letzte Änderung am 29. Juli 2003

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Dies sind - einstweilen - zwei Berichte der Reisegruppe deutscher GewwerkschafterInnen nach Frankreich, von Anfang Juni 2003 - naturgemäß beide geprägt von den Erfahrungen der widerstandsbewegung gegen die Rentenreform...

Monsieur Raffarin, Herr Schröder, die Gewerkschaften und die fernen Nachbarn

Ein Reisebericht aus Frankreich von hrw - denn wer reist, lernt das eigene Land kennen

Wenn rund ein Dutzend Menschen eine Woche lang gemeinsam in Frankreich sind, um während der grossen Auseinandersetzungen um die dortige Variante des Rentenabbaus mit GewerkschafterInnen zu diskutieren und an Aktionen teilzunehmen, und wenn sie kontinuierlich diese Eindrücke und Erfahrungen unter sich besprechen, dann scheint folgende Form der Wiedergabe angemessen:
Eine/r gibt vor - und die anderen fügen ihre Korrekturen, ihre anderen, konträren oder variierenden Meinungen und ihre Ergänzungen ein. So können Stand und Entwicklung von Reise, und Auswertungen und auch Gruppendebatten am besten von LeserInnen nachvollzogen werden. Meine ursprüngliche Überlegung, diesen Grundbericht chronologisch zu ordnen, habe ich verworfen, weil ich denke, die wesentlichsten Erfahrungen und Diskussionen können besser als verschiedene inhaltliche Stränge behandelt werden - vielleicht bereits der erste Punkt, der Dissens hervorruft... Über die politischen Hintergründe und Entwicklungen ist im LabourNet ausführlich berichtet worden - etwa in den Beiträgen von Bernard Schmid, so dass diese Grundlagen bei mir nur dort auftauchen, wo sie direkt für die Debatten wichtig sind. In diesen wenigen Tagen sprachen wir mit Vertretern von SUD Rail und SUD Chemie, mit der Confederation Paysanne und der Alternative Libertaire, diskutierten wir auf einem ausgesprochen freundschaftlich verlaufenen Empfang von SUD Rouen, nahmen an der Demonstration in Paris und an einer in Rouen teil, in Rouen auch an einer interprofessionellen (sprich: branchenübergreifenden) Streikversammlung, hatten verschiedentlich die Gelegenheit individuell mit streikenden LehrerInnen zu sprechen und bekamen von Bernard Schmid einen aktuellen Gesamtüberblick.

