hatte, u.a. durch eine extensive Politik des Aufkaufs von Unternehmen 
  in Ländern von Italien bis Argentinien - und die Regierung wollten nunmehr 
  dieses "Gewicht" aus den Rechnungsbüchern des Privatisierungskandidaten 
  entfernen. Im Gegenzug garantierten sie den, bisher (also vor der "Reform") 
  bei EDF beschäftigten, Lohnabhängigen die Beibehaltung ihrer Rentenhöhe 
  und -konditionen. Die Pension als "gesondertes Regime" in die allgemeine Rentenkesse 
  eingegliedert werden. (Für die künftig eingestellten Beschäftigten 
  allerdings könnten sich die Konditionen dann ändern.) 
  
  Ein entsprechendes Abkommen mit den Gewerkschaften wurde am 9. Dezember von 
  vier Organisationen unterzeichnet - der ehemals KP-nahen (und bei EDF bisher 
  dominierenden) CGT, der sozialdemokratischen CFDT, der christlichen CFTC und 
  der Gewerkschaft der höheren Angestellten, CGG. Hingegen lehnte der populistische 
  Gewerkschaftsbund FO das Abkommen rundheraus ab. Im Gegenzug zur Beibehaltung 
  der Konditionen ihrer Rente für die bisherigen Beschäftigten stimmten 
  die Gewerkschaften einer Erhöhung der Rentenbeiträge der abhängig 
  Beschäftigten - die bisher bei den Versorgungsbetrieben relativ niedrig 
  lagen - von 7,85 % auf 11 % zu.
  
  Doch innerhalb der Gewerkschaften kam es zu heftigen Konflikten. Die CFDT-Branchengewerkschaft 
  unterzeichnete das Abkommen, aber dem Vernehmen nach waren 80 Prozent ihrer 
  Einzelgewerkschaften gegen die Unterschrift. Die CGT-Energie, die bisher bei 
  EDF die - sehr korporatistisch geprägte, und stark mit dem Nuklearfilz 
  verflochtene - Mehrheitsgewerkschaft bildete, war zwar an der Spitze für 
  das Abkommen. Aber in ihrem Inneren blieb die CGT dermaßen gespalten, 
  dass sie unter der Bedingung unterschrieb, dass eine Urabstimmung der Beschäftigten 
  anberaumt werde. Dies war zu Zwecken der besseren Legitimation gedacht; zu dem 
  Zeitpunkt dachte niemand ernsthaft an eine mehrheitliche Ablehnung durch die 
  Beschäftigten. Zwei Tage vor der Abstimmung vom 9. Januar sprach sich Denis 
  Cohen, der Vorsitzende der Branchensektion CGT Energie, in Le Monde zugunsten 
  der Annahme der Reform aus. 
  
  Doch dann kam die Überraschung: 53,42 Prozent der Abstimmenden votierten 
  mit "Nein". Dabei war die Ablehnung unter den aktiven Beschäftigten (ihre 
  Wahlbeteiligung betrug 75,7 Prozent) noch deutlich stärker, denn zunächst 
  wurden Ablehnungswerte nahe der 60-Prozent-Marke bekannt gegeben. Das Ergebnis 
  fiel durch das Votum der "inaktiven Beschäftigten", also der Rentner (von 
  ihnen stimmten "nur" 45,8 Prozent ab), gemäßigter aus.
   
  Für die Regierung bedeutete dies einen deutlichen Rückschlag, auch 
  wenn sie sich nicht an das Votum gebunden wissen will - aus ihrer Sicht stellt 
  dieses (das durch die CGT verlangt worden war) lediglich ein Meinungsbild dar. 
  In seiner Rede vom Montag, 3. Februar zur Rentenreform bezog sich Premierminister 
  Raffarin nochmals auf die "Reform" bei EDF, als positives Beispiel für 
  eine vernünftige Regelung, "welche die Regierung unterstützt".
  
