letzte Änderung am 19. März 2004

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Forscher, Intellektuelle und Kulturmilieu verbreitern den Protest gegen die Raffarin-Regierung

Ich habe nichts gegen Intellektuelle. Einige meiner besten Freunde sind Intellektuelle... Ungefähr so versuchte Frankreichs Premierminister Jean-Pierre Raffarin sich am Dienstag voriger Woche gegen den Vorwurf zu erwehren, eine tiefe Intellektuellenfeindlichkeit zu kultivieren.

Und so wies er darauf hin, er habe "auch intellektuelle Freunde", nämlich jene "freien Leute, die nicht unbedingt dafür oder dagegen sind", und vor allem nicht gegen seine Politik. Als Beispiele zitierte er den ehemals linken Soziologen Edgar Morin, den "antitotalitären" ­ vor allem antikommunistischen ­ Philosophen Alain Finkielkraut und einen gewissen Luc Ferry. Letzterer, der sich selbst für einen Philosophen hält, ist seit zwei Jahren Bildungsminister in Raffarins eigenem Kabinett.

Den Eindruck konnte er nicht wegwischen, die Regierung habe es sich, nach den Arbeitslosen und Krankenschwestern und Eisenbahnern, jetzt auch noch mit den Intellektuellen verdorben. Nicht nur mit den "üblichen Verdächtigen", also links stehenden gesellschaftswissenschaftlichen Denkern, sondern auch mit Naturwissenschaftlern und renommierten Forschern. Ein Teil der regierenden Konservativen konnte dabei mehrere Wochen lang nicht mit ihrem Antiintellektualismus hinter dem Berg halten und erging sich in Wortspielen und hämischen Bemerkungen über "ach, diese Intelligenten". Der konservative Minister für Kommunalangelegenheiten, Patrick Devedjian, seinerseits höhnte Ende Februar: "In den USA ernten die Intellektuellen Nobelpreise, und hierzulande ernten sie nur Unterschriften unter Petitionen". Pech nur, dass sich auch Nobelpreisträger unter den aktuell Protestierenden befinden...


Forschungsdirektoren legten ihre Ämter nieder

Über 2.000 Direktoren wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen, von denen es landesweit knapp 3.500 gibt, haben vorige Woche ihren Rücktritt von allen Leitungsämtern und administrativen Funktionen angekündigt. Damit würde in über zwei Dritteln der Forschungsinstitutionen der Verwaltungsbetrieb ruhen, es würden keine Unterschriften für Aufträge oder dringende Anschaffungen geleistet, keine Auswertungsbögen unterzeichnet und kein Personal neu eingestellt.

Koordiniert wird der Protest durch ein Kollektiv "Retten wir die Forschung", das von dem Biologen Alain Trautmann ­ ein 55jähriger, der den Mai 1968 mitgemacht hat und später ein paar Jahre lang (bis 1977, dem Jahr des Bruchs der "Linksunion") als parteiinterner Kritiker in der Kommunistischen Partei war ­ initiiert wurde. Der zu Anfang des Jahres veröffentlichte, gleichnamige Appel trägt inzwischen schon 65.000 Unterschriften. Das Kollektiv sammelt die Fotokopien der Rücktrittsschreiben ein.

Anlass für den spektakulären Schritt ist, wie bei Protesten in anderen Bereichen, die öffentliche Sparpolitik. Die neokonservative Raffarin-Regierung macht kein Geheimnis daraus, dass sie die öffentlichen Forschungsausgaben reduzieren und dabei gleichzeitig die anwendungsorientierte wissenschaftlich-technische Forschung bei privaten Unternehmen und Konzernen fördern möchte. Zu letzterem Zweck wurden im Haushaltsgesetz für das laufende Jahr 2004 Kredite an Privatunternehmen bereit gestellt. (Aber die wirklich an der Wissenschaft "an sich" Interessierten, die gern Grundlagenforschung betreiben würden, bleben dabei auf der Strecke, da sie nur im öffentlichen Sektor unterkommen können.) Gleichzeitig will die Regierung im öffentlichen Bereich unbefristete in befristete Arbeitsverträge umwandeln und damit die Prekarität der Beschäftigten erhöhen.

So wurden in den letzten Monaten 550 dauerhafte Forschungsstellen abgebaut und in Zeitverträge umgewandelt. Man kann sich ausmalen, welche Auswirkungen das auf die Betreffenden hat, wenn sie ­ nach einem 8 oder 10 Jahre langen Studium mit Promotion, unter den damit verbundenen materiellen Verzichtsanforderungen ­ nur noch auf Jahres- oder Dreijahresverträge hoffen können. Einen Kredit für die Lebensplanung können sie damit ebenso abschreiben wie die Hoffnung auf längerfristige materielle Sicherheit. Deswegen ist auch die Mobilisierung unter den derzeitigen jungen Doktoranden, die in den naturwissenschaftlichen Labors arbeiten ­ für Stipendien von 1.000 Euro im Monat ­ besonders stark. Sie gingen etwa am Freitag voriger Woche in Paris in größerer Zahl zusammen mit demonstrierenden Lehrern auf die Straße, anlässlich eines Warnstreiks der Schulen gegen den Abbau von Lehrerstellen. Denn im kommenden Herbst sollen weniger als zwei Drittel der 18.000 pensionsbedingten Abgänge von Lehrern durch Neueinstellungen kompensiert werden.