1. Finanzierungspläne oder Gesellschaftsveränderung?

Die Teilung der Reichtümer, die Bewegung und die Experten

Am Dienstagnachmittag, Grossdemonstration in Paris. Wieviele es waren? Schwer zu sagen. Auf jeden Fall mindestens so viele wie der DGB zusammen auf seine 14 halbgaren Kundgebungen mobilisierte - und es fanden am selben Tag ja noch über 100 anderer "Manifestations" in Frankreich statt. Leichtes "deutsches" Unverständnis für die französische Debatte um die Zahl - wenn die schon wenig sagen...Drei Stunden lang stehen wir am Strassenrand und sehen den endlosen Zug vorüberziehen, - springen, -rennen, - singen, - Krach machen...überraschend südländischer als erwartet. Die persönlich liebste Erinnerung: Weil Herr Raffarin ins ganz alte Arsenal griff und behauptete, die Strasse regiere nicht, sondern die Institutionen, ein Transparent. "Die Strasse regiert nicht, aber sie hat schon Könige auf die Guillotine geschickt". Ja, republikanische Traditionen beeindrucken jemand, der aus einem Land kommt, in dem die sterile politische Debatte darauf reduziert ist, zwischen den Vorgaben bürokratischer Machtapparate, Parteien eben, auszuwählen. Im wesentlichen besteht diese Demonstration aus zwei sehr unterschiedlichen, in etwa gleichgrossen Blöcken. Zuerst einer der - auch wenn alle anderen Gewerkschaften ebenfalls sichtbar darin vertreten waren - eindeutig von den Fahnen und Parolen der CGT dominiert wird. "Für neue Verhandlungen" steht auf den offiziellen CGT-Transparenten immer wieder - und es ist klar, hier soll eben dies geschehen: Verhandlungsmacht hergestellt und auch demonstriert werden. Wo Fahnen gezeigt werden, geht es selten um die Sache und meist um die eigene Organisation. Es wiederholt sich der Eindruck vom Montag, vom Morgen, aus Zeitungen und Streiknachrichten: Die Gewerkschaften mögen weniger Mitglieder haben als der DGB, sie sind aber in der Lage, deutlich mehr Menschen zu mobilisieren. Na ja, Kunden mobilisiert man nicht... Flugblätter und Aufrufe beispielsweise sind oft von verschiedenen Gewerkschaften und den Nichtorganisierten der betreffenden Einrichtungen unterzeichnet. Das alte Credo, Einheitsgewerkschaft sei in jedem Falle besser, ist unter heutigen Bedingungen zumindest weniger erwiesener Fakt, als eben das: Glaubensbekenntniss. Diskussionsbedarf wäre anzumelden. Natürlich: Die Bedingungen in Frankreich sind andere. Nicht nur wegen der politischen Traditionen, sondern auch aufgrund Gesetzeslage: Das individuelle Streikrecht gibt es in Deutschland, längst nicht so gutbürgerlich-demokratisch, wie von vielen Seiten stets vorausgesetzt, eben nicht... Diejenigen DemonstrationsteilnehmerInnen - die meisten, denen es weniger um Verhandlungen und die eigene Organisation geht, haben dann vor allem eine Parole, die sie in allen möglichen Formen sichtbar machen: "Die Reichtümer teilen, nicht das Elend". Kein Zufall - wie sich hinterher, bei der Lektüre der zahllosen Papiermengen, die man einsammelt, herausstellt - dass es bei Frauen (ohnehin sehr stark präsent) noch weiter verbreitet ist: Sie waren die Hauptopfer bisheriger Rentenreformen, da es dabei immer um Beitragsjahre ging und wer immer noch die Kinder erzieht... Eine Parole im übrigen, die auch alle möglichen linken Experten, Ökonomen, Soziologen etc pp vertreten - der üppige linke Blätterwald ist voll davon, angefangen bei der linksliberalen "Le Monde" (die sich im übrigen auffällig zurückhält - die einzige der grossen Tageszeitungen, die andere Schlagzeilen hat).

Und diese Paralelle ist dann auch Gegenstand ausführlicherer Diskussionen, sowohl in der Gruppe, als auch in diversen Gesprächen geworden. In meinem Verständnis wurde dabei deutlich, dass es eben zwei Paar Stiefel sind, ob eine Parole aus Gerechtigkeitsempfinden und ohne Rücksicht auf die aktuelle Lage vertreten wird: Das ist eine Grundposition, die in sich potenziell die Forderung nach einer anderen Gesellschaft trägt. Anders wird es, wenn sogenannte Experten vorrechnen, dass eine andere "Reform" zu machen wäre - ja, im Extremfall, gar sozusagen "gut" für den Kapitalismus. Dahinter mag eine Auffassung stecken, die den Kapitalismus krisenfrei wähnt - mit vielen radikalen Worten wird gesagt, die kapitalistischen Veränderungen der Sozialsysteme wären aus bösem Willen, Verschwörungen oder sonstigen Übelkeiten entstanden. "Geld ist genug da" - wie es jede bundesdeutsche Gewerkschaft vor (und nur vor) jeder Tarifrunde auch tut, mit solchen Parolen wird der freie Wille einer sozialen und politischen Klasse als Ursache beschworen, als ob es die ansonsten beständig thematisierte Globalisierung im ökonomischen Kern der Gesellschaft plötzlich nicht mehr gäbe. Wenn aber die Branchenkonkurrenz nicht mehr eine nationale ist, sondern weltweit, dann reicht es eben noch weniger als früher, irgendwie und irgendwelche Profite zu machen: Der Maximalprofit auf Weltebene ist der Maßstab der Konkurrenz und da nimmt "man" gerne nicht nur die Dienste der EU in Anspruch, sondern auch die der jeweiligen nationalen Regierungen - um das weltweit und in kürzester Zeit nach Anlagemöglichkeiten suchende Kapital anzuziehen. Sinniger und - ja, auch das - realistischer erschiene es mir, zu sagen, wenn diese Gesellschaft die grundlegenden Anforderungen eines menschlichen Zusammenlebens nicht mehr verwirklichen kann, und deswegen als "Ich-AG" oder ähnlichen kannibalistischen Logos den Verdrängungskampf jeder gegen jeden zum offiziellen Prinzip macht, dann ist es an der Zeit, eine andere Gesellschaft anzusteuern. Was natürlich damit zu tun hat, dass ich die Meinung teile, der Kapitalismus habe gar nicht mehr so viele Optionen, wie seine linkssozialdemokratischen Kritiker stets unterstellen, und die alte linke Lieblingsstreitfrage "Reform oder Revolution" weitgehend hinfällig. Ein Thema im übrigen, das gerade bei den radikalsten Teilen der französischen Gewerkschaftsbewegung, zumindest in den paar Verkörperungen, mit denen wir sprachen, durchaus wesentlich mehr präsent zu sein scheint, als etwa hierzulande.