  Am 14. Januar 2003 dann nahm Premier Jean-Pierre Raffarin an der jährlichen 
  Generalversammlung des Arbeitgeberverbands MEDEF ("Bewegung der Unternehmen 
  Frankreichs") teil, wo er sich im Applaus sonnte. Dies war eine Premiere: Zum 
  ersten Mal  - seit Jahrzehnten zumindest -  ließ ein amtierender 
  Regierungschef sich auf solch demonstrative Nähe mit dem MEDEF, der vor 
  1998 noch CNPF (Nationalrat des französischen Patronats) hieß, ein. 
  Auf die wohlgesonnenen Vorhaltungen von MEDEF-Boss Ernest-Antoine (Baron) de 
  Seillière, das "Reform"tempo der Regierung sei nicht schnell und entschieden 
  genug, entgegnete Raffarin: "Ich gehe nicht moderato vor, sondern allegro." 
  Das bedeutete mit anderen Worten: Ich betreibe keine "gemäßigte" 
  Politik, aber ich bin gewillt, sie "gemächlich" umzusetzen - ein Hinweis 
  auf die methodischen Zwänge, denen sich das Regierunghandeln aufgrund möglicher 
  sozialer Widerstände ausgesetzt sieht.
  
  Dieser demonstrative Nähebeweis zum MEDEF könnte ein politischer Fehler 
  gewesen sein, wie sich vielleicht erst später herausstellen wird. Hinzu 
  kam, dass am 28. Januar in der Fragestunde der Nationalversammlung durch die 
  (sozialdemokratische) Opposition auf die geplante Senkung der Vermögenssteuer 
  ISF - die nur durch Bestverdienende bezahlt wird - insistiert wurde. Tatsächlich 
  enthält das Gesetz zur "Förderung der wirtschaftlichen Initiative" 
  - das Unternehmen Anreize geben soll - vier Bestimmungen zur Absenkung der ISF-Steuer 
  auf große Vermögen, die Unternehmenseinlagen stärker davon ausnehmen 
  sollen, im Namen der "Förderung von Beschäftigung". Dieses Gesetz 
  wird seit dem 4. Februar in der Nationalversammlung diskutiert. Die entsprechenden 
  Passagen wurden durch die Umgebung des ultraliberalen Politikers und französischen 
  Berlusconi-Fans Alain Madelin (der 1994/95 kurzzeitig Wirtschaftsminister war) 
  eingebracht. Da zu diesem Zeitpunkt bereits die Affäre um die Massenkündigungen 
  - aufgrund des Metaleurop-Skandals - aufgebrochen war, ließ es sich der 
  sozialdemokratische Parteichef François Hollande nicht nehmen, die Regierung 
  an dieser Stelle zu sticheln : Monsieur Raffarin habe "(lediglich) Mitgefühl 
  für die Entlassenen, und (Anmerkung: aber) Großzügigkeit für 
  die Inhaber von Großvermögen übrig". Dieser Satz dürfte 
  ein Stück weit in das kollektive Gedächtnis eingegangen sein, was 
  sich irgendwann noch einmal rächen könnte.
"Die Zeit der Ganoven in Unternehmergestalt", mit dieser Schlagzeile machte 
  die Pariser Libération am 21. Februar auf. Nicht deswegen, weil die linksliberale 
  Tageszeitung einen klassenkämpferischen Linienwechsel vollzogen hätte. 
  Denn auch die konservativ-liberale Umweltministerin Roselyne Bachelot sprach 
  wenige Tage später von "industriellen Ganoven" und fügte hinzu: "Man 
  findet dieselben Namen, wenn es um Menschenhandel geht, um Drogengeschäfte, 
  um die Meeresverschmutzung" - eine Anspielung auf die Ölpest, die vor einigen 
  Wochen durch dasTankerunglück der Prestige ausgelöst wurde - oder 
  eben "um die Industrie-Ganoven". Die Rede war konkret vom Schweizer Metallhändler 
  Glencore, der seit seiner Gründung 1994 im Kanton Zug ansässig ist 
  - weil dieser eine "Steueroase" bilde, wie die Pariser Abendzeitung Le Monde 
  präzisiert. 
  
