letzte Änderung am 10. Sept. 2003

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Frankreich im wirtschaftspolitischen Konflikt mit der EU: "Steuersenkung statt Stabilitätspakt" ?

Und auf einmal ging es doch ! Seit den frühen Neunziger Jahren war regelmäßige der "äußere Zwang" - in Gestalt der "europäischen Verpflichtungen" Frankreichs - angeführt worden, ging es darum, Einschnitte in Sozialhaushalten und eine rigide Sparpolitik der öffentlichen Hand zu rechtfertigen. Und jetzt sind diese "Pflichten" in den Augen der französischen Konservativen plötzlich nicht mehr viel wert, wo es darum geht, Steuergeschenke für die Bezieher hoher und mittlerer Einkommen sowie höhere Ausgaben für Militär, Polizei und Justiz notfalls mit der Brechstange durchzusetzen.

Die "Pflichten von Maastricht" - Kurzer Rückblick

Das Vertragswerk von Maastricht hatte 1991/92 denjenigen Ländern Bedingungen gestellt, die Teil der Währungsunion werden und den Euro übernehmen wollten: Das Defizit im Staatshaushalt etwa sollte höchstens drei Prozent betragen, die öffentliche Verschuldung ­ jene von Staat, Kommunen und gesetzlichen Sozialversicherungen ­ sollte insgsamt nicht 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts überschreiten. 1997 schrieb die EU, anlâsslich des Gipfels von Amsterdam, diese Ausgangskriterien in die Zukunft hinein fort: Der so genannte "Stabilitätspakt"  sollte auch nach Einführung des Euro dafür sorgen, dass die neue Einheitswährung eine internationale anerkannte "harte" Währung bleiben solle, indem man die Eurozone für Kapitalanleger attraktiv halte. Auf dem EU-Gipfel in Barcelon 2002 war sogar die Rede davon, bis spätestens zur Mitte des Jahrzehnts die öffentlichen Defizite auf Null zurückzuführen.

Die Mittel dafür waren und sind bekannt: Reduzierung von Sozialausgaben, Druck auf Erwerbslose ­ die möglichst jede angebotene Arbeit annehmen und dadurch weniger kosten sollen -, Absenkung der Leistungen gesetzlicher Kranken-, Renten- und anderer Versicherungen.

Chirac : Karriere eines Demagogen

Auf dem Umweg über "Europa" und einen scheinbar objektiven, nicht durch die nationale Politik beeinflussbaren Zwang strebten bislang die jeweiligen dominierenden Gesellschaftsklassen und ihre politischen Helfershelfer danach, das Ziel einer Umverteilung von unten nach oben in beschleunigter Form durchzusetzen. Dabei war "Brüssel" immer für eine Ausrede gut, um den innenpolitischen Druck von den jeweils Regierenden wegzunehmen und alle Verantwortung anderswo abzuladen. Beispielsweise im Falle Jacques Chiracs: Im Mai 1995 wurde der konservative Populist erstmals zum Staatspräsidenten gewählt, nach einem außerordentlich sozialdemagogischen Wahlkampf. Klar war, dass weder noch seine konservative Kernklientel gewillt waren, auch nur einen Teil der damaligen Versprechungen zu halten. Also hielt er, am 26. September 1995, eine Fernsehrede und redete sich darauf hinaus, er könne nun mal leider nicht anders, als seine Versprechen fallen zu lassen ­ er habe den Druck der europäischen Anforderungen eben "unterschätzt". Damit handelte er sich allerdings in jenem Herbs anderthalb Monate Streik der öffentlichen Dienste ein.   

Vergessen scheinen die Sprüche von einst. "Paris fordert Brüssel heraus ­ Europa: Die Krise" titelt die französische Boulevardzeitung "Le Parisien" am Samstag (6. September). Am voraus gegangenen Donnerstag hatte Chiracs Premierminister, Jean-Pierre Raffarin, in einer Fernsehrede auf TF 1 angekündigt, auch in diesem Jahr die Einkommenssteuer um 3 Prozent zu senken. Bereits im Vorjahr war sie, kurz nach dem Amtsantritt der konservativen Regierung im Mai/ Juni 2002, um 5 Prozent reduziert worden. Allem Anschein nach geht diese Entscheidung des Premiers auf direkte Weisung seines Chefs, Jacques Chirac, zurück ­ denn Raffarin hatte noch Anfang August, im Interview mit einer Lokalzeitung in Nizza, eine Steuersenkung "um ein Prozent, vielleicht ein bisschen mehr"  angekündigt.

