letzte Änderung am 8. August 2003

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Frankreich, April bis August 2003 : Ein Überblick über vier Monate sozialer Bewegungen (Lehrer, Kultur, Larzac...)

Was wurde erreicht, was konnte verhindert werden ?

Die soziale Unruhe in Frankreich kommt nicht zum Stillstand. Am Wochenende des 9./10. August wurden auf dem Larzac, einem Hochplateau im südlichen Zentralmassiv, mehrere Zehntausend Menschen zu einem Widerstandsfestival erwartet. Laut einem Vorabbericht der Pariser Abendzeitung "Le Monde" (vom 5. August) handelte es sich um "DIE politische Tribüne dieses Sommers gegen die Reformen der Regierung". Derselben Quelle zufolge war mit "50.000 bis 100.000 TeilnehmerInnen" zu rechnen; die Veranstalter ihrerseits rechnen mit mindestens 100.000 Personen.

Das Gedächtnis des Larzac

Vor genau 30 Jahren, im August 1973, erlebte der Widerstand gegen die geplante Errichtung eines Riesen-Testgeländes des französischen Armee auf dem Larzac-Plateau im südlichen Zentralmassiv seinen ersten Höhepunkt - mit einer riesigen Demonstration auf dem verkarsteten Hochplateau. Damals wurden die Mentalitäten der, zuvor konservativ und katholisch geprägten, Region nachhaltig umgekrempelt. Widerständige Bauern, städtische Intellektuelle, Linksradikale, Hippies und auch Gewerkschafter aus der Industrie lernten sich kennen und schätzen. Die Landwirte des Larzac machten sich mit Formen kollektiver Bewirtschaftung des Bodens vertraut. Einiges von diesen kollektiven "Experimenten" ist bis heute übrig geblieben. Bis heute bleibt der Larzac eine Art "Laboratorium" für soziale Widerstandsbewegungen.

Nicht wenige junge Linke aus den Städten ließen sich damals, in den frühen Siebzigern, dort nieder und versuchten sich ihrerseits in der Schafzucht ­ mit Tieren, die ihnen die örtlichen Bauern schenkten. Einer von ihnen war ein Philosophiestudent aus Bordeaux und Sohn eines prominenten Genforschers: ein gewisser José Bové.

Er wurde später Sprecher für internationale Kontakte der linksalternativen Bauerngewerkschaft Confédération paysanne, die viel von ihrer Mobilisierungsfähigkeit aus der Larzac-Erfahrung schöpft. Am 1. August wurde er vom Haftrichter am Revisionsgericht von Montpellier (unter Auflagen) vorzeitig aus der Haft entlassen, wo er eigentlich bis Dezember 2003 hätte sitzen sollen. Bové war im Februar dieses Jahres letztinstanzlich zu 10 Monaten Haft verurteilt worden. Denn drei Jahre zuvor hatte er, zusammen mit indischen Bauern ­ die auf einer Europa-Solidaritätstournee gegen die Praktiken des Agro-Multikonzerns Monsanto unterwegs waren ­, genmanipulierte Reissetzlinge bei Montpellier ausgerissen. Die genmanipulierten Pflanzen gehörten dem agronomischen Forschungszentrum  CIRAD. Allerdings haben sich auch mehrere Dutzend Forscher des CIRAD im Juni 2003, mittels einer Petition, öffentlich gegen die Inhaftierung Bovés eingesetzt: Dessen Aktion habe jedenfalls den Verdienst gehabt, die öffentliche Debatte über die Risiken der Gentechonologie überhaupt zu ermöglichen. Anlässlich des ersten Prozesses gegen Bové wegen der Reispflänzchen, der am 15. Februar 2001 in Montpellier stattfand, hatte sich herausgestellt, dass die Leiter der Forschungsinstituts nicht einmal daran gedacht hatten, irgendwelche Risikostudien für die Möglichkeit des Pollenflugs und der Weiterverbreitung genmanipulierten Erbguts in der Umgebung des CIRAD anzustellen. Die offiziellen Vertreter des CIRAD hatten damals eine ziemlich jämmerliche Figur abgegeben.

Nunmehr konnte José Bové doch noch ­ als Quasi-Stargast - an dem "30-Jahre-Larzac"-Happening teilnehmen, das er ursprünglich selbst eingefädelt hatte. Doch dort ging es um mehr als nur um Erinnerung an historisch fernere oder auch nähere Kämpfe. Zunächst war das Ereignis "Larzac 2003" auch als Sprungbrett für die Gegenaktivitäten zum nächsten WTO-Gipfel angelegt, der vom 10. bis 14. September 03 im mexikanischen Cancun stattfindet. Bové wird dann voraussichtlich in Cancun sein, jedenfalls wenn die Justizbehörden ihm nicht das Verlassen des französischen Staatsgebiets verweigern, da er nach wie vor unter Meldeauflagen steht. Bové hat freilich Anfang August der Presse gesteckt, dass die Flugtickets bereits gekauft seien.

Aber die weltwirtschaftliche Dimension wird noch ergänzt durch eine massive Präsenz der aktuellen soziale Konflike in Frankreich, namentlich durch die zahlreiche Anwesenheit der streikenden Kulturschaffenden und der (bis zum Beginn der Sommerferien vor gut einem Monat) ebenfalls ausständischen LehrerInnen. Streikkoordinationen der Lehrkräfte aus dem dreimonatigen Ausstand im Schulwesen (April bis Juni 2003) mobilisierten ebenso auf den Larzac wie Kulturschaffende, die vor allem im Laufe des Juli durch ihre soziale Bewegung von sich reden machten.

Kulturstreik mit Folgen

Am 10. Juli dieses Jahres wurde bekannt gegeben, dass alle größeren Kulturfestival dieses Sommers streikbedingt annulliert werden mussten. Auf dem prestigeträchtigen Theaterfestival von Avignon hatten in der Nacht zuvor TechnikerInnen und KünstlerInnen mehrheitlich für die Fortführung des, 48 Stunden zuvor begonnen, Streiks votiert. Ähnliches ereignete sich auf dem Opernfestival von Aix-en-Provence und bei den Musifkestspielen "Les Francofolies" im westfranzösischen La Rochelle. Die französische Kulturwelt ist im sozialen Aufruhr. Das hatte es, in dieser Form, noch nicht einmal im Mai 1968 gegeben: Damals wurde etwa das Festival von Avignon durch "Agitation" gestört, aber nicht abgebrochen.

Die Protestierenden haben sich zugleich explizit zum Ziel gesetzt, den gesamten Sommer über die Protestflamme am Flackern halten zu wollen - nachdem die LehrerInnen am 1. Juli für zwei Monate in den Urlaub geschickt wurden.

