letzte Änderung am 15. August 2003

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Über 250 000 Menschen bei Widerstandsfestival  auf dem Larzac-Plateau

Im ersten Moment fühlt man sich in den Westen der USA zu Zeiten des Gold Rush versetzt. Quasi über Nacht wuchs eine Zeltstadt für über 200 000 Menschen aus dem Boden. Es gibt kein fliessendes Wasser, und die Versorgung mit dem – bei Temperaturen von über 40 Grad im Schatten – lebenswichtigen Nass erfolgt aus Tankwagen, vor denen sich beeindruckende Warteschlangen bilden. Oder aus Mineralwasserflaschen, die mancherorts überteuert verkauft, an anderer Stelle aber auch durch die Feuerwehr kostenlos verteilt werden, mit ökologischem Appel an Wiederverwendung der (in Frankreich üblichen) blauen Plastikflaschen.

Tagsüber herrscht sengende Hitze auf dem Larzac, dem Kalkplateu im südlichen Zentralmassiv, während es nachts ziemlich kühl werden kann - vor allem für die doch recht zahlreichen Personen, die kein Zelt haben und unter freiem Himmel schlafen. In einem eigens errichteten Krankenhauszelt werden Sonnenstiche und –brände behandelt, insgesamt 1200 Personen nehmen die Dienste des 500-köpfigen Teams freiwilliger Ärztinnen und Helfer in Anspruch. Überall erinnern Schilder daran, dass es streng verboten ist, Feuer zu machen, aufgrund der durch Hitze und seit Monaten anhaltende Dürre extrem erhöhten Waldbrandgefahr. "Seid Feuer und Flamme - Ihr, aber nicht das Hochplateau" steht mahnend auf einem davon. 

Ein heterogenes Publikum

Doch spätestens hier endet der Vergleich mit den Bedingungen der Goldschürfer im seinerzeitigen Nordamerika. Denn individuelles Gewinnstreben hat wohl niemanden unter den Hunderttausenden angespornt, gerade hierher zu kommen. Ansonsten sind die Motive wahrscheinlich vielfältig und variieren zwischen Atomkraftgegnerinnen, kämpferischen Bauern, vielen Lehrerinnen, Gewerkschaftern, einigen Hippies, aber auch politischen Theatergruppen, ein paar jungen Punks und zahllosen Familien mit Kindern. Die grosse Mehrzahl dürfte sich politisch links oder linksradikal verorten, manche sind auch aus Neugier gekommen. Wahrscheinlich hat das gut bestückte Kulturprogramm mit riesigen Freiluftkonzerten in der näheren Region, dem zentralen Südfrankreich, eine Anziehungswirkung auch auf Zögernde entfaltet.

Aber die TeilnerhmerInnen kommen aus ganz Frankreich: Die Autokennzeichen verraten die Herkunft aus dem Raum Toulon, aus der westfranzösischen Vendée, aus Orléans oder dem Pariser Umland, ja aus dem Raum Lille... und sehr zahlreich aus den nahen gelegenen Bezirken von Montpellier und Toulouse. Einzelne Autos stammen aus auch Belgien und der Schweiz. 50 Kilometer Gesamtlänge betrugen die Staus auf den zwei oder drei Zufahrten zum Gelände am Freitagnachmittag, vor allem von der Kreisstadt Millau aus hangaufwärts. Auf dieser Teilstrecke harrten so manche Teilnehmer bis zu sieben Stunden in ihren Wagen aus.

Trotz dieser Vielfalt geht es ernsthaft und unerwartet unchaotisch zu: Es liegt so gut wie kein Müll herum, der stattdessen in zahllosen getrennten Behältern eingesammelt wird. Am Sonntag lesen die Zehntausende Besucher der Abschlusskundgebung und des letzten Konzerts, mit der brasilianischen Band "Kinder der Strasse", fein säuberlich die Glasscherben auf dem riesigen Platz vor der Konzertbühne auf, während sie zuhören. Kurz zuvor hatte die, das gesamte Wochenende über präsente, Feuerwehr die dankbare Menge aus Wasserschläuchen bespritzt. An vieles war gedacht worden an diesen drei Tagen. Die Freiwilligen des Zivilschutzes kommen, den Kennzeichen ihrer Einsatzwagen nach, bis von der Côte d’Azur. Auch die kostenlose Kondomverteilung war eingeplant. Besonders lobend muss die Versorgung mit qualitativ hervorragenden Nahrungsmitteln, oft von Bauern aus den Reihen der linken Gewerkschaft Confédération paysanne, hervorgehoben werden – nichts zu tun mit dem voll-veganen "Volxküchen"-Würgfrass, den man mit Schrecken bei so mancher Zusammenkunft deutscher Alternativer kennlernen musste.