Selbst führende Politiker im bürgerlich-konservativen Lager, wie der Vorsitzende des parlamentarischen Haushaltsausschusses Pierre Méhaignerie, halten es angesichts der finanziellen Situation des Staates für keine glückliche Entscheidung, die Steuern für die Wohlhabenden weiter abzusenken.

Das Gesamtpaket der Steuerreduktionen wird in diesem Jahr voraussichtlich 3,9 Milliarden Euro kosten ; jenes des Vorjahres 2002 hatte damals seinerseits bereits 3,8 Milliarden gekostet. " Kosten " in dem Sinne, dass sie Wenigereinnahmen für die öffentliche Hand, um damit für die Finanzierung öffentlicher Dienste und Sozialsysteme, bringen. Der staatliche Repressionssektor ist von Sparmaßnahmen ja nicht betroffen. Denn die Rechtsregierung beschloss 2002, in den kommenden 5 Jahren etwa 11.000 zusätzliche Haftplätze zu bauen, 13.500 zusätzliche Polizisten und Gendarmen und über 10.000 Justizbedienstete einzustellen. Dieses Programm des Ausbaus staatlicher Repressionsfunktionen wird derzeit nicht in Frage gestellt. Neoliberale Politik bedeutet eben beileibe nicht automatisch " weniger Staat ", aber ein anderes Gesicht des Staates.

Eine Steuerpolitik für die Besserverdienenden und Wohlhabenden (unter der "Linken" und der Rechten)

Die neue Fiskalpolitik kommt so gut wie ausschließlich jenen zugute, die bereits viel Geld haben: Die obersten 10 Prozent der Einkommen konzentrieren 70 Prozent der Steuernachlässe auf sich (nach Angaben des sozialliberalen Ex-Wirtschaftsministers der Jahre 1997 bis 2000, Dominique Strauss-Kahn, der aus der Opposition heraus Kritik übte). Die obersten 6 Prozent erhalten allein die Hälfte, also 50 Prozent der durch die Reduzierung der Einkommenssteuer gewissermaßen ausgeschütteten 1,6 Milliarden Euro (laut " Libération " vom 5. September).

Im Vorjahr 2002 wurde errechnet, dass ein Mitglied der oberen Steuerklasse durch die seinerzeitige Steuersenkung durchschnittlich 2.240 Euro an Einkommenssteuer spare,  der Bezieher eines (statistisch gesehen) mittleren Einkommens  dagegen nur 50 Euro ­ ein Taschengeld. Die Empfänger niederiger Einkommen erhielten ohnehin nichts, denn die Einkommenssteuer wird in Frankreich von nur 50 Prozent der Steuerhaushalte bezahlt ­ den einkommensstärkeren Schichten eben.

Bereits die Sozialisten hatten in ihrer Amtszeit, und vor allem während der Zeit des sozialliberalen möglichen Präsidentschaftskandidaten des PS für 2007, Laurent Fabius, im Wirtschaftsministerium (März 2000 bis Mai 2002), Steuersenkungen eingeleitet. Sie hatten aber wenigstens noch ein bisschen darauf geachtet, allzu offenkundige soziale Ungerechtigkeiten dabei zu korrigieren. Die damaligen Änderungen der Fiskalpolitik sollten ­ so jedenfalls das proklamierte Ziel ­ vor allem den unteren und mittleren Einkommen zu gute kommen ; real genutzt hat es in der Praxis überwiegend den Mittelschichten, denn die GeringverdienerInnen bezahlen ohnehin in der Regel keine Einkommenssteuer). Für letztere wurde der so genannte " Steuerkredit " - unter dem Namen " Beschäftigungsprämie " (prime pour lčemploi) ­ eingeführt.

