letzte Änderung am 29. Okt. 2002

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FRANKREICH: Soziale Bewegungen und Verteidiger demokratischer Freiheitsrechte mobilisieren

Es war ein ungewöhnliches Bündnis, das in der vergangenen Woche in Paris an die Öffentlichkeit trat. Die progressive Anwältegewerkschaft SAF und die traditionsreiche Liga für Menschenrechte (LDH) protestierten gemeinsam mit den linksalternativen SUD-Basisgewerkschaften, der Bauerngewerkschaft von José Bové, alternativen Internetgruppen, der CGT und der Antirassismusbewegung MRAP.

Ihr Protest richtet sich gegen die geplante Strafrechtsreform des französischen Innenministers Nicolas Sarkozy, die eine drastische Verschärfung der Strafen für zahlreiche Delikte vorsieht -  vor allem solcher Strafbestimmungen, die gesellschaftliche Randgruppen treffen. So sollen Sinti und Roma im Fall illegalen Campierens mit sechs Monaten Haft, Konfiszierung der Fahrzeuge und dreijährigem Entzug des Führerscheins bedroht werden.Ausländische Prostitutierte sollen zügig abgeschoben werden, im Namen des Kampfs gegen den Menschenhandel mafiöser Kartelle vom Balkan oder afrikanischen Staaten aus - bestraft würden aber vor allem die betroffenen Frauen. "Aggressives Betteln" soll ebenfalls mit sechs Monaten Haftandrohung sanktioniert werden.

Der Entwurf, den die Demonstranten als eine »Kriegserklärung an die Armen« bezeichneten, wurde am Mittwoch der vergangenen Woche vom Kabinett verabschiedet und soll bis zum Jahresende vom Parlament angenommen werden..  In einem am Montag voriger Woche (dem 21. Oktober) von 34 Gruppen und Organisationen veröffentlichten Aufruf heißt es ferner, das Gesetzesvorhaben »könnte zu einem autoritären Staat führen und all jene unterdrücken, die das Pech haben, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden«.

Die etablierten Linksparteien und selbst die Sozialdemokraten unterstützen den Aufruf, allerdings erst nach heftigen internen Debatten. (Hatte doch der ehemalige sozialistische Innenminister Daniel Vaillant erklärt, dass er beim jetzigen Amtsinhaber vor allem »Kontinuität« zu seinem eigenen Handeln sehe.) Und nicht ohne den Aufruf vorher an manchen Stellen entschärft zu haben. So wurde eine Passage über polizeiliche Gewalt nach langer Diskussion gestrichen : Der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) war sie nicht scharf genug formuliert, aus Sicht der Sozialdemokraten hingegen ging sie bereits viel zu weit. Ein Kompromiss konnte nur durch Ausklammerung dieses Punkts formuliert werden.

Daneben unterzeichneten auch die KP, die Grünen sowie die - weiter links stehende - Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) den Text.

Am Samstag gingen mehrere tausend DemonstrantInnen in Paris, Lyon und Marseille gegen den Sarkozy-Entwurf auf die Straße. In der Hauptstadt versammelte sich zum Demo-Auftakt auf der Place de la République vor allem die autonom-anarchistische und libertäre Szene unter dem Motto: »Hören wir auf, Angst zu haben!« In teilweise karnevalsähnlicher Form zogen manche ihre Anhänger mit symbolischen Ketten, wie früher Kerker-Insassen sie trugen, durch die Stadt. Zwischen den Technosound-Wagen fanden sich aber auch afrikanische Familien ein, die gemeinsam mit der kämpferischen Wohnrauminitiative DAL (Droit au logement) auf die Straße gingen. Innenminister Sarkozy hatte erst in der vergangenen Woche nach heftigen Protesten einen Passus aus seinem Entwurf gestrichen, der für Hausbesetzungen Haftstrafen bis sechs Monate vorsah - auch in der Gesamtbevölkerung, die der "Inneren Sicherheit" grundsätzlich eher positiv gegenüber steht, war dieser Passus mit 54 Prozent Gegnern in den Umfragen auf Ablehnung gestoßen. Sarkozy erklärte am vorigen Mittwoch einer DAL-Delegation, die in seinem Ministerium empfangen wurde, dass der Hausbesetzer-Paragraph gekippt werde.

Insgesamt demonstrierten in Paris rund 2 000 Menschen in diesem Zug mit, in den beiden anderen Städten waren es etwas mehr Menschen.  Denn zur gleichen Zeit trafen sich in Paris - zwei Kilometer weiter nördlich - circa 4 000 junge Linke, Juristen und Migranten in der Konzerthalle Le Zénith, um gegen die so genannte double peine zu protestieren. Nach dem französischen Strafgesetz werden Einwanderer doppelt bestraft, da sie nach der Haft sofort abgeschoben werden können. Das ist ein eklanter Verstoß gegen die Gleichheit vor dem Gesetz, wie viele Kritiker meinen.(Auch in dieser Hinsicht hat Sarkozy sich in der letzten Woche vorsichtig auf den Rückzug begeben, und eine Einschränkung dieser - 1993 durch die damalige Rechtsregierung verschärften - Regelung angekündigt.) Die Großveranstaltung mit Kulturprogramm kostete 6 Euro Eintritt, wurde aber zum vollen Erfolg. Am Ende vereinigten sich die beiden Versammlungen, da die Demonstration der Antiautoritären vor der Konzerthalle endete, aus der die Teilnehmer herausströmten.