Doch wer erst zum zwölfstündigen grossen Abschlusskonzert am Samstag abend – auf dem Höhepunkt tritt um ein Uhr früh der französisch-spanische Rock- und Politsänger Manu Chao auf die Bühne, später in der Nacht gefolgt von der anglo-pakistanischen Band "Asia Dub Foundation" aus London – anreisen wollte, hatte oft Pech. Um 16 Uhr hatten die VeranstalterInnen die Gendarmerie aufgefordert, die Autobahnzufahrt zu dem Gelände zu sperren und Neuankömmlinge abzuweisen. Diesen ungewöhnlichen Schritt taten sie nicht mit Vergnügen. Aber die Versorgung der TeilnehmerInnen am Widerstandsfestival "Larzac 2003" drohte sonst zusammenzubrechen – so, wie jegliche Telekommunikation längst zusammengebrochen war, denn seit Freitag gegen mittag war kein Handy auf dem Gelände mehr empfangsbereit, wegen Übersättigung des Netzes.

Eine Region mit politischem Gedächtnis

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich annähernd 300 000 Menschen auf dem Terrain rund 20 Kilometer südlich der Kreisstadt Millau, auf das man auf hangwärts gewundenen Strassen emportschleichen musste, vorbei an zahlreichen politischen Schriftzügen, die an Abhängen des Plateaus oder auf entsprechend gemähten Feldern prangten – ein bisschen, als ob man in eine Guerillazone vorstiesse. "Liberta per José" hiess es da auf Okzitanisch – der Regionalsprache in weiten Teilen Südfrankreichs – und Hochfranzösisch, dort stand "Wo Gewerkschafter eingesperrt werden, besteht Gefahr für die Gesellschaft", "Nein zu OGM" (gentechnisch veränderten Organismen) oder hier "Chirac ins Gefängnis, José Bové nach Hause". Der seit einigen spektakulären Aktionen zivilen Ungehorsams 1998/99 prominent gewordene Sprecher der linksalternativen Bauerngewerkschaft Confédération paysanne, der selbst Schafe auf dem Larzac züchtet, war am 22. Juni durch ein spektakuläres Gendarmen-Aufgebot mitsamt Hubschrauber aus dem Bett geholt und in ein Gefängnis nahe Montpellier abtransportiert worden.

Zuvor hatte ihn das Berufungsgericht von Montpellier zu 10 Monaten Haft ohne Bewährung verdonnert, weil Bové - als "Wiederholungstäter"- daran teilgenommen hatte, genmanipulierte Reissetzlinge auszurupfen. Das war im Juni 1999, zusammen mit indischen Bauern, die sich auf einer Solidaritätstournee durch Europa befanden,um über die Praktiken des Agromultis Monsanto in ihrem Land zu informieren. Doch Ende Juli entschied der Haftrichter, Bové unter Auflagen auf freien Fuss zu setzen, damit er einer Erwerbsarbeit nachgehen könne. (Siehe Labournet vom 5. August 03)

Da Bové die Gefängnistore von Villeneuve-lès-Maguelonne am 1. August – abgemagert, aber motiviert – nach draussen durchschritt, konnte er doch noch, als Quasi-Stargast, an jenem Widerstandsfestival teilnehmen, dessen Ausgangsidee er selbst ersonnen hatte. Ursprünglich ging es darum, den 30. Jahrestag der ersten grossen Protestversammlung (mit 60 000 TeilnerhmerInnen) auf dem Larzacplateau vom August 1973 zu markieren, und so zugleich eine Verbindung zwischen den Widerständen von gestern und jenen von heute herzustellen. (Vgl. Labournet vom 5. August 03) Ferner sollte die nächste Mobilisierungsetappe gegen die Welthandelsorganisation WTO, deren nächster Gipfel Mitte September im mexikanischen Cancun stattfindet, vorbereitet werden.

Vielfältige Debatten

Zahlreiche Gäste und Exponenten aus Brasilien, Argentinien, Palästina, den USA oder französischen "Überseegebieten" sind zum Festival "Larzac 2003" eingeladen. Unter einem halben Dutzend riesiger Zirkuszelte, die jeweils mindestens 2000 Menschen fassen und auf symbolische Namen wie "Seattle", "Porto Alegre", "Cancun"- in dieser mexikanischen Stadt wird der nächste Gipfel der WTO vom 10. bis 14. September stattfinden - oder "Genmanipulix" hören, drängen sich dicht an dicht Menschen im verzweifelten Bestreben, noch in den Schattenbereich zu kommen; einige akzeptieren auch, in der prallen Sonne zu stehen.