Es handelt sich faktisch um eine Art Negativsteuer, die ursprünglich durch die neoliberale Chicagoer Schule der Wirtschaftswissenschaft erfunden worden ist : Ein(e) ehemaliger Arbeitsloser, der oder die eine geringfügig bezahlte Tätigkeit annimmt, bekommt dafür Geld aus dem Steuersäckel ­ das soll zweierlei Vorteile haben : (Erstens) Eine schlecht bezahlte Erwerbstätigkeit soll dadurch immer noch attraktiver als die Arbeitslosenkohle erscheinen, und (zweitens) die nunmehr gewachsene Differenz zwischen Sozialleistungen und Niedriglöhnen wird nicht vom Arbeitgeber durch Lohnerhöhung aufgefüllt, sondern aus öffentlichen Mitteln bezahlt (die daraufhin wiederum bei anderen, etwa Sozialausgaben fehlen). Denn im umgekehrten Fall hätte das auch für die regierenden französischen Sozialdemokraten viel zu sehr nach Klassenkampf gerochen , oh welch garstigč WortŠ Deswegen entschied der Sozialliberale Fabius sich, nach mittelheftigen Debatten innerhalb des Parti Socialiste (PS), sich gegen die angeblich nach " Traditionalismus " riechende Lösung einer Anhebung des gesetzlich fixierten Mindestlohns SMIC, wie manche Parteilinke angeregt hatten, und zugunsten der von Milton Friedman und seinen Anhängern ersonnenen Idee des " Steuerkredits " für Geringverdiener.

Diese " Beschäftigungsprämie ", die man gleichzeitig mit seiner Steuererhöhung beantragen kann, betrug in den Jahren 2001 und 2002 noch im Höchstsatz 2.500 Francs (375 Euro) pro Jahr. Doch die bürgerliche Regierung will das Prinzip nicht nur beibehalten, sondern will die Negativsteuer nun noch ein wenig erhöhen. Die Mittel werden, neben der Absenkung der Einkommensteuer, ebenfalls in dem insgesamt fast 4 Milliarden Euro schweren Paket der jetzt angesetzten Steuer- und Abgabensenkungen ausgewiesen. Die Sache hat (mindestens) einen fetten Haken, mal abgesehen von der prinzipiellen Fragwürdigkeit der Maßnahme selbst : Zugewiesen sind der Erhöhung der so gennanten " prime pour lčemploi " im Haushalt zwischen 400 und 500 Millionen Euro (gut ein Viertel dessen, was die Senkung der Einkommenssteuer für die Bessserverdienenden kostet). Bei insgesamt acht Millionen Empfangsberechtigten macht das, nach einer Kalkulation der Tageszeitung " Libération " (vom 05. September 03) pro Nase gerade einmal die stolze Summe von 62 Euro und 50 Cents jährlich aus. Oder im Monat 5 Euro ­ wenn das keine saftige Zuzahlung istŠ

Dagegen ist bisher seitens der regierenden Rechten keine Rede davon, die in Frankreich überdurchschnittlich hohen indirekten Steuern (die besonders sozial ungerecht sind, da sie Arme wie Reiche in gleichem Maße treffen) wie die 20,6-prozentige Mehrwertsteuer zu senken. Eine Ausnahme bildet die Mehrwertsteuer auf Restaurantrechnungen, für die bereits vor über einem Jahr angekündigt wurde, sie solle auf 5,5 Prozent abgesenkt werden ­ falls Brüssel einverstanden sei. Geschehen ist bisher nichts, für die kommenden Monate bleibt es versprochen.

Die Folgen für Staatshaushalt und "Stabilitätspakt"

Chirac droht durch diese voluntaristische Entscheidung die selbst proklamierten Ziele der 15 EU-Regierungen zu sprengen. Das Defizit im Staatshaushalt wird dieses Jahr voraussichtlich nicht nur die vereinbarte Drei-, sondern sogar die Vier-Prozent-Grenze knapp überschreiten.  Und für 2004 werden sogar 4,5 Prozent vorhergesagtŠ

Die öffentliche Verschuldung ihrerseits erreicht in diesem Jahr den Rekordwert von 950 Milliarden Euro, womit sie bei 61 Prozent und ebenfalls jenseits der in Maastricht beschlossenen 60-Prozent-Marke liegt. Für das kommende Jahr werden bereits über 1000 Milliarden Euro prognostiziert.