Es handelt sich in der Regel um intermittents du spectacle (von intermittence, also Diskontinuität). So heißen die meist diskontinuierlich beschäftigten Kulturschaffenden, etwa SchauspielerInnen im Theater, aber auch Bühnenbauer und Toningenieurinnen. die zwischen zwei Aufführungen keinen Broterwerb haben und deswegen (bisher jedenfalls) nach Sonderregeln aus der Arbeitslosenkasse alimentiert werden. Das besondere Statut, das diese Unterstützung ermöglicht, wurde 1936 eingeführt. Also im Jahr des Front populaire. (Auf deutsch wird die Bezeichnung grobschlächtig mit "Volksfront-Regierung" übersetzt ­ im Französischen bezieht sich der Begriff "populaire", der ungefähr "vom kleinen Volk" bedeutet, aber anders als der deutsche Volksbegriff deutlich auf eine soziale Kategorie. So ist ein "quartier populaire" ein Bezirk, in dem vor allem Menschen aus den sozialen Unterschichten wohnen). Aber auch der massiven Generalstreiks und der Welle von Fabrikbesetzungen vom Mai und Juni 1936, die den Front populaire erst so richtig dazu trieben, schnell echte soziale Reformen vorzunehmen.

Doch im Laufe der 90er Jahre wurde dieses Statut auf eine weit größere Gruppe ausgedehnt als bisher - heute betrifft es 100.000 Personen (gegenüber 50.000 im Jahr 1991). Allerdings deswegen, weil die Arbeitgeber ihrerseits sich jetzt die Existenz dieser Unterstützungsmöglichkeit zunutze machten, um möglichst viele dauerhafte in kurzlebige Arbeitsplätze zu verwandeln. Unter den auf diesem Wege sozial unterstützten intermittents befanden sich (im Jahr 2001) insgesamt 65.000 Beschäftigte des "audiovisuellen Sektors", also von Fernsehsendern - öffentlichen und v.a. privaten - und von Filmproduktionsgesellschaften. In diesem Bereich sind auch die Missbräuche durch Arbeitgeber, denen es wirtschaftlich extrem gut geht und die auf diese Weise kurzlebige Beschäftigungsverhältnisse eingehen können, am bedeutendsten. Ihnen steht eine Gesamtzahl von 31.500 - also nur die Hälfte ! - Beschäftigten des so genannten spectacle vivant (ungefähr: lebendige Aufführung) zur Seite, also SängerInnen und SchauspielerInnen und ihre BühnentechnikerInnen, deren Arbeit- bzw. Auftraggeber oftmals nicht so finanzkräftig sind wie etwa private Fernsehsender. (Zahlen nach: "Les Echos" vom 6. August 03)

Daher rührt ein (der Unterstützung für die intermittents entsprechender) spezifischer Fehlbetrag in der ­ auch ansonsten leicht defiizitären - Arbeitslosenkasse, der in den letzten Jahren gewachsen ist: Im Vorjahr betrug er rund 800 Millionen Euro. Deswegen soll diese Unterstützung jetzt drastisch reduziert werden. Nicht so sehr durch Eindämmen der, von allen Politikern und Beobachtern konstatierten, "Missbräuche" durch Arbeitgeber (was in Worten freilich auch versprochen wird, ohne dass bisher sonderlich Taten folgen würden), sondern allein auf Kosten der abhängig Beschäftigten.

Vorwiegend geht es darum, Sparmaßnahmen für die Arbeitslosenkasse durchzusetzen. Das ist vor allem das Eigeninteresse der Arbeitgeber, die weniger Sozialbeiträge abdrücken möchten, und des rechtssozialdemokratisch-neoliberalen Gewerkschaftsdachverbands CFDT. Denn die CFDT verwaltet die (paritätisch besetzte) Arbeitlosenkasse UNEDIC und exerziert dort eine eiskalte Sparpolitik auf Kosten der Lohnabhängigen und Erwerbslosen durch; deswegen stand die damalige CFDT-Vorsitzende und gleichzeitige UNEDIC-Präsidentin Nicole Notat (inzwischen Unternehmensberaterin) während der massiven Erwerbslosenproteste im Winter 1997/98 in der ersten Reihe des Konflikts mit den Arbeitslosenbewegungen.

Ein Drittel der Kulturschaffenden wird, durch die Verschärfung der Aufnahmekonditionen, aus der Unterstützung herrausfallen - nach einem Abkommen, das am 27. Juni zwischen dem Arbeitgeberverband MEDEF und drei rechten Minderheitengewerkschaften unterzeichnet wurde. Das sind die sozialliberale CFDT, die katholische CFTC und die Gewerkschaft von leitenden Angestellten CGC. Im Kulturbereich repräsentieren diese drei Organisationen aber nur rund 10 Prozent der Beschäftigten.

Seit den letzten Junitagen häufen sich daher die Besetzungs- und medienwirksamen "Nadelstich"aktionen. Aufführungen und Kulturfestivals mussten annulliert werden, Kulturschaffende lieferten sich Katz- und Mausspiele mit der Polizei oder besetzten Opernhäuser und Theater wie in Lyon und Caen. Sie störten ein feierliches Essen des Arbeitgeberverbands MEDEF im nordfranzösischen Arras oder deckten den Hauptsitz der CFDT (im Pariser Stadtteil Belleville) am 1. Juli mit überreifen Früchten und Gemüse ein, so dass die marmorne Eingangshalle einer überbordenden Müllkippe glich. Sogar die Tour de France wurde, bei ihrer Durchfahrt durch die ostfranzösischen Ardennen, bei einer symbolträchtigen Aktion kurzzeitig blockiert.

Da Frankreich mit den reihenweise ausfallenden Theater- und Musikfestivals im Juli mehrere Millionen an Tourismuseinnahmen zu entgehen drohen, versuchte der konservative Kulturminister Jean-Jacques Aillagon in der zweiten Juliwoche zunächst, das Geschehen zu beruhigen. Dies, indem er ein schrittweises Inkrafttreten der "Reform" - die demnach ihre volle Wirkung nicht sofort, sondern nach 18 Monaten erreichen soll - anregte. Gleichzeitig hat er aber unter dieser Bedingung, die dann am 8. Juli das Arbeitgeberlager und die anderen Unterzeichner (die rechten Gewerkschaften) akzeptiert wurde, dem Abkommen die Unterstützung durch die Regierung erteilt. Infolgedessen wird das Abkommen bald rechtsverbindlich werden.

Nunmehr hat die Regierung am 5. August definitiv bekräftigt, dass sie dem "sozialpartnerschaftlichen" Abkommen bezüglich der intermittents ­ auf dem Wege der ministeriellen Allgemeinverbindlich-Erklärung, wie sie auch in der BRD für Tarifverträge existiert ­ Rechtsgeltung verschaffen will. Am 6. August erschien das entsprechende Regierungsdekret im Gesetzblatt. Die Mobilisierung der protestierenden Kulturschaffenden hält bisher anscheinend ungebrochen an.