Breite Unterstützung und soziale Mischung der Protestmilieus

Stattliche 82 Prozent der befragten Franzosen und Französinnen erklärten ihre Sympathie für die protestierenden Forscher. In deren Reihen kommen unterdessen auch unterschiedliche Positionen und Interessen zum Ausdruck. So sind nicht alle der fest etablierten Forscher gleichzeitig auch bereit, den Platz der Forschung in der Gesellschaft und die Funktionsweise ihrer Institutionen in Frage zu stellen. Einer der Köpfe des Protests, der Genforscher Axel Kahn ­ auch er war einmal in der KP, bis 1977, wovon er aber nur noch ein vages soziales Gerechtigkeitsideal behalten hat -, ist etwa dafür bekannt, dass er die Schwäche Europas auf zivilem wie militärischem Gebiet gegenüber den USA beklagt. Wenn er ein besseres Funktionieren der Forschung einfordert, dann vor allem auch, um den Abstand zwischen beiden Großmächten aufzuholen.

Dagegen sind an der Basis, unter den zahlreichen weniger prominenten Forschern und ­ vor allem ­ unter den Studierenden und jungen Doktoranden, auch viel gesellschaftskritischere Töne zu hören. Dabei mischt sich der Protest auch immer stärker mit dem anderer sozialer Gruppen.

Beispielsweise veröffentlichte die linksalternative Kulturzeitschrift Les Inrockuptibles Mitte Februar dieses Jahres einen "Aufruf wider den Krieg gegen die Intelligenz", der noch vor seiner Publikation 8.000 Unterschriften erhalten hatte. Der Titel mag elitär und arrogant klingen. Doch der Aufruftext selbst geht nicht in diese Richtung, sondern er versucht, unterschiedliche soziale Protestpotenziale zusammenzuführen, über das akademische Proletariat hinaus: "Nichts steht einer Universität ohne Finanzierung näher als ein Labor, das nicht funktionieren kann, nichts steht einem intermittent du spectacle (prekären Kulturschaffenden) näher als ein prekärer Doktorand, (...) nichts steht einem Arbeitslosen, dem die Bezugsansprüche gestrichen werden, näher als ein Künstler, der von Sozialhilfe leben muss..."  

Zu den wichtigsten Unterstützergruppen der Petition gehören eben jene intermittents du spectacle, deren Mobilisierung in den letzten Wochen wieder verstärkt in Schwung kam. Das liegt einerseits daran, dass die prekären Kulturschaffenden vor wenigen Wochen einen Alternativvorschlag zur Gegenfinanzierung ihrer spezifischen Sozialversicherung vorlegten, um deren Finanzierungskrise nicht auf dem Rücken der prekär Beschäftigten zu lösen. Der Vorschlag wurde durch Regierung und "Sozialpartner" abgeschmettert, erlaubte aber eine erneute Mobilisierung der betroffenen Kulturschaffenden. Hinzu kommt andererseits, dass auch die Erwerbslosen, die ebenfalls von der Krise der Sozialkassen betroffen sind, verstärkt protestieren ­ 265.000 von ihnen verloren zu Jahresanfang, durch eine Neuberechnung der Ansprüche, ihre Unterstützung von einem Tag zum anderen.

Auch auf der Straße mischen sich die unterschiedlichen Protestpotenziale. Eine erfolgreiche Initiative stammt etwa von der alternativen Rockgruppe Les têtes raides (Die Steifköpfe): Diese lancierte die Idee für ein stark verbilligtes Konzert mit mehreren Bands, bei dem die unterschiedlichen Protestgruppen mit Einlagen und Redebeiträgen zu Wort kommen sollen. Jedem solchen Konzert soll eine Demo vorausgehen. Unter dem Titel Avis de K.O. social ­ also "Warnung vor dem sozialen K.O.", vom Klang her aber auch "soziale Chaoswarnung" ­ konnte die Initiative einen der größten Pariser Konzertsäale, "Le Zénith" mit 6.000 Sitzplätzen, am 1. März mühelos füllen. Tausende mussten das restlos ausverkaufte Konzert im Freien auf Leinwänden verfolgen. Die voran gehende Demo war allerdings wesentlich kleiner ausgefalle, wohl auch deswegen, weil sie an einem Wochentag (der 1. März war ein Montag) bereits um 17 Uhr stattfand. Aber auch, weil sich beim Konzertpublikum Polit- und soziale Bewegungs-AktiistInnen sicherlich mit Leuten mischen, die vor allem wegen der Musik kommen, was allerdings kein Grund zur Kritik ist, denn zu solchen Mischungen sollte es ja verstärkt kommen.