  Glencore war 1994 aus einem vorstandsinternene Streit beim Unternehmen des belgischstämmigen 
  US-Finanzmagnaten Marc Rich heraus entstanden. Das Management hatte sich gegen 
  den Versuch des Vorstandschefs gesträubt, seinen Vize - den Deutschen Willy 
  Strothotte - zu entlassen, und hatte unter Führung des Letztgenannten daraufhin 
  eine eigene Firma gegründet, eben Glencore. Das Unternehmen spezialisierte 
  sich auf die Förderung von und den Handel mit Metallen und investierte 
  etwa in den Alumiumsektor in den USA, den Blei- und Zink-Abbau in Peru und Kasachstan 
  oder die Kohleförderung in Südafrika. Wegen ihrer geschäftlichen 
  Erfolge kürte die Londoner Fachzeitschrift Metals Business die Firma im 
  Jahr 2002 zum "besten Metallhändler" des Jahres, auch wenn "dubiose Praktiken 
  in afrikanischen Ländern" - so wiederum Le Monde -  ihrem Ansehen 
  in der Londoner City geschadet hätten. Marc Rich - der in den 80ern die 
  USA fluchtartig wegen Steuerbetrugs verlassen hatte müssen, aber kurz vor 
  dem Amtswechsel im US-Präsidentenamt 2000/01 durch den scheidenden Amtsinhaber 
  Bill Clinton amnestiert wurde, da er dessen Demokratischer Partei eine Million 
  Dollar gespendet hatte -  seinerseits versuchte, 2001 seine Investmentfirma 
  MRI an die russische Gesellschaft Crown Resources zu verscherbeln, die ihren 
  Sitz ebenfalls in Zug hat und die tief in das Prestige-Tankerunglück verwickelt 
  ist. Die Übernahme scheiterte daran, dass die Geldmittel der russischen 
  Firma ein wenig zu offenkundig aus kriminellen Geschäften herrührten.
  
  In Frankreich ist Glencore der wichtigste Aktionär der seit den 1890er 
  Jahren  im Betrieb befindllichen Firma Metaleurop in Noyelles-Godault, 
  in der alten Kohle- und Stahlregion Pas de Calais unweit der belgischen Grenze. 
  Der Betrieb verarbeitet vor allem Blei und Zink für Batterien, in jüngerer 
  Zeit wird auch Recycling betrieben. Er gehört einem europäischen Konzern, 
  (dem Groupe européen des métaux)  der 1988 aus der Fusion 
  spanischer und deutscher Metallfirmen hervorging. Obwohl seine Schwermetall-Emissionen 
  in die Luft seit den 1970er Jahren zurückgingen - von damals zwei Tonnen 
  pro Tag, auf jetzt 50 bis 80 Kilogramm täglich - bleibt der Betrieb der 
  grösste Blei- und Kadmium-Verschmutzer in ganz Frankreich. Über 10 
  Prozent der Kinder in der Umgebung leiden an Bleivergiftung. Seit 1996 hat die 
  Firma deswegen 4 Millionen Euro seitens der EU-Kommission in Brüssel einkassiert, 
  die der Sanierung des Produktionsstandorts dienen sollten.
  
  Aber der Aktionär "kassierte, verschmutzte und ging", wie Libération 
  kurz und treffend zusammenfasste. Glencore beauftragte zwar im letzten Jahr 
  ein Büro von Fachanwälten für Umweltrecht mit Verhandlungen über 
  die Entseuchung. Doch diese bildeten nur eine Fassade. Denn seit mindestens 
  einem Jahr, so schätzen nunmehr Regierungsbeamte, bereitete der Investor 
  die Zerlegung des Konzers vor. Ziel: Die finanzielle Austrocknung der Filiale 
  im Norden Frankreichs - um seinen umweltrechtlichen ebenso wie sozialen Verpflichtungen 
  zu umgehen. Das betrifft einerseits einen Sozialplan vom Juli 2002 für 
  250 der insgesamt 830 Beschäftigten, der bisher nicht umgesetzt worden 
  war, andererseits aber auch die seit 2002 geführten Verhandlungen mit der 
  im Umweltschutz tätigen Anwohnerinitiative DEA bezüglich der Entseuchung 
  des Geländes. (Davor hatten 60 Anwohner wegen Bleivergiftung gegen den 
  Betrieb geklagt.)
  
  Als Metaleurope am 27. Januar 03 den Konkurs beim Amtsgericht im nordfranzösischen 
  Béthune beantragte, war längst kein Geld mehr in der Kasse, um den 
  gesetzlichen Verpflichtungen der Firma nachzukommen. Weder für einen alten 
  oder neuen Sozialplan - die 1,2 Millionen in der Firmakasse genügen nicht 
  einmal, um die Löhne für den Monat Januar zu bezahlen, geschweige 
  denn zur Einhaltung gesetzlicher Kündigungsfristen - noch für die 
  obligatorische Entseuchung. Der Konzern Glencore selbst macht unterdessen einen 
  Jahresumsatz von 70 Milliarden Schweizer Franken. Die 830 Beschäftigten 
  stehen buchstäblich auf der Straße, in einem Bezirk, in dem die Arbeitslosigkeit 
  ohnehin - je nach umliegendem Stadtteil - 23 bis 25 Prozent beträgt. Seit 
  dem 1. Februar sind sie nunmehr allesamt in die technische Arbeitslosigkeit 
  geschickt worden. In der Region dürfen sich nunmehr die zurück gebliebenen 
  Anwohner darüber zerstreiten, welches von beiden legitimen Anliegen - der 
  Umweltschutz oder der Erhalt von Beschäftigung - Vorrang haben müsse, 
  da das Vorgehen des Unternehmens nunmehr beide Interessen scheinbar gegeneinander 
  gestellt hat.
  