Kulturschaffende und Fastfood-Prekäre kämpfen gemeinsam

Der Ausstand der Kulturschaffenden ist zum allergrößten Teil selbst organisiert, an den Gewerkschaften vorbei, von denen allein die CGT-Kultur den Streik ernsthaft unterstützt (ihn allerdings zugleich auch zu domestizieren sucht). Täglich trifft sich etwa in Paris eine Koordinationsstruktur mit einer komplexen Struktur. An die 10 thematische Kommissionen treffen sich jeden Vormittag in der besetzten Turnhalle im elften Pariser Bezirk, die nach der feministischen Revolutionärin von 1793 Olympe de Gouge benannt ist. Eine Fachkommission beschäftigt sich mit publikumswirksamen Aktionen, eine andere mit der Information im Internet, eine dritte mit der Ausarbeitung eines GrundlagentextsŠ  Weitere Fachgruppen arbeiten zur Situation der Musiker, der Film- und Fernsehbeschäftigten oder den überregionalen Kontakten. Im Anschluss tagt an jedem Spätnachmittag die gesamte Regionalkoordination im Parc de la Villette, jenem futuristischen Ausstellungs- und Vergnügungspark, der auf dem Gelände der früheren Pariser Schlachthöfe errichtet wurde. Daran nehmen in der Regel 200 bis manchmal 400 Personen teil.

Die Regionalkoordination umfasst aber nicht nur Kulturschaffende, denn sie nennt sich "Koordination der intermittents und der Prekären". Sie organisiert beispielsweise auch junge prekäre Beschäftigte der Fastfood-Branche, und bei gemeinsamen Aktionen arbeiten streikende Theaterleute und ausständische Hamburger-Arbeiter zusammen. Am 15. Juli etwa besetzten Kulturschaffende zusammen mit Streikenden der McDonalds-Filiale vom Boulevard Saint-Denis, die seit fünf Monaten im Dauerausstand ist, gemeinsam ein McDonalds-Restaurant auf den Champs Elysées. Zwei Stunden lang hielten sie das Management der Filiale auf der Pariser Luxusmeile in Atem. Am darauf folgenden Wochenende dann besetzten über hundert Schauspieler zusammen mit zwei Dutzend McDonalds-Streikenden und einigen Anarchosyndikalisten eine Nacht lang die Zentrale in der Pariser Trabantenstadt Fleury-Mérogis, von der aus alle Mc Do-Filialen im Großraum Paris versorgt werden.

Frankreichweit existieren inzwischen 28 solcher regionalen Koordinationen. Sie tauschen sich untereinander aus, wobei normalerweise eine Regionalstruktur ­ im Juli etwa jene von Lyon ­ eine Rolle als "Briefkasten" für alle übernimmt. Derzeit sind sie darum bemühen, eine nationale Koordinierungsstruktur zu schaffen, die sich am 30. und 31. Juli im normannischen Caen zum ersten Mal getroffen hat.

Am Nationalfeiertag, dem 14. Juli, fand sich auf dem Pariser Bastille-Platz eine bunte Mischung zum Demonstrieren ein: mehrere tausend streikende Kulturschaffende, aber auch LehrerInnen, die das ganze Frühjahr über gestreikt hatten; gegen Sparpläne, die ihren Beruf empfindlich bedrohen, protestierende ArchäologInnen; UnterstützerInnen des (damals in Haft sitzenden) linken Bauerngewerkschafters José Bové und andere Kräfte des sozialen Widerstands. Gemeinsam demonstrierten sie und zeigten, dass man die Erinnerung an den Sturm auf die Bastille vom 14. Juli 1789 auch anders begehen kann, als der langweiligen Ansprache von Präsident Jacques Chirac zu lauschen oder der Militärparade auf den Champs-Elysées hinterzugucken. Und dass die gesellschaftlichen Widerstände nach wie vor sehr lebendig sind.

April, Mai und Juni: Lehrerstreik und Renten"reform"

Bereits im Mai und Juni 2003 war Frankreich von heftigen sozialen Konflikten geprägt worden. Bis zu zwei Millionen Menschen zugleich - Busfahrerinnen und Lehrer, Krankenschwestern, Ministerialangestellte und Straßenreiniger, aber auch Metallarbeiter und Archäologinnen - demonstrierten im ganzen Land; insgesamt waren es vor allem öffentlich Bedienstete, aber dazwischen traf man auch auf Renault-Beschäftigte oder Chemiearbeiter bei Aventis. Am stärksten durch die Streikwelle in den öffentlichen Diensten wurden bei diesem Mal die Schulen erfasst.

Ursache für den Protest des Frühjahrs und Frühsommers, den Anfang Juni ­ nach übereinstimmenden Umfragen verschiedener Institute ­ an die 65 Prozent der Französinnen und Franzosen (im Prinzip) unterstützten, war die regressive "Reform" des französischen Rentensystems. Wie es den Beschlüssen des EU-Gipfels von Barcelona im März 2002 entspricht, soll die Lebensarbeitszeit um bis zu 5 Jahre verlängert werden.

Dadurch wird nicht unbedingt die Dauer der Erwerbstätigkeit wachsen, da viele Unternehmen der Privatwirtschaft ohnehin die Beschäftigten ab 50 oder 55 entlassen oder in Frührente schicken, da sie "nicht genügend produktiv" seien. Wohl aber werden die Rentenansprüche dadurch, aufgrund fehlender Beitragszeiten, für viele Beschäftigte senken. Gleichzeitig wird die Höhe der ausgezahlten Pensionen (auch bei vollem Anspruch!) voraussichtlich abgesenkt werden, nach Ankündigung von Arbeits- und Sozialminister François Fillon um bis zu 11 Prozent. Auch in Frankreich sollen die Lohnabhängen auf diesem Wege dazu veranlasst werden, sich per Kapitalanlage ­ sei es in börsennotierten Rentenfonds, sei es in betrieblichen Sparfonds, deren Schaffung in beiden Fällen erleichtert wird ­ privat abzusichern.

Die entsprechende Gesetzesvorlage der neokonservativen Raffarin-Regierung wurde, anlässlich einer sommerlichen Sondersitzung des Parlaments, am 24. Juli definitiv von Nationalversammlung und Senat (wo die regierende Rechte ungefähr sechzig Prozent der Sitze hält) verabschiedet.

