letzte Änderung am 10. Juli 2003

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Frankreich: Kulturstreik radikalisiert sich

So etwas hat es noch nie gegeben: Die wichtigsten Kulturfestivals, die in Frankreich normalerweise den Monat Juli begleiten, sind seit diesem Donnerstag alle annulliert – aufgrund des Streiks, der in der französischen Kulturwelt weite Kreise zieht. Das hatte es nicht einmal im Zuge der Schockwelle des Mai 1968 gegeben – damals war etwa das Festival von Avignon gestört, aber nicht abgesagt worden.

Kurz vor Mittag gab am Donnerstag, 10. Juli der Leiter des südfranzösischen Theaterfestivals, Bernard Faivre d’Arcier, seinen Beschluss bekannt, die diesjährige 57. Ausgabe der Veranstaltungsreihe definitiv ausfallen zu lassen – zum ersten Mal in seiner Geschichte. Zunächst war am Dienstag, 8. Juli die Eröffnungsaufführung abgesagt worden, da seit dem Vortag die Techniker Innen und zahlreiche KünstlerInnen in den unbefristeten Streik getreten waren. Zunächst versuchten die Veranstalter des Festivals, aber auch die (konservativ regierte) Stadt Avignon, die um ihre Tourismuseinnahmen fürchtet – Bürgermeisterin Marie-Josée Roig fürchtet einen unmittelbaren Verlust von 2,5 Millionen Euro – noch zu retten, was zu retten war. Doch am Donnerstag früh warf Faivdre d’Arcier die Brocken hin. Nicht ohne (nachvollziehbare) Emotion, da er das Festival in diesem Jahr zum letzten Mal leiten wollte.

In der Nacht zuvor stand, nach stundenlangen leidenschaftlichen Debatten, das Votum der Vollversammlung um 2.54 Uhr in der Frühe fest: Der Streik sollte fortgeführt werden. Die Abstimmung fiel zwar (mit 272 gegen 244 Stimmen, bei 79 Enthaltungen und ungültigen Stimmen) knapper aus als die überwältigende Pro-Streik-Mehrheit zwei Tage zuvor. Aber die Entschlossenheit jener Kulturschaffenden, die für eine nahe Zukunft um ihre nackte Existenz fürchten, schien ungebrochen. Das neogaullistische Stadtoberhaupt Marie-Josée Roig konstatierte: "Man kann nicht drei Wochen durchhalten, mit Vollversammlungen jeden Abend". Das Festival hatte ursprünglich vom 8. Bis 28. Juli dauern sollen.

Am selben Vormittag wurde auch die Annullierung des 55. Festivals für lyrische Kunst in Aix-en-Provence bekannt, zu dem bis zum 25. Juli insgesamt 60.000 Eintritte einwartet worden waren. Sein Leiter Stéphane Lissner wurde im Laufe des Donnerstag zu einer Pressekonferenz erwartet. Seine Entscheidung stand fest, nachdem am Mittwoch abend mehrere hundert streikende Kulturschaffende eine Aufführung der Verdi-Oper La Traviata gestört und vier Stunden lang für ein Trommel-, Knaller- und Rasselkonzert gesorgt hatten.

Auch im westfranzösischen La Rochelle war am Mittwoch das Chanson- und Musikfestival Les Francofolies abgesagt worden. Es sollte vom 11. bis 17. Juli stattfinden. In der Vorwoche hatte in derselben Stadt das Filmfestival "La Coursive" unter Störungen noch stattfinden können: Am 1. Juli war es zunächst für einen Tag ausgefallen. Doch am folgenden Tag hatte eine Vollversammlung der protestierenden Kulturleute mit knapper Mehrheit beschlossen, die Wiederaufnahme der Vorführungen zu akzeptieren, um das Festival "als Tribüne zu nutzen" und mit dem Publikum in die Diskussion zu kommen.

Kein(e) Künstler(in) wird diese Ergebnisse mit Vergnügen sehen, verhindern sie doch objektiv, dass die Früchte monate- und jahrelanger Arbeit vorgetragen werden können. Aber nur wenn der Streik flächendeckend und effizient ist, vermag er auf gesamtgesellschaftlicher Ebene Wirkung zu entfalten. Ansonsten ist es dem Staat und der privaten Wirtschaft reichlich egal, ob sich die Kulturszene "in’s eigene Fleisch schneidet", da eine Arbeitsniederlegung in diesem Bereich (wenn sie nicht etwa zu spürbaren Konsequenzen für die Tourismuseinnahmen führt) keinen für das Funktionieren der ökonomischen Maschinerie überlebenswichtigen Sektor trifft.