  Das Handelsgericht in Béthune, bei dem der Konkurs für Metaleurope 
  beantragt worden war, lehnte die Auflösung der Rechtsperson des Betriebes 
  jedoch zunächst ab. (Dass das Handelsgericht in Béthune für 
  zuständig erklärt wurde, und nicht jenes - deutlich stärker wirtschaftsliberal 
  orientierte - von Paris, ist bereits als kleiner Erfolg zu bezeichnen.) Zunächst 
  soll der Sozialplan vom Vorjahr umgesetzt, und drei Monate lang die Suche nach 
  potenziellen Investoren fortgesetzt werden. Die Pariser Regierung ihrerseits 
  kündigte an, bei der beruflichen Umorientierung der 830 Beschäftigten 
  zwecks Einstellung bei anderen Unternehmen behilflich zu sein. (Im landesweiten 
  Durchschnitt finden bei solchen Massenentlassungen jedoch 60 Prozent der betroffenen 
  Beschäftigten nach einem Jahr, und 36 Prozent auch nach 5 Jahren noch keinen 
  Job.) Die Regierung geht in ihren Hypothesen von einer Aufgabe des Standorts 
  durch den bisherigen Betrieb aus. Ab 2004 sollen durch steuerliche Erleichterungen 
  Neuinvestoren an den Standort gelockt werden, für dessen Entseuchung Paris 
  eine Million Euro locker machen wird. Der Investor hatte seit 1996 bereits vier 
  Millionen Euro der EU-Kommission zu Entseuchungsmassnahmen einkassiert, die 
  in die eigene Tasche flossen.
  
  Am vorigen Samstag (1. Februar) demonstrierten zwischen 3.500 und 5.000 Menschen 
  aus der Region in der Kleinstadt Noyelles-Delevoye, wo Metaleurop liegt,  für 
  Zukunftschancen der Region. Schulen und Geschäfte blieben aus Solidarität 
  geschlossen. Dazu reisten auch die KP-Sekretärin Marie-George Buffet und 
  die sozialdemokratische Politikerin Marie-Noëlle Lienemann (zweitere hatte 
  im Vorjahr vergeblich im Wahlkreis kandidiert) aus dem Pariser Raum an.
Rechtliche Schritte gegen die "Piraten der Ökonomie" hat Frankreichs Arbeits- 
  und Sozialminister François Fillon in der Sonntagszeitung JDD vom 2. 
  Februar angekündigt. So sollen grenzüberschreitende Ermittlungen gegen 
  den Schweizer Aktionär Glencore eingeleitet werden. Doch zugleich ist seine 
  Regierung nicht eben "unschuldig" an der Fülle sozialer Hiobsbotschaften, 
  denen derzeit Beschäftigte an verschiedenen Enden des Landes ausgesetzt 
  sind.
  
  Seit ungefähr drei Wochen häufen sich in Frankreich die Fälle 
  von Massenentlassungen, oft unter Einsatz brutaler Methoden. Beim nordfranzösischen 
  Parfumhersteller Palace Parfum wurde die Fabrik während des Weihnachtsurlaubs 
  ohne Vorwarnung leergeräumt, die Beschäftigten fanden sie am 3. Januar 
  abrupt geschlossen vor. Die Betriebssetzung durch die 650, auf die Straße 
  gesetzten Beschäftigten beim Chipkarten-Hersteller ACT im westfranzösischen 
  Angers - die Firma war zuvor vom Elektronikriesen Bull an US-Investoren verkauft 
  worden, die Pleite gemacht hatten, weshalb die Entlassenen beim benachbarten 
  Bull-Werk besetzen gingen - wurde am 24. Januar durch ein Großaufgebot 
  Bereitschaftspolizei beendet. 
  