 Gewerkschaftliche Positionen und Strukturen

 Die französische Arbeiterbewegung bleibt in Teilen durch eine, im späten 19. Jahrhundert tonangebende, anarcho-syndikalistische Tradition sowie mehrere Jahrzehnte (partei)kommunistischer Hegemonie ­ die beide in der Geschichte der 1895 gegründeten Confédération générale du travail (CGT, Allgemeiner Arbeiterverband) zusammengefunden hatten - geprägt. Beide haben dafür gesorgt, dass sich über lange Jahrzehnte hinweg die Gewerkschaftsbewegung eher als Gegenmacht denn als Inhaber einer Regulatorenfunktion innerhalb des herrschenden ökonomischen Systems begriff. Zwar haben sich die ideologischen Bezüge in den letzten zwei Jahrzehnten abgeschwächt, auch unter dem Eindruck der sozialen Krise, die ab 1974 mit dem Anstieg der Massenarbeitslosigkeit begann und die Gewerkschaften erheblich geschwächt hat. Geblieben ist jedoch ein Mechanismus sozialer Interessenvertretung, der stärker auf gesellschaflicher Konfrontation denn auf Verhandlungs- und Vermittlungstätigkeit der Apparate fußt.

Damit spielen die französischen Gewerkschaften bis heute weit weniger die Rolle eines Disziplinierungs-, Kontroll- und Einbindungsinstruments gegenüber "der Klasse", als dies die (ziemlich anders funktionierenden) deutschen Gewerkschaften tun. Besonders die CFDT allerdings hat sich gerade die Gewerkschaftsorganisationen der BRD zum erklärten Vorbild genommenŠ

Oftmals werden in Frankreich Streikbewegungen auch durch gewerkschafts-unabhängige Koordinationen (coordinations) oder auch übergewerkschaftliche Streikausschüsse (intersyndicales), an denen Mitglieder verschiedener Richtungsgewerkschaften neben unorganisierten Aktiven nebeneinander teilnehmen, organisiert. Ermöglicht oder erleichtert wird diese relative Autonomie der Organisierung sozialer Bewegungen durch gesetzliche und verfassungsrechtliche Regelungen, die das Streikrecht dem einzelnen Beschäftigten ­ und nicht wie die BRD-Verfassung, als "organisches" Recht, der gewerkschaftlichen Entscheidungsmaschinerie ­ zuerkennen. Das Streikrecht kann jeder Lohnabhängige unabhängig von seiner Organisierung oder Nichtorganisierung in einer Gewerkschaft, und ggf. auch unabhängig von der Haltung "seiner" Organisation zum jeweiligen Konflikt, ausüben. Das geltende Recht stellt nur eine Bedingung: Die Arbeitsniederlegung muss "konzertiert", d.h. mit anderen Beschäftigten, ausgeübt werden ­ mindestens aber von zweien, deren Anzahl nach geltender Rechtsprechung genügt.

Im öffentlichen Dienst, nicht aber im Privatsektor, kommt seit einem Regierungsdekret von 1963 eine weitere Bedingung hinzu: Eine Vorwarnfrist von 5 Tagen ist vor dem Ausbruch des Streiks einzuhalten. Seit den Erfahrungen des jüngsten Frühjahrsstreiks allerdings ist die konservative Regierung auf der  Hut; sie plant jetzt eine Einschränkung der Streikfreiheit, indem sie eine Pflicht zur Einhaltung eines obligatorischen service minimum (also der Aufrechterhaltung einer Mindestbelegschaft) in den öffentlichen Betrieben und Transportunternehmen einzuführen plant. Ob sie damit allerdings im Kontext der französischen Protestkultur durchkommt, muss derzeit noch als äußerst fraglich gelten.

Diese Unabhängigkeit in der Ausübung des Streikrechts gegenüber dem Koalitionsrecht, also der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, hat freilich einen Preis: In Frankreich existieren keine Streikkassen, aus denen die in den Ausstand getretenen Beschäftigten alimentiert würden. Vielmehr haben die einzelnen Lohabhängigen ihre Gehaltseinbußen jeweils selbst zu tragen. Dafür sind sie aber bezüglich des Zeitpunkts von Niederlegung bzw. Wiederaufnahme völlig unabhängig von der Entscheidung jeder Gewerkschaftszentrale. In der Regel wird diese Freiheit auch recht verantwortungsbewusst genutzt. Besonders denkwürdig war hier die Haltung vieler LehrerInnen während der Ausstände im Frühjahr: Obwohl sie ­ sofern sie als Streikende registiert waren ­ kein Gehalt erhielten, wechselten sich im Regelfall ausständische LehrerInnen untereinander ab, um dennoch vor den Abiturklassen Unterricht zu halten. Oft hielten sie im Rotationsverfahren und mit einer Armbinde "im Streik" Unterricht vor den Abschlussklassen, damit diese nicht beim Abitur (das am 12. Juni begann) Schiffbruch zu erleiden drohten. Diese Haltung konnte durchaus eine gewisse Vorbildwirkung entfalten. In vielen Radio- und Fernsehinterviews mit SchülerInnen im Abitursalter (die sich ansonsten durch die bange Frage "Finden die Prüfungen überhaupt statt?" verstört zeigten) sehr lobend erwähnt worden.

Im Falle der zu Ende gegangenen Streiks im Juni 2003 hat die konservative Regierung darauf gesetzt, die Ausständischen die volle Härte des Gesetzes spüren zu lassen: Während bisher im öffentlichen Dienst die Modalitäten der Lohnrückhaltung in der Regel (mehr oder minder gütlich) ausgehandelt und die Abzüge meist über mehrere Monate hin gestreckt wurden, ordnete die Raffarin-Regierung in diesem Jahr an, die gesamten Lohnabzüge seien en bloc vorzunehmen. So erhielten viele Lehrerinnen und Lehrer im Juni, teilweise auch im Juli kein Gehalt. Allerdings nahm die Regierung - um den sozialen Unmut nicht gleich wieder auf die Spitze zu treiben - Abstand von ihrem ursprünglich erklärteen Vorhaben, auch die zwischen zwei bestreikten Arbeitstagen liegenden arbeitsfreien Tage nicht zu entlohnen. Das hätte bedeutet, dass für die schon Ende März streikenden LehrerInnen etwa das Gehalt für die 14-tägigen Osterferien im April einbehalten worden wäre, und für die anderen jedenfalls jener Teil des Monatslohns, der den Wochenenden und arbeitsfreien Tag entspricht. Nunmehr wird "nur" das Gehalt für die ausgefallenen Arbeitstage einbehalten.

Die gewerkschaftlichen Dachverbände: CGT, FO und CFDT

Bereits erwähnt wurde, dass etwa die ­ früher, bis in die Neunziger Jahre hinein, KP-nahe ­ CGT noch von eher klassenkämpferischen Traditionen geschichtlich geprägt ist.