Deswegen ist auch der derzeit über die bürgerlichen Medien weit verbreitete Diskurs, wonach "die Kulturleute den Ast absägen, auf dem sie sitzen", völlig in die Irre führend. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Weil viele Kulturschaffende spüren, dass ihnen – von einer rechten Regierung und einem Arbeitgeberlager, denen Kultur, Soziales und Bildung (über bestimmte funktionale Mindeststandards hinaus) als unnötige Kostenfaktoren gelten - der Boden ihrer sozialen Existenz unter den Füßen weggezogen wird, greifen sie zu geradezu verzweifelten Notwehrmaßnahmen. Die meisten von ihnen dürften in ihrem Inneren erschüttert sein, wenn Musiker im Lärm ihre Instrumente einpacken müssen und Theatergruppen ihre Aufführung abbrechen müssen. Natürlich kommt es dabei auch zu individuellen Härten und Ungerechtigkeiten, wenn etwa in La Rochelle der "Francofolies"-Leiter Jean-Louis Foulquier getroffen wird (der mit erschütterter Stimme vor die Medien trat) und sich gleichzeitig die ebendort ansässige Choregraphin Régine Chopinot mit ihrer angeblichen Unterstützung für die Streikenden brüstet. Denn Madame Chopinot ist seit langem eine Protégée des jetzigen konservativen Premierminister Jean-Pierre Raffarin (der vorher Chef der dortigen Regionalregierung in Poitiers war), und vor Beginn der jüngsten Streikfall hatte sie auf plumpe Art die "Francofolies"-Leitung dazu erpressen wollen, ihren Sohnemann auf dem Festival einzustellen – ohne Erfolg. Dass falsche Fuffziger auf der Welle mitschwimmen, lässt sich leider nicht immer vermeiden.

Aber für einen bedeutenden Teil der, oftmals prekären und schlecht verdienenden, Kulturschaffenden steht das Wasser auf absehbare Zeit bis zum Hals. Das Abkommen zur Neuregelung der Unterstützung für geringfügig oder diskontinuierlich beschäftigte Kulturbeschäftigte (siehe voraus gehenden Hintergrundartikel) sieht vor, deren Alimentierung aus der Arbeitslosenkasse um ein Drittel ihrer Dauer zu verringern. Ferner werden neue Aufnahmekonditionen vorgesehen, die voraussichtlich ein Drittel der Kulturschaffenden – und gerade die prekärsten unter ihnen, oftmals junge KünstlerInnen, die neu anfangen – völlig aus der Unterstützung hätten heraus fallen lassen.

Der konservative Kulturminister Jean-Jacques Aillagon hatte am Sonntag als "Kompromiss" vorgeschlagen, die Anwendung des neuen Abkommens zeitlich zu strecken. Die Neufassung der Aufnahmekonditionen hätte (statt, wie geplant, am 1. Oktober 03 in Kraft zu treten) schrittweise eingeführt werden sollen. Wird bisher gefördert, wer 507 Anrechnungsstunden in den voraus gehenden 12 Monaten nachweisen kann – was für viele Kulturschaffende aufgrund der Natur ihrer Tätigkeit bereits heute schwer ist – , sollten es somit ab dem 1. Januar 2004 nunmehr dieselbe Stundenzahl in 11 Monaten, und ab Jahresanfang 2005 binnen 10 Monaten (bzw. 1O,5 Monate für die TechnikerInnen im Kulturbetrieb) sein.

Anlässlich einer Versammlung der so genannten "Sozialpartner" am Hauptsitz des Arbeitgeberverbands MEDEF am Dienstag, 8. Juli segneten die Unterzeichnerorganisationen diese durch die konservative Regierung gewünschten Änderungen ab. Die Nichtuntzeichner, die real 90 Prozent des Kultursektors repräsentieren, blieben auch weiterhin bei ihrer Ablehnung.

Daraufhin erklärte Kulturminister Jean-Jacques Aillagon am Mittwoch, die Prozedur des "agrément" durch die Regierung einzuleiten. Es handelt sich um ein Verfahren, das dem der Allgemeinverbindlich-Erklärung eines Tarifvertrags (der damit auf einen gesamten Wirtschaftszweig, und nicht allein auf die Mitglieder der Unterzeichnerorganisationen, anwendbar wird) ähnelt. Im Falle des Kulturbereichs muss das entsprechende Abkommen der so genannten "Sozialpartner", um auf den gesamten Sektor Anwendung finden, vom Kultur- und vom Sozialminister gegengezeichnet werden. Aillagon leistete am Mittwoch seine Unterschrift. Dies und die, am Dienstag über Radio weiter geleiteten, ziemlich harten und arroganten Worte von MEDEF- (also Arbeitgeber-)Boss Baron de Seillière – der den Kulturschaffenden u.a. vorwarf, sie lägen den abhängig Beschäftigten in der Privatwirtschaft auf der Tasche – gossen in der Wochenmitte noch zusätzliches Öl in’s Feuer.