2.Nichts zu verhandeln? CFDT, CGT, DGB - ein paar Vergleiche

Ein paar Reihen der Demonstranten am Dienstag in Paris, aber auch in Rouen, kamen jeweils von der CFDT, die die Pläne der Regierung ja bereits unterzeichnet hat. Wie bei jeder grösseren Auseinandersetzung der letzten zehn Jahre in Frankreich wird die CFDT erneut Mitglieder verlieren, der Unmut äussert sich offen - zumindestens in jenen Bereichen, die nicht zu den Privilegierten gehören. Dass "die Arbeiterklasse nicht immer recht" habe, war die grosse Erkenntniss, die die Führung der CFDT während unserer Anwesenheit in den Medien verbreiten liess. Man kann es meiner Meinung nach auch so interpretieren: Zwei der grossen politisch-ideologischen Strömungen, die in Deutschland im DGB ringen, sind in Frankreich in unterschiedlichen Gewerkschaftszentralen organisiert. Die technokratischen Co-Manager in der CFDT - sie streben nach Posten in den diversen neuen Versicherungskassen - und die (inzwischen dort in der Führung mehrheitliche) klassisch sozialpartnerschaftlich orientierten Kräfte (die in Frankreichs allerdings einer wesentlich grösseren linken Basis, weit über diverse trotzkistische Strömungen hinaus, Referenz erweisen müssen als hierzulande) in der CGT. Das Bestreben der CGT Apparatschikis scheint es, sich als derjenige Verhandlungspartner zu profilieren, der im Gegensatz zur CFDT Einfluss bei breitesten Teilen der Werktätigen (weit über die Reihen der eigenen Mitgliedschaft hinaus) hat. Weswegen die CGT auch konsequent vermeidet, Parolen wie "Generalstreik" oder "grève reconductible" (also jener Streik, der einerseits unbefristet erklärt wird, andrerseits je nach Lage und Bedarf ständig unterbrochen oder wiederaufgenommen werden kann) zu verbreiten - und diesen auch mit Argusaugen gegenübersteht. Ein "Kalender der Kampftage" tritt an die Stelle und da ist auch die (vorläufig) einzige Paralelle zum DGB. Dessen Grad an Perversität allerdings hat die CGT noch nicht erreicht, nach ein paar lauen Aktionen, die einen kühlen Mai bescherten, bereits eine Pause vom Kampf zu verkünden. Was auch dadurch begründet ist, dass die auf lange Sicht wohl selbstverstümmelnde (oder gar selbstmörderische) Sichtweise des kleineren Übels in der CGT eben längst nicht so weit verbreitet ist, wie in den politisch enggeführten deutschen Einheits(partei)gewerkschaften. Es sind die kleineren Gewerkschaften, wie die linksalternative "G 10-Solidaires" (SUD) oder die anarchistische CNT, oder die unabhängigen Kräfte, wie die Lehrergewerkschaften, sowie die Opposition in CGT und Force Ouvrière, die versuchen, der Streikbewegung den Charakter des (sich radikalisierenden) Flickenteppichs zu nehmen - und es sind die LehrerInnen selbst (oft ohne ihre Gewerkschaft), da sie von gleich zwei Gegenreformen betroffen sind, die am weitesten fortgeschritten dabei sind. Mehrere Tausend Schulen werden seit Wochen bestreikt, ihre Zahl wächst und sie sind miteinander über Internet verknüpft - eine grundlegende Herausforderung an Gewerkschaftsapparate. (A propos kleineres Übel: Wer jetzt sagt, so haben die Franzosen ihre konservative Regierung bekommen und wir haben unser kleineres Übel, den Macher-Imitator, der müsste wenigstens bereit sein, zur gefälligen Kenntniss zu nehmen, dass Raffarin und Co samt Unternehmerverband MEDEF, aktuell eher weniger weit gehen als Schröders antisoziale Riege und ihr Leithundt bei Riesterrennte und Agenda Steinzeit).