Hier geht es um atomare Abrüstung, Ausstieg aus der Atomenergie und um die Rolle der französischen Nuklearindustrie bei der Proliferation von A-Waffen – wobei es auch zu einigen Kontroversen mit CGT-Gewerkschaftern um die Frage des Abschieds von der Atomenergienutzung kommt. Dort geht es um die Kriege der Neuen Weltordnung, um die Privatisierung bisheriger öfffentlicher Dienstleistungen oder um Repression gegen soziale Bewegungen. Der bekannte unorthodoxe Filmemacher Pierre Carles stellt seinen neuen Film "Danger travail" (Gefahr Arbeit) in Avantpremiere vor, in dem 12 Arbeitslose ausführlich erzählen, warum sie (nach ihrer vorherigen Erwerbsbiographie) nie wieder die Zwänge einer "geregelten Erwerbsarbeit" akzeptieren könnten und ihren jetzigen Status vorziehen. Im Anschluss können Publikum und Regisseur – dazu und über anderes - mit Arbeitern der Reifenfabrik Michelin aus Clermont-Ferrand diskutieren, über deren Arbeitsbedngungen ebenfalls ein kritischer Film ("Paroles de Bib", 2001) gezeigt wird. Konsenshaft geht es dabei durchaus nicht zu, sondern es wird heftig, aber ernsthaft und sachlich gestritten: Während einige Pierre Carles’ Film grandios finden, bemängeln andere, die von ihm aufgezeigte Perspektive schlage der Perspektive einer Umwälzung der Arbeits- und Eigentumsordnung die Tür zu. Deswegen nutze er den Neoliberalen, was andere vehement bestreiten, da der Film eine rritische Aussage zum gesellschaftlichen Stellenwert von Erwerbsarbeit überhaupt und damit eine "subversive Botschaft" enthalte. Wenn einige (darunter deutsche) Medien im Anschluss an das Larzac-Widerstandsfestival durchblicken liessen, es sei nach ihrem Geschmack zu einstimmig zugegangen, dann lässt dies erkennen, dass ihre JournalistInnen vielleicht nur an den Auftakt- und Abschlusskundgebungen teilgenommen haben – aber wohl nicht an den intensiven Debatten während der drei Tage.

An zahlreichen Orten wiederum führen die derzeit massenhaft streikenden, prekären Kulturschaffenden ihre neuen Protestformen - der letzte Schrei ist genau das, nämlich ein allabendlich vor Arbeitgeberverbänden oder Stadtverwaltung auszustossender, lang anhaltender Schrei -, aber auch einige ihrer besten Stücke vor. So die fabulösen Clown-Akrobaten der Compagnie Tango Sumo aus der Bretagne, die – seit Juni im Kulturstreik- eine aussichtsreiche Frankreichtournee im Juli annuliert hatte, aber auf dem Larzac kostenlos spielt.           

Zum Auftakt und zum Abschluss der dreitägigen Grossveranstaltung wird José Bové zusammen mit einigen der eingeladenen RednerInnen auf der grossen Tribüne stehen. Etwa mit der US-Verbraucheranwältin Lori Wallach (von der Vereinigung "Public Citizen"), die die Funktionsweise der WTO und die Auswirkungen ihrer Entscheidungen namentlich auf die so genannte Dritte Welt detalliert schildert – beispielsweise das Verbot einer Preisbindung für Grundnahrungsmittel wie die Tortilla in Mexiko als "wettbewerbshinderlich". Oder auch dem Vertreter der militanten Immigranten-Selbstorganisation Mib (Mouvement de l’immigration et des banlieues, Bewegung der Einwanderer und der Vorstädte), Abdelaziz N. Er schlägt einen Bogen von der Frage des hyper-produktivistischen und auf Export ausgerichteten Agrarmodells der EU über den Ruin der ProduzentInnen in der so genannten Dritten Welt hin zur (oftmals polizeilichen oder gar militärischen) Verwaltung des "Risikopotenzials Einwanderung" an den Aussengrenzen der Europäischen Union oder auch in ihrem Inneren. "Vor einem Jahr waren wir als Migranten-Selbstorganisation (im südfranzösischen) Nimes präsent, nachdem Polizeibeamte den 17-jährigen Mourad erschossen hatten. Vertreter der Confédération paysanne, darunter José Bové, waren an unserer Seite. Welche Überraschung mussten wir erleben, als das Gespräch mit Mourads Eltern hinterher in ein Fachgespräch mit den Gewerkschaftern aus der Landwirtschaft ausartete! Es stellte sich heraus, dass die Familie von Mourad eine Familie von marokkanischen Bauern war, die in ihrem Land nicht mehr überleben konnte, weil sie gegenüber den modernisierten Sektoren und den Importen nicht mehr konkurrenzfähig war und deswegen in die Migration ging. Hunderttausende und Millionen teilen ihr Schicksal. Aber heute ist das Mittelmeer zum Friedhof für die Hoffnungen von vielen unter ihnen geworden." Der Mib-Repräsentant wandte sich deswegen scharf gegen den Umgang der EU-Staaten mit so genannter illegaler Einwanderung. Im Anschluss an seine viel applaudierte Rede legte Bové ihm öffentlich den Arm um den Rücken. Die Solidarität mit Immigranten, auch "illegalen", gehörte stets zum gewerkschaftlichen Grundverständnis der Confédération paysanne.