Die Veranstaltungen vom vergangenen Wochenende könnten den Auftakt für eine neue Oppositionsbewegung gegen die konservative Regierung bilden. Denn bislang war die von den bürgerlichen Parteien befürchtete Mobilisierung gegen ihre Politik weitgehend ausgeblieben. Auch die Konservativen haben ihre Lektion aus dem Scheitern der Regierung unter Alain Juppé gelernt, die 1997 nach heftigen sozialen Protesten zurücktrat.

Diesmal will die Regierung von Premierminister Jean-Pierre Raffarin, in der faktisch Innenminister Sarkozy den Ton angibt, den Fehler nicht wiederholen, ihre Amtszeit mit besonders unpopulären Maßnahmen zu beginnen und eine umfassende wirtschafts- und sozialpolitische Reform einzuleiten. Stattdessen bemüht sie sich vor allem um die Innen- und Sicherheitspolitik. Sie ist sich gewiss, dass vor allem die zunehmende Gewalt in den Banlieues dafür sorgt, dass diese Maßnahmen in der Bevölkerung im Prinzip durchaus populär sind.

Doch das bedeutet noch lange nicht, dass es keine Gegenreformen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik gebe. So schränkte die neokonservative Regierung die Anwendung der in den letzten fünf Jahren schrittweise eingeführten 35-Stundenwoche deutlich ein. Sie erließ ein Dekret, das die jährlichen Kontingente von derzeit 130 auf 180 Überstunden anhebt. Zudem wird der Überstundenzuschlag, den die Beschäftigten erhalten, für kleinere Betriebe herabgesetzt.

Aber diese Maßnahme trifft nur einen Teil der abhängig Beschäftigten. Die Reform zur Einführung der 35-Stundenwoche der ehemaligen Koalitionsregierung Lionel Jospins trug bereits zu einer Zersplitterung des Arbeitsrechts bei, da sie Einzelabkommen für jeden Betrieb vorsah. Die konservativen Vorhaben verstärken diese Entwicklung lediglich. Sie betreffen im Grunde nur jene Beschäftigten in kleinen und mittelständischen Unternehmen, die bisher von der Arbeitszeitverkürzung ausgeklammert blieben.

Eine weitere Initiative betrifft die staatlich subventionierten Stellen für Jugendliche. Die sozialdemokratische Vorgängerregierung führte 1997 die so genannten emplois jeunes ein, subventionierte Stellen für rund 300 000 Jugendliche im öffentlichen Dienst, aber auch bei gemeinnützigen Initiativen und Vereinigungen. Diese Maßnahme war damals zwar kritisiert worden, weil sie auf befristeten Verträgen und einer oft schlechten Bezahlung beruhten. Immerhin wurden damit aber auch zahlreiche neue Jobs etwa im Umweltbereich geschaffen, die erlaubten, gesellschaftlich sinnvolle - aber nicht rentable - Tätigkeiten zu subventionieren.

Die konservative Regierung hat diese Programme bereits im Frühsommer gestrichen, die Finanzierung der emplois jeunes (= Jugend-Arbeitsplätze) läuft in den kommenden Monaten aus. Stattdessen will sie nun speziell für Jugendliche neue Jobs in der Privatwirtschaft, vor allem in der Industrie, auf ähnliche Weise finanziell unterstützen - das Programm läuft diese Woche, am Dienstag (29. Oktober), an. Schon jetzt ist abzusehen, dass von dieser Initiative vor allem die Unternehmer profitieren werden. Sie könnten die Subventionen einstreichen und die Jugendlichen zum staatlich festgelegten Mindestlohn einstellen. Die emplois jeune-Beschäftigten, von denen mehrere Zehntausend in den nächsten Monaten joblos werden, haben für die laufende Woche Protestaktionen angekündigt.

Die großen Gewerkschaften haben bisher wenig auf die sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Regierung reagiert. Dass die gesellschaftlioche Opposition nun gegen den »Krieg gegen die Armen« protestiert, sorgt aber dafür, dass die sozialen Implikationen der Regierungspolitik aufgedeckt und die beiden Themen ­ die Verteidigung bürgerlicher Freiheitsrechte und soziale Belange ­ miteinander verbunden werden.

Auch in anderen Landesteilen zeigt sich langsam der Unmut über die Regierung. So wurde Premierminister Raffarin am Freitag der vergangenen Woche bei seiner Ankunft in Marseille von einer Demonstration empfangen, an der etwa 10.000 Linke und Gewerkschafter teilnahmen. Es handelte sich um die erste soziale Demonstration seit den Wahlen im Frühsommer, die nicht nur Angehörige einer spezifischen Berufsgruppe - etwa die Lehrer, die am vorletzten Donnerstag streikten - anzog. Die Demo diente u.a. der Kritik an dem Dezentralisierungsgesetz, das vor 14 Tagen vom Kabinett abgesegnet wurde. Sie befürchten mit der angekündigten Regionalisierung ein Anwachsen der Ungleichheiten zwischen reicheren und ärmeren Teilen Frankreichs. Daneben wurden der Erhalt und die Demokratisierung der öffentlichen Dienste, statt ihrer Privatisierung (oder Öffnung für privates Kapital) gefordert.

Bernhard Schmid, Paris
29. Oktober 2002

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