3.LehrerInnen und Eltern: mein Bac, dein Bac...

Über Eisenbahn, Schulen und öffentlichen Dienst gibt es in Wirklichkeit bestimmte regionale Zentren der Bewegung: Rouen etwa, vor allem wohl auch Toulouse und andere Städte, die oft - vom Ausland her gesehen - im Schatten von Paris, Lyon oder Marseille stehen. "Ein Flickenteppich sich radikalisierender Streiks" schrieb eine grosse französische Tageszeitung am Donnerstag in ihrer Schlagzeile. Und traf, soweit ich es zu beurteilen wagen kann, durchaus einen beträchtlichen Teil der Realität. Deswegen das Bemühen, den Privatsektor in die Bewegung einzubeziehen, ein ganz zentrales Anliegen aller Aktivitäten, deswegen auch die branchenübergreifenden Streikversammlungen wie jene in der Eisenbahnhalle in Rouen, der ein Teil von uns am Donnerstag beiwohnte.Wo sehr sachlich und ohne grosse Illusion ca 250 AktivistInnen verschiedenster Gewerkschaften Bilanz zogen und Absprachen trafen. Die LehrerInnen stehen auch deshalb mit an der Spitze der Auseinandersetzungen, weil sie am meisten unter Zeitdruck stehen. Wie sollen sie sich verhalten, wenn der nahe Termin für das Zentralabitur, das Baccalauréat - bac genannt - kommt? Die SchülerInnen bestrafen, indem sie ihnen die Prüfungen nicht abnehmen, geht nicht. Auch weil dies die breite Unterstützung ihres Kampfes durch Schüler und Eltern wohl deutlich reduzieren würde, was bisher eine der grossen Stärken ihrer Bewegung ist. Und: Die Ferien kommen nahe, weshalb auch heftige Kritik an wöchentlich datierten Protesttagen sich entwickelt. Nun ist das französische Schulsystem, das sie gegen die Dezentralisierung verteidigen, ganz anders als das bundesdeutsche. Schon gar nicht föderal. Aber das Argument, die Dezentralisierung - mit der das jeweilige Departement auch wirtschaftlich für die Bildung in ihrem Bereich zuständig werden soll - führe zu ungleichen Chancen, da diese Verwaltungseinheiten über sehr unterschiedliche finanzielle Mittel verfügen, ist in jedem Falle zutreffend. Wie auch die Kritik an der damit erzeugten Perspektive wachsenden privatwirtschaftlichen Einflusses auf das normale Bildungssystem - was natürlich nicht für die Eliteschmieden der Nation, wie die ENA und andere gilt. Ansonsten gibt es da sicherlich viel zu diskutieren - und es scheint auch diskutiert zu werden - was die inhaltlichen Ziele der Ausbildung betrifft.