Am 27. August wurde Premierminister Raffarin deswegen auch schon mal vor der EU-Kommission in Brüssel vorstellig, um sich zu rechtfertigen. Das hinderte ihn nicht daran, sich eine Rüge einzuhandeln. Im Fall, dass Frankreich ­ nach 2002 und 2003 ­ noch ein drittes Mal die fixierten Kriterien nicht einhalten (und sich auch gar nicht darum bemüht zeigen) sollte, drohen Paris handfeste finanzielle Sanktionen. Die von Brüssel festzusetzende Bußzahlung kann bis zu 5 Milliarden Euro betragen.

Ein Teil des bürgerlich-konservativen Lagers, der besonders an der EU-Einbindung hängt, hat deswegen bereits kalte Füße bekommen. So hat der frühere liberal-konservative Staatspräsident Valéry Giscard dčEstaing ­ "VGE" genannt ­ anlässlich der Sommeruniversität der Regierungspartei UMP seinem Unwohlgefühl Ausdruck verliehen. Dort sagte er am vorigen Wochenende: "Ich wünsche, dass jeder sich daran erinnert, dass er nationale Verantwortlichkeiten hat, die er (aber) im europäischen Rahmen ausübt." Falls manche Länder sich nicht daran hielten, "dann sind es die Tugendhaften, die für die Sünden der anderen bezahlen". Von Journalisten ("Libération") befragt, ob er damit auf die Politik seines Parteifreunds Raffarin abziele, antwortete VGE: "Ich sehe, dass Sie richtig verstanden haben."

Derzeit wird Frankreich von keinem anderen Land offen unterstützt. Berlin hat zwar aufgrund der wirtschaftlichen Konjunkturentwicklung in Deutschland ähnliche Probleme,die Drei-Prozent-Defizitgrenze einzuhalten; dieses Jahr wird die BRD sie vermutlich mit 3,8 Prozent überschreiten. Allerdings verschließt die Berliner Regierung sich bisher dem Werben Raffarins und Chiracs um Unterstützung für ihre Position. Schröder und Eichel insistieren bisher auf ihren guten Willen zur Zusammenarbeit mit der EU-Kommission.

Welche Motiv stehen hinter dem " Konfrontationskurs " ?

Vor allem zwei Beweggründe charakterisieren das Handeln der neokonservativen Regierung in Paris.

(1) Einerseits soll durch die provozierte Ausdehnung von Staatsdefizit und ­verschuldung ein Handlungsdruck, der durch die EU-Kommision in Szene gesetzt werden wird, erzeugt werden. Damit soll die Bewegung hin zu "strukturellen Reformen", d.h. zur schnelleren Zerschlagung  bzw. Reduzierung aller Formen von Sozialisierung gesellschaftlichen Reichtums (durch Finanzierung öffentlicher Dienste oder Mechanismen sozialer Absicherung), beschleunigt werden.

Deswegen, so analysieren Beobachter, entschied das Kabinett sich nach längerer Diskussion im Wirtschafsministerium auch dafür, die magische 4 vor dem Komma bei der Staatsverschuldung zum jetzigen Zeitpunkt nach Brüssel durchzugeben ­ man hätte auch einen Wert von 3,9 Prozent nehmen können, aber damit wäre der "Reformdruck" nicht so drängend erschienen. Insofern dürfen auch die EU-Ebene sowie die auf nationalstaatlicher Ebene formulierten Varianten neoliberaler Politik nicht, undialektisch, als reine Gegensätze zueinander begriffen werden. Sie greifen vielmehr ineinander und verstärken sich so gegenseitig in ihren Wirkungen, zugunsten der herrschenden Klassen. Dazu gehört freilich auch einiger Theaterdonner! So, als Raffarin sich am Abend des 4. September im französischen Fernsehen rechtfertigte und dabei vom Leder zog: "Meine erste Aufgabe ist, für Beschäftigung zu sorgen und nicht, buchhalterische Gleichungen zu erfüllen und Rechenprobleme zu lösen, damit dieses oder jenes Büro in diesem oder jenem Land zufrieden ist." Eine offene Anspielung an die Büro-kraten in Brüssel. Der ultra-neoliberale Handelskommissar der EU, Pascal Lamy - der ein Parteibuch der französischen Sozialdemokratie hat ­ verstand dies wohl, als er Raffarin rüffelte, diese habe etwas missverstanden, wenn er die EU-Kommission als Ansammlung seelenloser Bürokraten sehe. Tusch, der Vorhang fällt, das Publikum hat sich amüsiert ­ die Umverteilungpolitik von unten nach oben geht weiter.