Bereits zu Anfang der Woche hatten eine Reihe spektakulärer Aktionen der streikenden Kulturarbeiter stattgefunden. So störten sie am Montag vorübergehend die Vorbeifahrt der Tour de France in den ostfranzösischen Ardennen – weniger die Radler als die riesige "Karawane" mit kommerzieller Werbung, die der Tour vorausfährt. Auch dies war noch nie da gewesen. In mehreren Städten fanden bedeutende Demonstrationen statt, so auch in Paris, wo am Dienstag abend circa 8.000 bis 10.000 Kulturschaffende demonstrierten, gemischt mit UnterstützerInnen und solidarischen Gruppen (der Bauerngewerkschaft Confédération paysanne, der Nationalen Koordination der Sans-papiers, nicht wenige LehrerInnen …). Einen riesigen Gong auf einem Wagen mitführend, schwarze Kreuze und rote Fahnen tragend, führten sie ihre Demonstration bis vor den Amtssitz des Premierministers im Hôtel de Matignon im vornehmen südlichen Zentrum der Hauptstadt.

In Paris sammelt darüber hinaus die "Coordination des intermittents et précaires", die sowohl diskontinuierlich arbeitende Kulturschaffende als auch prekäre Arbeiter aus anderen Wirtschaftssektoren (bis zur Fastfood-Branche) organisiert, seit einigen Tagen Gelder, um den Streikenden in Avignon zu Hilfe zu kommen. Diese müssen mit einem Totalausfall ihrer Verdienste rechnen und haben sich oftmals noch dazu vorab das Jahr über verschuldet, um nach Avignon zu fahren, da gerade die noch nicht etablierten Theatergruppen hier traditionell nach Engagements und Beschäftigungsmöglichkeiten angeln (müssen).

Mehrere prominente Cinéasten haben ihre Filme vorläufig "von der Leinwand genommen" – sie ordneten ihren Rückzug aus den Kinos an, aus Solidarität mit den streikenden Kulturarbeitern. Zu ihnen gehören Solveig Anspach, Jean-Pierre Thorn und Vincent Thorn. Die Regisseurin und Schauspielerin Agnès Jaoui ("Le goût des autres") unterbrach Dreharbeiten und erklärte sich "im Streik", ebenso das Team von Robert Guédiguéan ("Marius et Jeannette"). Weitere Prominente gaben Erklärungen ab, wonach sie solidarisch mit dem Streik seien, unter ihnen Catherine Deneuve und Fabrice Lutchini ("Rien sur Robert").

Kulturarbeiter unterbrachen in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch Dreharbeiten für einen Film mit US-Schauspieler Jack Nickolson, mit dem einige von ihnen im Anschluss noch länger diskutierten – Nickolson beendete das Gespräch mit den (französischen) Worten "La lutte continue", "Der Kampf geht weiter", ohne dass völlig klar gewesen wäre, ob es sich um eine schlichte Feststellung oder eine auffordernde Anteilnahme handelte. In Toulose behinderten Kulturleute im Streik die Dreharbeiten für "Pop stars", eine Schrottserie des Privatfernsehsenders M6 – die privaten Fernsehsender und Filmproduktionsstudios zählen übrigens just zu den größten Ausbeutern der prekären Kulturarbeiter.

Hingegen holten sich jene streikenden Kulturleute eine Abfuhr, die am Montag abend im Stade de France – dem zur Fussball-WM von 1998 errichteten Riesenstadion – versuchten, die Aufbauarbeiten für ein Konzert der "Rolling Stones" zu behindern suchten, denn die Band hatte ihr Aufbaupersonal selbst mitgebracht, und die Sicherheitsdienste waren auf der Hut. (Für etwas böses Blut sorgte, dass der Vorsitzende der CGT-Kultur – Jean Voirin – selbst nachher dem Konzert beiwohnte.)

Der letzte größere Streik der Kulturschaffenden - die damals eine Verbesserung ihres sozialrechtlichen Status durchsetzen konnten, der just jetzt demoliert werden soll – fand im Winter 1996/97 und zu Beginn des Frühjahrs 1997 statt, damals ausgehend von Toulouse. Auf seinem Höhepunkt waren das Musikmuseum und –konservatorium im Pariser Parc de la Villette 14 Tage lang besetzt worden. Viele der Wortführer des damaligen Kulturprotests, etwa der Theaterregisseur Stanislas Nordey, hatten im Februar / März 1997 zugleich eine führende Rolle in der damaligen massiven Bewegung gegen die verschärften Ausländergesetze des damaligen Innenministers – und jetzigen Parlamentspräsidenten – Jean-Louis Debré (die "Loi Debré") gespielt.

Damit zeigten sie, dass es ihnen nicht nur um die Verteidigung kategorieller Interessen geht, sondern auch um bedeutende gesamtgesellschaftliche Fragen. Denn wenn die Kultur – als lästiger Kostenfaktor – an den Rand gedrängt wird, dann kann es um die Gesamtverfassung der Gesellschaft nicht gut bestellt sein.

Bernhard Schmid, Paris

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