Dennoch spielte auch der CGT-Funktionärsapparat die meiste Zeit über eher den Bremsklotz für die soziale Bewegung denn ein vorantreibendes Element. So weigerte der CGT-Apparat sich während des gesamten Ausstands im Mai und Juni 2003, die bis dahin nicht beteiligten Beschäftigten zum Generalstreik aufzurufen, wie dies vielfach aus der sozialen Bewegung heraus gefordert wurde. Schlimmer und von nachhaltiger Wirkung: Es war die Taktik der CGT, welche die Streikwelle in eine lose Kette auseinander gerissener "Aktionstage" (circa alle 5 bis 7 Tage), ohne Kontinuität der Arbeitsniederlegung zwischen diesen "offiziellen" Mobilisierungsdaten, verwandelte.

Zwar blieb eine bedeutende Minderheit von Beschäftigten, vor allem in den Schulen, auch zwischen den durch die CGT ausgerufenen "Aktionstagen" im Streik. Aber vor allem im Transportsektor, der strategisch besonders bedeutend ist ­ da er, durch die Beeinträchtigung des Transports von Millionen Beschäftigten zur Arbeit, oft als "Initialzündung" wirkt, welche anderen Lohnabhängigen eine erste Rechtfertigung zum Fernbleiben von der Arbeit liefert und dadurch Energien freisetzt ­ verhinderte die CGT eine durchschlagende Wirkung des Ausstands, was zum Eindämmen der Streikwelle beitrug. Diese war letztendlich von Ungleichzeitigkeit geprägt, und konzentrierte sich (außerhalb der durch die CGT ausgerufenen Aktionstage) vor allem in einigen regionalen Brennpunkten, wo er mehrere Wochen hindurch recht konstant anhielt. So auch im Großraum Marseille.

Diese eher bremserische Rolle der CGT erklärt sich aus der politischen Entwicklung ihres Kaderapparats: Als ideologische "Weisenkinder" des Realsozialismus, an dem sich dereinst ihre Kompassnadel ausgerichtet hatte, befinden sich viele von ihnen auf dem Weg zur orientierungslosen "Realpolitik". D.h. sie betreiben eine Form von sozial-klemptnerischem Tagesgewurschtel ohne darüber hinaus weisende gesellschaftliche Perspektive - sofern sie nicht mittlerweile auf der Schleimspur der französischen Sozialdemokratie ankleben.

Die ursprüngliche Strategie des Mainstreams im CGT-Apparat bezüglich der Renten"reform" lief darauf hinaus, einige Wochen lang Druck zu machen, um die regressiven Auswirkungen der "Reform" so weit wie möglich abzumildern. Sodann sollte, so war das angedacht, ein erreichter "Kompromiss" mit der Regierung (in dem ein bedeutender Teil der "Reform" aber erhalten geblieben wäre!) durch beide großen Gewerkschaftsbünde ­ also sowohl die CGT als auch die CFDT ­ unterzeichnet werden. So schildert es die hauptamtliche, doch kritische CFDT-Juristin Sophie N. gegenüber dem Verfasser dieser Zeilen; ihre Version wird durch einen Bericht der Tageszeitun "Libération" vom 6. Juni 03 ("La grève générale nıaura pas lieu") in allen Punkten bestätigt.

Doch in der Folge fiel die rechte CFDT-Spitze so schnell um, dass ihre gewerkschaftlichen Konkurrenten sie gar nicht mehr schnell genug festhalten konnten. Noch am 13. Mai 2003 hatte die CFDT zunächst den Demonstrationsaufruf aller größeren Gewerkschaften gegen die umstrittene "Reform" der Rentensysteme unterstützt ­ noch sollte ein wenig Druck erzeugt werden, um das Gesicht zu wahren und "Zugeständnisse" heraus zu holen. Keine 48 Stunden später unterzeichnete sie aber ein Abkommen mit der neokonservativen Raffarin-Regierung zur Unterstützung deren "Reform"-Entwurfs, der zuvor nur (höchstens) kosmetische Änderungen erfahren hatte. Die Pariser Abendzeitung "Le Monde" hat in ihrer Ausgabe vom 27. Juni 03 den Verlauf der Verhandlungen nachgezeichnet. Demnach genügten dem CFDT-Vorsitzenden 75 Minuten Plausch mit Premierminister Jean-Pierre Raffarin, um auf die Unterstützung der "Reform" umzuschwenken.

Solcherart "allein gelassen", sah sich die CGT gezwungen, die Führung der ­ de facto nicht abflauenden ­ sozialen Proteste zu übernehmen. Gleichzeitig lieferte sich ihr dadurch freilich die Chance, Sympathiepunkte beim kämpferischeren Teil der Lohnabhängigen einzustreichen ­ und sich in eine zentrale Verhandlungs- und Vermittlungsposition gegenüber der Regierung (und dem Arbeitgeberlager) zu bringen. Denn als auch nur halbwegs ernst zu nehmende "Vermittlerin" fiel die CFDT ja aus ­ auf die hörte unter den Protestierenden ohnehin niemand. Diese aussichtsreiche Position sollte dadurch noch aufgebessert werden, dass die CGT sich innerhalb der Streikbewegung als "verantwortungsbewusster" Ansprechpartner profilierte.

Dennoch ist das, strategisch durchaus nachvollziehbare, Kalkül nicht aufgegangen: Die Regierung Raffarin ging einfach über die CGT hinweg. Denn einerseits ging es für die Rechtsregierung auch darum, ihre grundsätzliche "Fähigkeit" unter Beweis zu stellen, regressive Reformen notfalls auch gegen bedeutende Bevölkerungsteile durchzusetzen ­ denn die nächsten "Reformen" stehen längst auf ihrer Agenda. Etwa im Gesundheitssystem, wo die Veränderungen und Verschlechterungen allerdings nunmehr, nach Erklärungen der Regierung, über mehrere Jahre hinweg gestreckt werden sollen -  um nicht dieselbe Zusammenballung von sozialem Unmut und Protest erleben zu müssen wie im Frühjahr mit der Renten"reform". Andererseits wollte und durfte die Regierung auch einen so wertvollen Partner wie den CFDT-Chef Jacques Chérèque nicht "opfern". Der aber wäre doch spürbar beschädigt worden, wenn die Rechtsregierung nach dem "Abkommen" mit der CFDT-Spitze doch noch akzeptiert hätte, die gleichen Verhandlungsmaterie noch einmal aufzurollen. Damit wäre die "Autorität" der CFDT-Führung, vor allem aber ihre Glaubwürdigkeit als Verhandlungs"partner" nachhaltig zerrüttet worden. (So stellt es das sehr weit rechts stehende und durch die Rüstungsindustrie gesponserte Wirtschaftsmagazin "Valeurs actuelles" dar, das in seiner Titelstory vom 18. Juli 03 dem CFDT-Generalsekretär eine mehrseitige Lobeshymne widmet: "François Chérèque ­ Le réformiste". Ein ebenso Ekel erregender wie aufschlussreicher Artikel.)