(2) Zum anderen geht es den Neokonservativen vor allem auch darum, sich eine soziale Basis zu schaffen. Die Regierung Chirac/Juppé war 1995 als reiner Exekutor technokratischer und EU-bedinger Sachzwänge erschienen, der kein gesellschaftliches Klasseninteresse mehr vertrete, sondern zunehmend verselbständigte "Zwänge durch Ziffern". Da die Regierung damals zugleich unter dem Druck sozialer Bewegungen (streikender Eisenbahner, protestierender Sans papiers ­ also " illegaler " Immigranten -, ausständischer KulturschaffenderŠ) stand und diesen gegenüber ein Stück nachzugeben gezwungen war, verlor sie sowohl auf der Linken als auch zu ihrer Rechten ­ wo sie nicht länger als glaubwürdig und durchsetzungsfähig galt ­ an Boden.

Jetzt aber soll zumindest in den mittleren und oberen Schichten eine eigene soziale Basis geschaffen, unterhalten und festzementiert werden: Durch soziale Polarisierung nach innen und durch Zurschaustellen von Voluntarismus nach außen. Diese soziale Basis bildet zwar gesamtgesellschaftlich eine Minderheit. Aber solange die etablierte Linke wenig Alternativen vorzuweisen hat und das linke Publikum auf (wahl-)politischer Ebene frustriert und desorientiert bleibt, kann die Rechte damit gut regieren.   

Antifiskale Demagogie fällt in Frankreich in bestimmten Teilen der Mittelschichten immer auf fruchtbaren Boden, auch wenn sie real (anders als die obersten 5 bis 10 Prozent) im Moment gar nicht zu den wirklichen Gewinnern gehören. Dazu trägt ein ungeschickter Zug des französischen Steuersystems bei: In Frankreich wird die Einkommenssteuer nicht monatlich, bei Erhalt des jeweiligen Lohns, gleich vom Verdienst abgezogen. Vielmehr kommt einmal pro Jahr, aufgrund der Angaben zum jeweiligen Vorjahresverdienst, der Zahlungsbescheid für die ganzen 12 Monate auf einmal. Die Steuerzahlungspflicht wird somit, rein psychologisch, als viel gravierender Eingriff wahrgenommen denn im Falle einer Quellenbesteuerung. Hinzu kommt, dass etwa die rechtsextreme Wählerschaft ­ jene des Front National (FN) ­ notorisch auf Anti-Steuer-Parolen eingeschworen ist. Gerade an jene Wählerschaft, die bisher Jean-Marie Le Pen hinterher läuft und welche die Konservativen gerne (zurück-)gewinnen würden, sind auch die derzeitige Steuergeschenke gerichtet.

Gewerkschaftliche Reaktionen

Unter den großen Gewerkschaftsorganisationen bemängelten die CGT und Force Ouvrière (FO) den unsozialen Charakter der so ungleich verteilten Steuergeschenke. FO-Generalsekretär Marc Blondel meinte öffentlich, man müsse sich entscheiden, "ob man durch die Steuern finanzierte öffentliche Dienste oder aber klientelistische Steuersenkungen" wolle.