4.Der Produktivismus, die Landwirtschaft und die Chemie

Die Confederation Paysanne, die wir Dienstag morgen besuchten, ist einer von vier grösseren Bauernverbänden, der ca 20 Prozent der 750.000 Bauern organisiert hat und bei den Wahlen zur Landwirtschaftskammer etwa ein Viertel der Stimmen bekam. International bekannt vor allem als der Verband von José Bové und als Mitglied der Via Campesina haben sie Front gemacht vor allem gegen die Industrialisierung der Landwirtschaft. Was bedeutet, die bäuerliche Landwirtschaft zu verteidigen gegen Banken, Nahrungsmittelkonzerne und Chemiekonzerne - wobei das jeweils auch interne Debatten bedeutet, da es eben ein Massenverband ist. Das Verhältnis zu den traditionellen Gewerkschaften sei "schwierig" sagt uns der Verbandsvertreter: Interessensgegensätze etwa bei genau jenen Branchen, denen die Konföderation kritisch gegenübersteht. Nun gibt es Frankreich etwa eine genau so lange Liste permanenter "Ernährungsskandale" - die natürlich kein Skandal, sondern System sind - wie in Deutschland. Wenn alle Tierarten, die der Mensch auffrisst, durch sind, fängt es wieder von vorne an. Dadurch vor allem ist die Auseinandersetzung um die "Nahrungsmittelindustrie" auf den Kern, die Frage der rationalisierten, industriellen Erzeugung von Nahrung zurückgeworfen, egal ob kapitalistischer Konzern oder sozialistisches Kombinat oder was auch immer. Einer der Gründe, weswegen der kommunistische Bauernverband noch tiefer von der allgemeinen PCF Krise erfasst ist, als andere Bestandtteile dieser Bewegung, denn die klassische Form - eben Staatsfarmen oder möglichst grosse Produktionsgenossenschaften - passen logischerweise genau in das Konzept industrieller Nahrungserzeugung. Dies hat sich nun in Frankreich - und über das Mitwirken der Via Campesina etwa bei den Weltsozialforen - auch in der Linken allgemein wenn nicht als Position durchgesetzt, so doch wenigstens als wichtige Frage etabliert. Jedenfalls werden Gruppierungen wie die Konföderation nicht mehr rundweg als rückständige Vereinigungen, die an der Scholle hängen kritisiert, wie es früher oft war. Im Gegenteil: wenn es in Frankreich so etwas gibt, wie "social movement unionism" dann wird er durch die SUD Allianz verkörpert. Und wenn es, wie wir erfahren haben, etwa bei SUD Rail, SUD PTT und SUD Education verhältnissmässig einfach ist, gesellschaftliche Bezüge über den Betrieb und die Branche hinaus nicht nur aufzubauen, sondern von vorneherein mit einzubeziehen, so ist dies gerade in einer Branche wie der Chemie besonders kompliziert. Weil natürlich etwa die Abschaffung der Pestizid-Produktion direkt Arbeitsplätze kostet. (Wie wohl bei den Unmengen Schrott, die die Warenwirtschaft produziert, jede Vorstellung, dies könne durch Produktkonversion umgangen werden, etwas arg blauäugig ist). So war es auch bei der Diskussion mit dem Vertreter der SUD Chemie in Rouen. Die setzen bei der Debatte um den Gegenstand der Produktion denn auch - richtigerweise - erst mal da an, wo es einfacher ist: Wenn einfache Medikamente, die etwa in Afrika oder sonstwo benötigt würden, nicht mehr produziert werden, weil die Versorgung der "Luxuskrankheiten" in den kapitalistischen Zentren profitträchtiger ist. Was natürlich die Frage der Reduzierung von Produktion, wie sie in anderen Sektoren steht, nicht aufwirft und von daher leichter zu diskutieren ist. Aber eben auch nur Zeitgewinn ist - meiner Meinung nach.

5.Abschliessendes

Ich denke, die inhaltlichen Fragen zur Diskussion, die die Erfahrungen dieser Reise mit sich gebracht haben, dürften einigermassen deutlich geworden sein, hoffe ich jedenfalls. Ebenso, dass es keineswegs "französische" Fragen sind, sondern hier - eigentlich - genuso dringend anstehen. Der gesellschaftliche Bezug der Gewerkschaftsarbeit (hier ganz bewusst im Gegensatz verstanden zur Interessensvertretung am Arbeitsplatz - weil ich meine, zumindest diskutieren muss man dies zunächst als Gegensatz, danach kann dann gesehen werden, was sich wie verbinden lässt - oder nicht) und die Auseinandersetzung um den Produktivismus (der ja traditionell eine linke Position ist - "wenn wir erst mal die Produktivkräfte entfesselt haben...") scheinen mir dabei die wesentlichsten Sachen zu sein. Was noch auffiel: Dass der Glaubenssatz "Einheitsgewerkschaft ist an sich besser" zumindest relativiert werden sollte, darüber nachgedacht, was manchem Arbeitsplatzbesitzer im Apparat schwerfallen dürfte... Und dass die deutschen Medien ungefähr die Qualität der viel geschmähten US-amerikanischen haben - nicht nur, weil mensch buchstäblich nichts über Frankreich erfährt, was auffällt wenn man bei Nachbarns ist, und dabei deutsche Zeitungen sich antut.