Die solcherart durch die CGT gelassene "Radikalitäts-Lücke" nutzte eine eigentlich weiter rechts stehende Gewerkschaftsorganisation aus: die "unpolitisch"-reformistische Dachorganisation Force Ouvrière (FO), die sich aus überwiegend antikommunistischen Motiven 1947 vom Dachverband CGT abgespalten hatte. Ihr Generalsekretär Marc Blondel rief am 12. Juni 03 in Marseille, anlässlich des gemeinsamen Auftritts von vier Gewerkschaftschefs ­ bei dem CGT-Chef Bernard Thibault wegen seiner expliziten Weigerung, zum Generalstreik aufzurufen, von Tausenden ausgepfiffen wurde ­ seinerseits zum ersten Mal (genau einen Monat nach Beginn der Streikwelle) zum "Berufsgruppen übergreifenden Generalstreik" auf. Allerdings tat er  dies im sicheren Wissen, dass es zu diesem Zeitpunkt ohnehin zu spät war: Die LehrerInnen standen kurz vor dem Schuljahresende, und Frankreich kurz vor den Sommerferien, während derer das politische Leben in Paris doch reichlich ausgestorben ist. Aber durch diese, rein demagogische Operation konnte die ­ gegenüber der CGT eigentlich deutlich rechtere ­ Dachorganisation FO einige Symmpathiepunkte sammeln, auch wenn viele Beschäftigte sich über die tägliche reale Tätigkeit der FO-Strukturen sich sicherlich nicht hinwegtäuschen lassen. So war es in Marseille selbst, wo wenige Stunden nach dem gemeinsamen Auftritt der vier Gewerkschaftssekretäre ­ bei dem Blondel (FO) pseudo-radikale Töne gespuckt hatte ­ die (im Marseiller öffentlichen Dienst sehr starke FO-Sektion) den mehrwöchigen Ausstand der Müllabfuhr-Beschäftigten beendete. Nach Ansicht von vielen erfolgte der Streikabbruch vorzeitig.

Völlig ungeschminkt hingegen war die Haltung der ­ in den 70er Jahren noch eher linkssozialistisch geprägten, heute klar rechtssozialdemokratisch und (in ihrem Funktionärskader) ideologisch neoliberal ausgerichteten ­ CFDT. Sie unterstützte quasi von Anfang an die "Reform" der konservativen Regierung- siehe oben. Allerdings hat ihr dies intern jede Menge Ärger eingehandelt.

Derzeit werden die innergewerkschaftlichen Konflikte nicht ganz so handfest ausgetragen wie Mitte der Neunziger. Damals war die seinerzeitige CFDT-Generalsekretärin Nicole Notat (Spitzname "la tsarine", die Zarin) zwei mal, zu Beginn des Streikherbsts am 24. November 1995 sowie am Aktionstag der öffentlich Bediensteten vom 17. Oktober 1996, gewaltsam aus Pariser Großdemonstrationen hinaus geworfen worden. Daran waren vor allem auch oppositionelle Mitglieder ihrer "eigenen" Organisation beteiligt; es bildeten sich Sprechchöre "Tous ensemble sans Notat" ("Alle zusammen" ­ die zentrale Mobilisierungsparole des Streikherbsts 1995 ­ "aber ohne Notat"). Heute geht es innerhalb der CFDT nicht so handfest zu wie damals; freilich drohen die Folgen für den Dachverband nachhaltiger zu sein.

Nach Angaben von Hervé Alexendre vom linken Transportarbeiterverband der CFDT, der FGTE-CFDT, gegenüber dem Autor dieser Zeilen muss der Dachverband mittelfristig mit dem Verlust von 100.000 bis 150.000 Mitgliedern (von insgesamt 600.000) rechnen. Die FGTE als solche wird Anfang September offiziell über die Frage eines kollektiven Austritts aus dem Dachverband beraten. Einige Bezirksorganisationen von CFDT-Branchenverbänden haben bereits Anfang Juli ihre "désaffiliation", d.h. ihren Austritt aus dem Gewerkschaftsbund CFDT, beschlossen - oder sie wurden nur dadurch daran gehindert, dass sie durch den Dachverband entmündigt und unter direkte Aufsicht der CFDT-Zentrale gestellt wurden. Dies gilt namentlich für Mitgliedsverbände der Branchenorganisation der kommunalen Angestellten (im Pariser Umland, aber auch im westfranzösischen Limoges und in den nordöstlichen Ardennen), aber auch etwa für die CFDT im Gesundheitswesen im nordfranzösischen Lille.

Erwartet wird, dass ein Großteil der Austrittswilligen sich der bisherigen größten Lehrergewerkschaft FSU anschließt; die FSU hat bereits die im Herbst 2000 ausgetretene CFDT-Sektion bei den Arbeitsämtern (ehemals CFDT-ANPE), den jetzigen SNU-ANPE, aufgenommen. Die Arbeitsämter-Sektion war aus Protest gegen die damals durch die CFDT und den Arbeitgeberverband MEDEF "sozialpartnerschaftlich" beschlossenen Disziplinierungsmaßnahmen gegen Arbeitslose (mittels des Zwangs-"Eingliederungsvertrags" PARE) aus dem Dachverband ausgetreten. Jetzt muss damit gerechnet werden, dass sich die bisherige Lehrergewerkschaft FSU auf den gesamten öffentlichen Dienst ausdehnt, wenn sie dort viele ehemalige CFDT-Sektionen aufnehmen kann. Dies würde einer mittelfristigen Umgruppierung der gewerkschaftlichen Landschaft Tür und Tor öffnen.

Andere Ausgetretene aus der CFDT dürften sich den linken Basisgewerkschaften SUD zuwenden - aber in geringerer Zahl, da sich die SUD historisch Anfang/Mitte der 90er Jahre aus der damaligen CFDT-Linken gebildet hatten und deswegen innerhalb der CFDT-Linken ein erbitterter Streit über die Frage des "Gehen oder Bleiben" herrschte. Spaltungen hinterlassen eben Spuren, auch wenn ihr damaliger Grund inzwischen beseitigt ist (da auch viele damals zum Bleiben in der CFDT Gewillte den Dachverband jetzt verlassen wollen). Andere Austretende wiederum werden wohl in die CGT übertreten. Allerdings könnten sie dabei vom Regen in die Traufe geratenŠ

Gründe des Lehrerstreiks: Die "Dezentralisierung" als Instrument konservativer Politik

Im Bildungswesen, das zwischen April und Juni dieses Jahres den am stärksten vom Streik betroffenen Sektor bildete, hatte ­ neben der Renten"reformŒ ­ die so genannte Dezentralisierung den Stein des Anstoßes gebildet. Die französische Verfassung war am 17. März 2003 durch die konservative Mehrheit in Nationalversammlung und Senat abgeändert worden, um der "Dezentralisierung" Verfassungsrang einzuräumen.