Dagegen stellte die rechtssozialdemokratische CFDT einen anderen Aspekt in den Vordergrund, nämlich die in ihren Augen notwendige Verteidigung der bisherigen EU-"Stabilitätskriterien". Damit verteidigte sie im Grund einen Träger neoliberaler Politik gegen einen anderen. So meinte CFDT-Generalsekretär François Chérèque: "Hören wir auf, verächtlich auf Europa zu blicken"; und: "Wir haben gemeinsam Regeln in Europa festgelegt, wir müssen sie (jetzt) gemeinsam einhalten". So, als ob ­ gerade vom sozialen Gesichtspunkt aus ­ irgend etwas Positives am so genannten Stabilitätspakt wäreŠ

Und die Sozialisten ?

Die größte parlamentarische Oppositionspartei eiert weiterhin in dem Bemühen herum, halbwegs "glaubwürdig" ihre im herrschenden Spiel vorgesehene Rolle wahrzunehmen, das heißt zu opponieren.

Tatsächlich scheint der Parti Socialiste (PS) derzeit eingesehen haben, dass er auf dem Terrain der demagogischen (Anti-)Fiskalpolitik die bürgerliche Rechte nicht mehr wird schlagen können. Selbst während ihrer Regierungszeit 1997 / 2002 auf Steuersenkungen v.a. zugunsten der Mittelschichten fixiert, haben die Sozialdemokraten jetzt die Devise ausgegeben, man müsse "die Steuer rehabilitieren" (réhabiliter lčimpôt). Darüber schienen sich alle größeren Strömungen anlässlich der PS-Sommeruniversität, die in den letzten Augusttagen in La Rochelle stand, einig zu sein. Auch der sozialliberale Ex-Wirtschaftsminister (1997 ­ 99) Dominique Strauss-Kahn, der im Hinblick auf eine nicht unwahrscheinliche Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2007 sich derzeit eher in der Mitte der Partei zu profilieren sucht, verkündete im Gespräch mit "Le Monde" (5. September): "Diese Entscheidung (der Raffarin-Regierung) ist sozial ungerecht und wirtschaftspolitik unwirksam". Gemeint ist, dass das Steuersenkungspaket nicht die Wirkung habe, das Wachstum anzukurbeln, wie die derzeitige Regierung behauptet. Tatsächlich werden die Steuergeschenke an die obersten Einkommensklassen sich eher im Anwachsen von Sparvermögen denn in verstärktem Konsum niederschlagen.

Doch ein anderer aussichtsreicher Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur des PS im Jahr 2007, der auch ebenfalls Wirtschaftsminister (2000 / 02) gewesen war, meinte zur gleichen Zeit, der Rechten eine Steilvorlage zuspielen zu müssen. Zwar verurteilte auch Laurent Fabius ­ ein wenig leiser vielleicht ­ die derzeitigen Steuergeschenke der Raffarin-Regierung, allerdings vorwiegend wegen der damit verbundenen Erhöhung der Defizite (und weniger wegen ihres sozial ungerechten Charakters). Doch im gleichen Atemzug unterbreitete er einen atemberaubenden Vorschlag. Fabius in einem langen Interview mit "Le Monde" (28. August): "Eine Möglichkeit wäre, aus der Berechnung des Haushaltsdefizits manche Ausgaben auszuklammern, die wichtigen Investitionen in die Infrastruktur (Š) entsprechen, und auf die gleiche Weise mit den Verteidigungsausgaben zu verfahren, da wir eine europäische Verteidigung wollen."  Einen Vorstoß, die Rüstungsausgaben ­ die in Frankreich seit 2002 erheblich gestiegen sind ­ einfach aus der Berechnung des Defizits auszuklammern, da sie allzu vorrangig seien, hatte im Vorjahr 2002 bereits die rechte Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie gemacht. Doch ihr Vorschlag war damals nicht so ernst genommen worden und in der Versenkung verschwunden. Im Namen der Notwendigkeit, "angesichts des Aufstiegs Indiens und Chinas ein machtpolitisch auftretendes Europa" zu begründen (Fabius ebenda), einen führenden Sozialdemokraten dasselbe vorschlagen zu sehen ­ das haut dem Fass den Boden aus.

Bernhard Schmid (Paris)

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