An dem "Avis de K.O. social"-Spektrum nehmen Rechtshilfegruppen für Immigranten, intermittents du spectacle, einige Forscher und andere Protestler teil. Eine Schlüsselrolle spielt u.a. der GISTI (Groupe d'information et de soutien aux immigrés/ Gruppe für Information und Unterstützung für Immigranten), eine Rechtsberatungsgruppe für Einwanderer, die nach 1968 von linken JuristInnen gegründet wurde und als "die" kompente Vereinigung im Ausländerrecht und der Kritik an ihm gilt.

Jetzt wird die "soziale Chaoswarnung" auf eine Konzerttournee durch ganz Frankreich gehen, bevor im September 2004 ein erneutes, noch größeres Konzert in Paris stattfinden soll.

Weitere soziale Gruppen treten derzeit in den Protest ein, beispielsweise die Sozialarbeiter, die am Mittwoch dieser Woche frankreichweit demonstrieren werden. Sie wenden sich gegen eine neuen Bestimmung des geplanten Gesetzes "zur Prävention von Straftaten" - bereits das vierte größere Gesetzeswerk zur so genannten Inneren Sicherheit seit Antritt der neuen Rechtsregierung im Mai 2002 -, das die Sozialarbeiter verpflichten will, bei staatlichen Behörden (Präfekturen) systematisch über ihre Zielgruppen Auskunft zu geben. Bisher wurde in diesem Bereich das Anonymitätsprinzip allgemein akzeptiert, da man die Betreffenden als Hilfsbedürftige und nicht in erster Linie als Gefährdungspotenzial betrachtete; diese Optik hat sich mit der neuen Regierung gründlich geändert.

Im Block des DAL (Wohnungslosen-Organisation), 13. März

Im Block der Arbeitslosen-Organisationen

 

Am vergangenen Samstag (13. März) mischte sich ebenfalls der Protest auf den Straßen. Anlässlich der jährlich am 15. März stattfindenden Aufhebung des so genannten "Winterfriedens", der in den Wintermonaten die polizeiliche Räumung von MieterInnen (die aus Geldschwierigkeiten oder ähnliche Gründe ihre Mietsumme nicht bezahlt haben) und ihr Auf-di!e-Straße-Setzen verbietet, mobilisierte die Wohnungslosen-Selbstorganisation DAL (Droit au logement, Recht auf Wohnraum). In ihrem Umfeld finden sich vor allem zahlreiche Immigrantenfamilien, die auf dem so genannten "freien Wohnungsmarkt" sowohl aus finanziellen Gründen als auch aufgrund der vielfältigen Diskriminierungen oftmals keine Chance haben; der DAL besetzt mit solchen afrikanischen und maghrebinischen Familien zusammen frei stehenden Wohnraum und erteilt ihnen rechtlichen und politischen Schutz. Der Demo-Initiative des DAL hatte sich das Kollektiv protestierender SozialarbeiterInnen angeschlossen, neben mehreren Vereinigungen von Sans papiers sowie jungen GegnerInnen der Werbeindustrie. Von letzteren stehen seit Mittwoch voriger Woche 62 vor dem Pariser Strafgericht, weil ein Zusammenschluss von Werbe-KritikerInnen seit einigen Monaten an regelmäßigen Aktionstagen wiederholt Werbeplakate übermalt oder abgerissen hat. Die Pariser Metro-Betreibergesellschaft RATP hat deswegen die Staatsgewalt zur Hilfe gerufen, die eine größere Zahl von Festnahmen vorgenommen hat; die RATP klagt jetzt auf Schadensersatz.  

Demo vom 13. März: Wohnungslosen-BLock (DAL, Droit au logement)

Die linke Theaterkompagnie "Jolie Môme" (Süßes Kind) setzt sich an die Spitze der Demo (13. März), vor dem Louvre

Protest gegen autoritäre "Innere Sicherheits"politik (auch 13. März)

 

Aber auch viele "intermittents de spectacle", angeführt von (der im Kulturprotest eine wichtige Motorrolle einnehmenden) linksradikalen Theaterkompagnie "Jolie Môme" (Süßes Kind) mit ihren stattlichen roten Fahnen, auf die Masken- und Mimen-Symbole aufgenäht sind, gingen am gleichen Samstag mittag auf die Straße. Zunächst hatte die Polizeipräfektur den beiden Gruppen verboten, zusammen zu demonstrieren, und getrennte Marschrouten vorgeschrieben. Aber dann vereinigten sich die beiden Demozüge doch noch an der Place du Châtelet, wo eigentlich die Auflösung der beiden Demos vorgeschrieben worden war, und demonstrierten einfach zusammen unangemeldet weiter bis zum Amtssitz des Premierministers (dem Hôtel Matignon) auf der anderen Seine-Seite. Angeführt von "Jolie Môme" mit ihren stattlichen Fahnen, führt so ein flotter Demozug von 4.000 Leuten mitten durch den Innenhof des Louvre, und im Anschluss durch einen Teil der "besseren Viertel". Ein Hauch von Aufruhr wehte durch die Stadt...  

Bernhard Schmid (Paris)

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