wh: Anmerkungen zur 23. Woche 2003 in Frankreich

Die besondere Situation: Wir kommen in ein Land, das mitten in einer allumfassenden Streikbewegung steht und wo die sozialen und politischen Fronten sehr klar sind: Auf der einen Seite die Regierung und der Medef, der Unternehmerverband, und dahinter die Brüsseler Administration, die zur entschlossenen Durchsetzung der Rentenreform auffordert. Im Hintergrund der Geist von 1995, die damalige grosse Streikbewegung, das Zurückweichen der Regierung und der spätere Abgang des Premierministers Juppé.

Der Geist von 1995 ist aber auch gegenwärtig bei den Streikenden. Dieses Mal soll es gelingen, was 1995 nicht gelungen ist, der allumfassende Greve generale. Die Bewegung hat dieses Mal aber ihr Zentrum nicht bei den EisenbahnerInnen, sondern im nationalen Schulwesen, das heißt aber nicht allein bei den Lehrern, sondern bei allen Akteuren in diesem Bereich der Schule,. dem technischen und sozialen Betreuungspersonal genauso wie bei den Lehrern. Und viele Eltern beteiligen sich an den schulischen und regionalen Streikkomitees. Seit dem 13. Mai sind aber auch die Transportbereiche/ EisenbahnerInnen und U-Bahnbeschäftigte und fast alle Bereiche des öffentlichen Dienstes mit in die Streikbewegung eingetreten.

All das hat sich vor unserer Ankunft schon ereignet und wir kommen mitten hinein in diese Bewegung.

Auf den Strassen von Montreuil, einer Kommune am Stadtrand von Paris, unserem Stützpunkt, sind die Bauzäune und Häuserwände vollgeklebt mit der Aufforderung zum "greve generale reconductible" was die Basiskontrolle ausdrückt- Streik und seine Fortsetzung, der immer wieder neu diskutiert und beschlossen wird von den Streikversammlungen. Von daher spielt die Information und der Medienkrieg eine ganz wichtige Rolle in den Streikversammlungen und für die Stimmung der Streikenden. Denn die autonomen Versammlungen wollen natürlich wissen, wie läuft der Streik anderswo. Und bei der Streikversammlung in Rouen im Eisenbahnerdepot haben wir bemerkt, wie wichtig diese Berichte aus den anderen Bereichen waren für die Moral und auch die Entscheidung der Streikenden zur Fortsetzung des Streiks.

Wie notwendig in einem solchen Streik die direkte gewerkschaftliche Öffentlichkeitsarbeit ist, wird in solchen Momenten begriffen./ die zentrale Bedeutung eines funktionierenden virtuellen Netzwerkes/

Dennoch begannen wir unsere Woche mit einem langen Spaziergang raus in den Parc de Vincennes und besuchten die Cartoucherie de Vincennes, dem Spiel- und Lebensort für die Theater-gruppe des Theatre de Soleil. Die Geschichte und auch die heutigen Aktivitäten dieser Gruppe sind nämlich auch ein Teil der gesellschaftlichen Bewegung in Frankreich seit mehr als 30 Jahren. Angefangen in den 60er Jahren spielten sie vor allem in den Jahren nach dem Mai 68 den Revolutionsprozess von 1789- 1793. Seit der Bewegung der sans papiers hat das Theatre und seine Hallen und Wiesen immer wieder als Rückzugsgebiet und sozialer Schutzraum für die verfolgten sans papiers gedient. Diese Erfahrung und das Zusammenleben mit den sans-papiers, von denen wir ja auch einige durch unsere Besuche in den letzten Jahren kennengelernt haben, bilden auch heute die Grundlage für das neue Theaterstück " die letzte caravanserail". Flüchtlinge als Wanderer über die Meere und zwischen den Welten bringen ihre Unruhe und ihre Lebenswelt und ihre Forderungen auf die Bühne. Und das angesichts einer Regierung, die momentan verstärkt die sans papiers verfolgt und gleichzeitig auch noch deren Unterstützer auf der Grundlage des neugeschaffenen "delit de solidarité" anklagen lässt.