Aufruf zu "brennend heissem Herbst"

. "Das Besondere auf dem Larzac 1973", erklärt Bové seinerseits, "war die Präsenz der Lip-Beschäftigten", jener von Erwerbsverlust bedrohten Arbeiter einer Uhrenfabrik in Besançon, die 1973 ihre Besitzer "entlassen" und die Fabrik ein Jahr lang in Eigenregie betrieben hatten. "Das machte das Bündnis zwischen kämpfenden Bauern und Arbeitern deutlich. In diesem Jahr (2003)", fährt der Gewerkschaftssprecher fort, "ist das Besondere die zeitliche Nähe unserer Versammlung auf dem Larzac zu der fantastischen sozialen Bewegung, die das ganze Frühjahr und den Sommer geprägt hat: Die Streiks gegen die Rentenreform, der Lehrer, der Kulturschaffenden. Als wir das Widerstandsfestival zu planen begannen, konnten wir das nicht vorhersehen. Aber diese Konvergenz verleiht uns Energie für einen neuen Anlauf."

Nur gemeinsam könne man zu Erfolg gelangen. "Wir wollen nicht, dass (der französische Multikonzern) Vivendi die Wasserversorgung beherrscht, oder dass die Bauern Gensaat bei Monsanto kaufen müssen. Genauso wenig wollen wir, dass (die französischen Versicherungsriesen) Axa und Bébéar sich die Krankenversicherung unter den Nagel reissen", deren Teilprivatisierung die regierende Rechte vielleicht schon ab dem Herbst in Angriff nehmen will. In diesem Sinne ruft Bové zu Protestaktionen gegen die WTO-Tagung, mit Demonstrationen am 6. September – dem Tag des nächsten Lehrerstreiks – und am 13. September auf. Was auf die Tagesordnung müsse, so Bové, sei "kein heisser Herbst, sondern ein brennender Herbst". Nach ihm stösst Annick Coupé, die Specherin des Zusammenschlusses linker Basisgewerkschaften SUD-Solidaires, in dasselbe Horn und rüft zusätzlich zu Demonstrationen gegen die "Sommeruniversität" des Arbeitgeberverbands MEDEF Ende August im Nobelvorort Jouay-en-Jossas (in der Nähe von Versailles) auf.

 Doch Bové bestand kurz davor noch auf einem weiteren Punkt: "Ich bin nur ein Gewerkschafter, einer von vielen", betonte jener, den manche bürgerlichen Medien durch Überpersonalisierung gern zu einer Art nationaler Maskottchenfigur – die sich angeblich nur gegen Mc Donalds und US-Fastfood wende, während Bové in Wirklichkeit vor allem auch gegen französische und europäische Konzerne protestiert – umformen würden. "Ich darf nicht der Baum, der den Wald der Vielen zudeckt. Deswegen werde ich im April (2004) von meinem Sprechera sein mt zurücktreten. Aber keinesfalls, um eine Politikerkarriere anzutreten." Gerüchte, die seitens der Grünen schon seit dem Jahr 2000 bezüglich einer möglichen Kandidatur Bovés für ihre Partei – etwa zur Präsidentschaftswahl vom vorigen Jahr - gestreut wurden, dementierte Bové erneut energisch: Ihn interessiere vor allem die gesellschaftliche Gegenmacht.

Bernhard Schmid, Hospitalet-du-Larzac

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