  Eine Elektronikfabrik des südkoreanischen Konzerns Daewoo in Lothringen 
  mit rund 600 Beschäftigten, die geschlossen werden sollte, brannte in der 
  Nacht davor "praktischerweise" nieder - das Werk unbekannter Brandstifter. Der 
  Daewoo-Konzern, der zuvor in dem Werk Elektronikröhren für den polnischen 
  Markt hergestellt hatte, will sich aus Frankreich zurückziehen ; seine 
  beiden letzten Produktionsstandorte in Frankreich waren das ausgebrannte Orion-Werk 
  und ein weiterer Standort in Lothringen, dessen Stillegung ebenfalls eingeleitet 
  wurde.
  
  Neben diesen (wahrscheinlichen) Brutalo-Methoden setzen auch renommierte Konzerne 
  derzeit massiv auf die Straße. Der Stahlriese Arcelor - hervor gegangen 
  aus eine transnationalen europäischen Fusion, an welcher der französische 
  Stahlkonzern Usinor führend beteiligt war - gab Ende Januar bekannt, bis 
  im Jahr 2010 mehrere europäische Produktionsstandorte (Eisenhüttenstadt 
  und Bremen in der BRD, Liège in Belgien, Florange in Lothingen) sukzessive 
  zu schließen und dabei 8.000 Stellen abzubauen. Die gesamte europäische 
  Stahlproduktion soll auf die beiden französischen Standorte Fos-sur-Mer 
  und Dunkerque konzentriert werden, da durch deren Küstennähe (zum 
  Mittelmeer bzw. Ärmelkanal) die Transportkosten drastisch reduziert werden, 
  weil die Rohstoffe für die Stahlproduktion längst nicht mehr aus den 
  benachbarten (ehemaligen) Kohlerevieren kommen. 
  
  Der französische Usinor- bzw. der nachfolgende europäische Arcelor-Konzern 
  hatte erst anlässlich der Fusion im Jahr 1998 den belgischen Produktionsstandort 
  Liège übernommen. Die Belgier sehen sich nunmehr verschaukelt, da 
  es Usinor aus ihrer Sicht nur darum gegangen sei, die am "Traditions"-Standort 
  Liège gehaltenen Patente einzusacken und den belgischen Betrieb auszuschlachten, 
  um ihn jetzt inšs Aus zu stoßen. Die belgische Region Wallonei hat bereits 
  gerichtliche Klagen und andere Aktionen angekündigt, unter anderem eine 
  "Guerilla" als Minderheiten-Aktionär (die wallonische Regionalregierung 
  hält 4,25 Prozent der Anteile am europäischen Konzern Arcelor). 
  
  Die Tatsache, dass der jetzige französische Wirtschaftsminister Francis 
  Mer der ehemalige Unternehmensführer von Usinor ist (wo er in den 80er 
  Jahren Massenentlassungen im lohtringischen Stahl- und Kohlebecken managte) 
  trägt wohl nicht unbedingt zur Förderung seines Images in diesem Zusammenhang 
  bei. Die Tatsache, dass die Pariser Abendzeitung "Le Monde" am 30. Januar 03 
  berichtete, Francis Mer besitze 225.000 Arcelor-Aktien mit Vorzugsausschüttung 
  (stock options), auch nicht.
  
  Der Zeitpunkt ist kein Zufall, denn kurz vor der Weihnachtspause - am 19. Dezember 
  02 -beschloss die Regierungsmehrheit im Parlament die "Suspendierung" der Vorschriften 
  zum Kündigungsschutz, die im Juni 2001 - nach den börsenbedingten 
  Massenkündigungen bei Danone - verschärft worden waren. Die damaligen 
  Maßnahmen der Jospin-Regierung hatten zwar eher nur symbolischen Wert. 
  So sieht das so genannte "Gesetz zur sozialen Modenisierung" (ein Kraut- und 
  Rübengesetz zu arbeitsrechtlichen Themen), das nach seiner Eindämpfung 
  durch das Verfassungsgericht am 17. Januar 2002 in Kraft trat, folgende Punkte 
  vor. Erstens, dass die Abfindungszahlungen im Fall betriebsbedingter Entlassungen 
  von 5 % auf nunmehr 10 % eines Monatsgehalts pro Jahr Betriebszugehörigkeit 
  erhöht werden. Das ist reine Augenwischerei, denn in fast allen Fällen 
  sehen Betriebsvereinbarungen und Sozialpläne ohnehin deutlich mehr als 
  dieses (alte oder neue) gesetzliche Minimum vor. 
  