Das Treffen bei der Confederation paysanne, der anderen oder auch alternativen Bauerngewerkschaft, machte uns recht schnell klar den Unterschied zum hiesigen Gewerkschaftsverständnis. Keine Gewerkschaft, die sich nur um die unmittelbaren Interessen der Beschäftigten kümmert, sondern gerade auch um die Bedeutung ihrer Produkte für die Gesellschaft, für die Umwelt und für die Gesundheit. Ihre Kritik an der produktivistischen Landwirtschaft/ immer mehr Einsatz von Pestiziden, immer höhere Produktionsmengen, ohne Rücksicht auf die Qualität der Nahrung und auf die Umwelt/ zeigt aber gleichzeitig eine andere Art und Weise des Produzierens und auch des Verhältnisses zur Natur, zum Produkt und auch zu den Verbrauchern und der gesellschaftlichen Produktion insgesamt. Sie versuchen, ihre Kritik praktisch zu machen durch die Art des Wirtschaftens. Sie nennen das die bäuerliche Landwirtschaft. Ein kurze, klare und spannende Einführung in die Geschichte dieser Gewerkschaft von 15000 bäuerlichen Produzenten wurde uns gegeben und gleichzeitig wurden wir zum grossen Fest auf das Larzac im August eingeladen, wo sich die gesamte breite soziale Bewegung für die andere Globalisierung trifft. Viele Stadtmenschen fragen bei uns an, ob sie nicht in die Gewerkschaft eintreten können, war die kurze Schlußbemerkung. Das wäre was, wieder Lust zu bekommen in eine Gewerkschaft eintreten zu wollen und bewußter und selbstverantwortlicher Akteur bei ihrem Aufbau zu werden. Mir gehen bei diesen Sätzen solche Gedanken durch den Kopf.

Weiter geht es dann nach Rouen und hier erleben wir einen Chemiegewerkschafter der Sud, der ganz offen diesen Widerspruch einer Produktionsbranche benennt, die Waren produziert, die zum grossen Teil für die Gesellschaft schädlich und damit eigentlich überflüssig sind wie zum Beispiel die Pestizide und andere Produkte für die Intensiv-Landwirtschaft, gleichzeitig aber zunehmend Forschungen einstellt und Produktionenlinien von Medikamenten stillegt, die für die Krankheitsbekämpfung in den Ländern des Südens lebenswichtig sind. Grund: die fehlende Kaufkraft der Menschen im Süden. Die Kollegen in Rouen haben eine Kampagne gestartet mit " Ärzte ohne Grenzen" für die Fortsetzung der Produktion von billigen Aids-Präparaten. Hier wurde uns auch noch einmal klar und deutlich vorgeführt, was eigentlich eine andere Gewerkschaftsbewegung heute ausmacht und was gerade auch Sud und die Bauerngewerkschaft verbindet. Es ist schon ein Erlebnis, wenn über viele Jahre sich solche Verbindungen aufbauen, auf beiden Seiten immer wieder neue Akteure hinzukommen, ein bestimmter Kern von Leuten auf beiden Seiten aber das Grundgerüst bildet für die Vorbereitung und Durchführung der gemeinsamen Treffen, um in dieser Woche etwas zu erleben, was ich eigentlich nur " französisch" wiedergeben kann- une convivialité et une solidarité chaleureuse". Am Mittwoch abend zuerst beim gemeinsamen Abendessen und den Liedern und Gesängen, danach beim nächtlichen Besuch in den besetzten Eisenbahnerdepots und dem Hinaufklettern auf die Pazifik-Lok, die in den 20er Jahren in 59 Minuten von Paris nach Rouen fuhr, kam natürlich auch der Stolz des streikenden Eisenbahners auf sein Tun zu uns herüber.

Es ist eine tolle Erfahrung, selbstbewußte, kampfentschlossene und mutige GewerkschafterInnen und in denselben Menschen oft auch sozialrevolutionäre Akteure kennenzulernen.

Genau deshalb auch haben wir beschlossen, uns zu einem Verbindungskomitee - SUD zusammenzuschliessen. SUD das bedeutet für uns- eine andere Gewerkschaftsbewegung: solidarisch, ungehorsam, Direkt

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