Ab dem 17. März traten die LehrerInnen im Großraum Bordeaux, und ab dem 27. März im Département Seine-Saint-Denis (einem Bezirk, der die nördlichen Pariser Trabantenstädte umfasst) in den Ausstand ­ also noch deutlich vor der Bekanntgabe der Renten"reform", deren Grundzüge am 24. April durch Arbeits- und Sozialminister François Fillon im Fernsehen verkündet wurden.

Bei der "Dezentralisierung" im Bildungswesen ging es im Wesentlichen darum, dass der Zentralstaat nicht mehr länger der Arbeitgeber des nicht unterrichtenden Schulpersonals sein sollte. Das betraf rund 100.000 Angestellte des staatlichen Bildungswesens: Schulärztinnen, Krankenschwestern, Psychologen und andere Betreuer (die Kategorie " CO-PSY"), Orientierungsberaterinnen, aber auch Hausmeister, Technikerinnen und Wartungsarbeiter. Sie sollten künftig durch die 22 französischen Regionen oder die 100 Départements übernommen und bezahlt werden.

Infolge der massiven Proteste hat die Regierung jedoch das Maßnahmenpaket aufgetrennt: Das technische Personal ­ etwa 90.000 Beschäftigte sind betroffen - soll auch weiterhin ab dem Herbst 2003 "transferiert" werden, während die rund 10.000 MedizinerInnen und PsychologInnen auch weiterhin vom Zentralstaat angestellt bleiben. Diesen "Kompromiss" hat Innenminister Nicolas Sarkozy im Namen der Regierung in der zweiten Juniwoche, kurz vor den landesweiten Abiturprüfungen vom 12. Juni, mit den Lehrergewerkschaften ausgehandelt. Im Vorfeld war seitens der Regierung angedacht worden, die besonders sensible "Dezentralisierung" des medizinischen und psychologischen Personals eventuell auf 2005 zu verschieben. Derzeit ist noch unklar, ob diese Frage in ein bis anderthalb Jahren durch die Rechtsregierung wieder aufıs Tapet gebracht werden wird. Es dürfte sicherlich mit von den sozialen Kräfteverhältnissen abhängen, die bis dahin im Land herrschen.

Gründe für die "Dezentralisierung" im Bildungswesen

Die unmittelbare Hauptsorge der Regierung dabei war finanzieller Art: Die entsprechenden Kosten würden damit nicht mehr als Ausgaben des Zentralstaats erscheinen (und somit auch nicht in die Berechnung der Staatsverschuldung einfließen, wenn es um die Einhaltung der Maastricht-Kriterien geht). Das beinhaltete freilich zugleich eine Änderung des sozialen Charakters dieser Ausgaben, denn das Steuerwesen im Zentralstaat und den Regionen bzw. Kommunen ist unterschiedlich: Die staatliche Besteuerung ist progressiv, d.h. am Einkommen orientiert. Dagegen ist die lokale und regionale Besteuerung vom Einkommen gänzlich unabhängig, wie bzw. die Wohnraumsteuer, die von der Kommune erhoben wird. Damit würde also zugleich eine Änderung der Finanzierungsweise erfolgen, in Form einer Verschiebung der Lasten auf Kosten der ärmeren Bevölkerungsteile.

Doch verfolgt die Regierung nicht nur solche unmittelbar finanziellen Interessen, denn die Dezentralisierung wurde von Premierminister Jean-Pierre Raffarin zum zentralen Projekt der regierenden Rechten für die laufende Legislaturperiode (2002 bis 2007) erhoben. Beinhaltet doch die jakobinische bzw. postjakobinische Staatsorganisation, die von der bürgerlichen Revolution her ererbt und damals als Bruch mit der feudalen Territorialorganisation eingeführt wurde, zumindest ein politisches Grundsatzversprechen der Gleichheit aller BürgerInnen (vor dem Gesetz und gegenüber den sozialen Belastungen).  

Ähnlich wie bei der Einführung intermediärer sozialer Regulationsmechanismen (durch Aufwertung der so genannten "Sozialpartner", also in Wirklichkeit der strategischen Achse CFDT ­ Arbeitgeberverband MEDEF, und Zurückdrängung der gesetzlichen Regulation der sozialen Beziehungen), geht es auch hier darum, den politischen Rechtfertigungsdruck bei Entscheidungen zu verringern. Namentlich durch Zerstreuung sozialer Widerstände, die drohen, wenn etwa zwei Millionen Menschen gleichzeitig gegen eine zentral getroffene politische Entscheidung auf die Straße gehen. Derzeit betrifft diese Methode das Bildungssystem, aber ­ bewährt sie sich ­künftig auch etwa des Gesundheitswesen.

Dass viele Französinnen und Franzosen dagegen eintreten und demgegenüber eher den (post)-jakobinischen Aufbau der öffentlichen Verwaltung verteidigen, hat im Prinzip nichts mit Staatsfetischimus zu tun. Und sehr viel mehr mit der Idee, dass die Verlagerung von politischer Herrschaft auf eine "dezentralere" Ebene nichts mit Abbau oder Verringerung von Herrschaft und (gesellschaftlicher) Dominanz, aber sehr viel mit der Zersplitterung von sozialen Widerständen zu tun hat.

Da die 22 französischen Regionen zugleich sehr unterschiedlich reich bzw. arm sind, war diese Furcht noch dazu von der Vorstellung begleitet, künftig von der Finanzkraft der jeweiligen Gebietskörperschaft abhängig zu sein. Nicht zufällig gehörten die Lehrkräfte im Département Seine-Saint-Denis zu denen, die mit als Erste den sozialen Protest eröffneten. Die hier liegenden Trabantenstädte und -orte der französischen Hauptstadt sind besonders stark von Phänomenen der Verarmung und Desindustrialisierung, von sozialer Perspektivlosigkeit und alltäglicher Gewalt, mancherorts auch von Ghettoisierung der Einwandererbevölkerung geprägt. Damit ging eine spürbare Zerrüttung der schulischen Arbeitsbedingungen einher. Im Frühjahr 1998 hatten die Lehrerinnen und Lehrer dieses Départements bereits einen mehrwöchigen Streik geführt; damals konnten sie die zusätzliche Einstellung von 3.000 Lehrkräften in ihrem ­ besonders mitgenommenen - Département erreichen.