  Zweitens, dass der Betriebsrat ein Vorschlagsrecht für alternative Optionen 
  - anstatt des geplanten Stellenabbaus - erhalten soll. Der Arbeitgeber ist aber 
  letztlich nur verpflichtet, die Vorschläge anzuhören und zu antworten. 
  Der Betriebsrat erhält das Recht, in einem Eilverfahren vor dem Richter 
  eine Feststellungsklage zu erheben, um sicherzustellen, dass die Anhörung 
  seiner Vorschläge stattgefunden hat. (Diese - an sich eher symbolische 
  - Vorschrift hätte allerdings einen Vorzug gehabt: Die Argumentation des 
  Arbeitgebers in diesem Kontext hätte die Vorlage für einen eventuellen 
  späteren Streit vor Gericht liefern solle. Falls die Argumente de Arbeitgebers 
  also nichts taugen, hätte dies zur besseren Anfechtbarkeit  nicht 
  gerechtfertigter Kündigungen beitragen können.) Drittens erhielt der 
  Betriebsrat eine Art Vetorecht, das einen Entlassungs- oder Sozialplan allerdings 
  nur für die Dauer maximal eines Monats zu blockieren vermag. In dieser 
  Phase hat der Betriebsrecht lediglich das Recht, einen "Vermittler" anzurufen 
  ; zu diesem Zweck sollte eine offizielle Liste möglicher "Vermittler" vom 
  Arbeitsministerium erstellt werden. Im Gespräch waren - so schrieb Le Monde 
  im Juni 2001 - "Betriebsberater, ehemalige Unternehmensführer und Beamte 
  im gehobenen Dienst, die in der Lage sind, eine (betriebswirtschaftliche, B.S.) 
  Diagnose zu erstellen". Real ist es nie dazu gekommen, denn die Ausführungsbestimmungen 
  für dieses Gesetz - das zu Anfang des "Superwahljahrs" 2002 in Kraft trat 
  - sind nie vom Ministerium erlassen worden. Es hat also nie Anwendung gefunden.
  
  Mit einer sozialen Revolution hatte diese Gesetz also offenkundig nichts zu 
  tun. Dennoch wurde es durch die Arbeitgeber als "lästig" betrachtet, da 
  es die Fristen im Falle betriebsbedingter Kündigungen zu verlängern 
  drohte. Aber ihre "Einfrierung" für  18 Monate durch die neue rechte 
  Mehrheit hatten Teile des Arbeitgeberlagers wie ein Freibrief interpretiert. 
  Minister Fillon kritisiert zwar die skrupellosesten Vertreter des Kapitals, 
  wie im Fall Metaleurop. Zugleich erklärte er jedoch in der letzten Januarwoche: 
  "Man hat viel zu lange glauben lassen, der Staat könnte die Unternehmen 
  darin hindern, zu entlassen." Und : "Das wäre, als wollte man Krankheit 
  einfach verbieten." (Stattdessen soll die Angebotspolitik verbessert werden, 
  d.h. den Unternehmern soll das Investieren wieder einmal schmackhafter gemacht 
  werden...)
  
  Auch öffentliche Unternehmen wie EDF und die Post kündigten in den 
  letzten Tagen Stellenstreichungen an. Die letzte Hiobsbotschaft kam am 6. Februar: 
  Die Verhandlungen mit einem potenziellen niederländischen Investor für 
  die Übernahme der Fluglinie Air Lib waren gescheitert. Damit verlor die 
  seit knapp zwei Jahren schwer gebeutelte Luftfahrgesellschaft ihre Flugerlaubnis. 
  Air Lib war zum Teil Opfer des "Bosses der Bosse", des Barons Seillière, 
  geworden. Tatsächlich hatte der MEDEF-Präsident davor seinen Namen 
  in einer Unternehmensallianz, in der er 50 Prozent der Anteile hielt, für 
  die Schweizer Luftfahrgesellschaft SwissAir hergegeben. Die SwissAir als Unternehmen 
  eines Nicht-EU-Staats hätte sonst nämlich nicht in Frankreich als 
  Fluggesellschaft aktiv werden können. Als die SwissAir aufgrund finanzieller 
  Probleme jedoch im März 2001 ihren Rückzug vom französischen 
  Markt bekannt gab, ließ Ernest-Antoine Seillière seinen Anteil 
  fallen wie eine heiße Kartoffel. Air Lib sitzt seitdem in der Tinte. Seit 
  dem 7. Februar sehen die insgesamt 3.200 Beschäftigten nunmehr ihrer Entlassung 
  entgegen.
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