Nunmehr, fünf Jahre später, fürchteten sie eine faktische Zerstörung des damals Erreichten. Seine-Saint-Denis stellte sich deswegen schon Ende März an die Spitze der Proteste. Ein bemerkenswertes Bündnis, bestehend aus der größten (und historisch eher KP-nahen) Lehrergewerkschaft FSU, den schulischen Branchenorganisationen der Gewerkschaftsbünde CGT und CFDT, der linksalternativen bis linksradikalen Basisgewerkschaft SUD und der anarcho-syndikalistischen CNT nahm das Heft in die Hand. Diese polittisch-gewerkschaftlich Mischung wirkte sich ziemlich erfrischend aus. Anfänglich spielten auch die, etwa in Saint-Denis zahlreich als LehrerInnen, Mitglieder der trotzkistischen Partei Lutte Ouvrière (LO, Arbeiterkampf) eine Rolle als InitiatorInnen. Allerdings bremsten sie im Laufe der Wochen eher, was eine Ausweitung des Ausstands ­ über die Grenzen der Berufsgruppe hinaus ­ betrifft. Ursache dafür ist hauptsächlich der ausgeprägte historische Pessismus dieser Organisation, derzufolge vor dem Abschluss einer langen historischen Phase der Re-Organisierung der Lohanbängigen-Klasse nicht viel zu gewinnen ist.

Damit brachten die LehrerInnen von Seine-Saint-Denis jene Lawine inıs Rollen, die sich anschließend ­ das Thema des Abwehrkampfs gegen die so genannte Reform der Renten aufgreifend ­ zur viel breiteren Protestbewegung ausweitete. Von hier aus erreichte der Ausstand im Bildungswesen während der letzten Apriltage auch die Hauptstadt.

Auch der Streik im Bildungswesen, der sich ab der zweiten Aprilhälfte wie ein Lauffeuer ausbreitete, wurde nicht vorwiegend von offiziellen gewerkschaftlichen Strukturen getragen. Diese waren zwar auch Bestandteil der sozialen Bewegung, doch koordiniert und angeleitet wurde dieser von lockeren Koordinationsstrukturen. Diese wiederum vernetzten sich über das Internet, und namentlich über die extra zum Streik eingerichtete Webpage des réseaudesbahuts, des "Netzwerks-der-bahuts"  ("bahut": dieser Begriff bedeutet in der französischen Alltagssprache so viel wie "Penne" und wird von den Lehrern ironisch auf ihre Arbeitsstätten bezogen). Dort konnte man sich in eine Mail-Verteilerliste eintragen, über die zu Hochzeiten ­ vor der Sommerpause - täglich 60 bis 80 Mails an die einzelnen EmpfängerInnen eintrafen. Eine Rolle spielte ferner auch die, 1999 eingerichtete, Homepage des "Obervatoire antilibéral de lıéducation" (ungefähr: Anti-wirtschaftsliberale Beobachtungsstelle für das Bildungswesen): www.oale.org; die Tageszeitung "Libération" hat der Rolle beider Internet-Informationsdienste bei der Organisierung der Streikbewegung übrigens einen längeren Bericht gewidmet. (Ausgabe vom 22. Mai 2003: "La grève en <réseau des bahuts>.)

Weitere Aussichten

Mit den LehrerInnen und den KünstlerInnen und Kulturschaffenden haben sich bereits zwei soziale Gruppen radikalisiert, die sich durch einen stark überdurchschnittlichen (schulischen und universitären) Bildungsgrad auszeichnen. Und die traditionellerweise Wert auf eine intellektuelle Autonomie und Entfaltungsmöglichkeiten legen. Sie gehören in der Regel nicht zu den materiell am schlechtesten Gestellten in der Gesellschaft (abgesehen von einigen "intermittents", die tatsächlich am Existenzminimum herum knabbern). Und dennoch sind sie unmittelbar ­ in ihren Arbeits- und Gestaltungsmöglichkeiten, im Selbstverständnis von ihrer gesellschatlichen Rolle -  von den Auswirkungen neoliberaler, kapitalitischer Politiken betroffen. "Akademisches Proletariat" nannte man das früher.

  Diese Unruhe wird sich nicht so schnell eindämmen lassen, da sie fundamentale Fragen nach der Orientierung und Funktionsweise dieser Gesellschaft aufwirft. Allerdings müsste es gelingen, den Rückstand an Mobilisierung auch gerade in der industriellen Arbeiterschaft aufzuholen. Dort wiegen das Gewicht früherer Niederlagen der Arbeiterbewegung ­ gewerkschaftlicher wie politischer Niederlagen (Ende des Bezugspunkts "Realsozialismus", so falsch diese Orientierung auch gewesen sein mag ; die schmähliche Bilanz der Linksregierungen von 1981 und 1997 wie auch der Beteiligung der KP an ihnen ...) ­ und die Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit bleischwer. Sie erschweren gewerkschaftliche Organisierung ebenso wie (ggf. unabhängig von ihnen verlaufende) Kampfmaßnahmen.

Unklar ist noch, ob es gelingt, auch an den Universitäten in vergleichbarer Weise wie jüngst im Schulwesen zu mobilisieren ­ sei es unter den Lehrkräften oder den Studierenden. Dort war es bisher noch relativ ruhig geblieben, zumal die Höhepunkte der sozialen Mobilisierungen betreffend den Bildungsbereich und die Renten"reform" (zwischen dem 13. Mai und dem 19. Juni) mit der intensiven Prüfungsphase an den Hochschulen zeitlich zusammen fielen. Allerdings gab es einige regionale "Unruheherde" im universitären Bereich, wo teilweise auch mehrwöchige Verschiebungen der Prüfungen angeordnet werden musste. So etwa an der Universität Paris-1 (im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich, Abteilung Tolbiac) in Jussieu (Paris-6 und Paris-7) oder auch in Perpignan.

Eine ähnliche Entwicklung wie an den Schulen droht aber im Prinzip auch im Universitätsbereich, wo das Gesetzesvorhaben zur "Autonomie der Universitäten" gar vorsieht, dass die - mit mehr eigenen Vollmachten ausgestatteten - Universitäten kommerziell funktionierende Dienstleistungsbereiche einrichten können. Und die Rektoren sollen sich wie Unternehmenschefs verhalten (können). Denn die Autonomie wäre selbstverständlich vor allem jene der Leitung, nicht der Lehrenden und Studierenden. Dezentralisierung hat eben schlichtweg nichts mit Demokratisierung zu tun, sondern vielmehr mit Verlagerung von Herrschaft auf eine andere (tiefere) Ebene, wo sie aber nur umso undemokratischer sein kann. Und zusätzlich noch mit verstärkter Ungleichheit, etwa zwischen ärmeren und reicheren Regionen, einhergeht.

Im Hochschulbereich wurde das Gruselprojekt im Juni dieses vorläufig aus dem Verkehr gezogen, um die Lage zu beruhigen. Eigentlich hätte es, strategisch geschickt, kurz vor den Sommerferien eingebracht und eventuell noch in der Sommerpause verabschiedet werden sollen. Angesichts der innenpolitischen Lage Anfang Juni hielt man es in Regierungskreisen allerdings für angeraten, das Projekt lieber erstmal wieder unter Verschluss zu nehmen. Es soll "erst" im Herbst 2003 erneut beraten werden ­ also vielleicht bald!

Bernhard Schmid, Paris

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