letzte Änderung am 15. Nov. 2002

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Gewerkschaften und Globalisierung: Eine andere Einstellung ist möglich!

Lehren aus dem ersten Europäischen Sozialforum

Die Bedeutung des ersten Europäischen Sozialforums (ESF, November 2002 in Florenz) reicht weit über die Tagespolitik hinaus. Das Ereignis als solches stellt zwar keinen generellen Wendepunkt in den politischen Verhältnissen Italiens (oder gar Europas) dar. Immer noch befindet sich die ArbeiterInnenklasse – auch in Italien – in der Defensive. Aber wichtige Koordinaten wurden durch das ESF (sowie die Riesendemo vom 9.11.) merklich verschoben.

So erfolgreich und beeindruckend die Demonstration in Genua 2001 (zum G-8-Gipfel) war, so bot das ESF der globalisierungskritischen Bewegung und der Gewerkschaftsbewegung doch ganz andere Ebenen des Austauschs und der Weiterentwicklung inhaltlicher Positionen:

  1. Vom 6.-9. November sprachen auf insgesamt mehreren hundert Veranstaltungen Vertreter unterschiedlichster Vereinigungen und Organisationen. Die Großveranstaltungen hatten zwar weitgehend Kundgebungscharakter, aber das wurde vom Publikum sehr gerne gesehen. Hier wurden Signale gesetzt, Position bezogen und mit Sicherheit nicht wenigen TeilnehmerInnen neue Bezugspunkte und Anregungen vermittelt. Nicht zu unterschätzen ist die Botschaft, die auf diesem Weg über die in- und ausländische Presse an breitere Kreise weitergegeben wurde und wird: "Eine andere Welt (ein anderes Europa) ist möglich, und zwar nicht nur bezogen auf den Neoliberalismus." Selten zuvor liefen so viele Videokameras auf einer Veranstaltung oder einem Kongress. Es ist anzunehmen, dass quer über ganz Europa auf Hunderten von Veranstaltungen diese Botschaften (oder Kundgebungen, wenn man so will) weitergetragen werden.
  2. Aber es war mehr als nur eine Ansammlung von Kundgebungen: Auf Dutzenden von "kleineren" Veranstaltungen (mit 50 bis 500 Teilnehmern) wurden auch unterschiedliche Positionen bekannt gemacht, Argumente ausgetauscht, Diskussionen geführt, Informationen weitergegeben...
  3. Mensch scheute sich nicht, mit systembejahenden Kräften in den Dialog zu treten. So konnte eine Vertreterin der EGB-Spitze genauso sprechen wie etwa Ströbele von den Grünen, der allerdings mit seiner Kritik an Berlusconi seine Unterstützung der Schröder-Regierung nicht vertuschen konnte.
  4. Vorherrschend war jedenfalls das sehr verbreitete Gefühl (das sich noch erkennbar steigerte, je mehr Menschen im Laufe der Tage ankamen): Wir führen einen gemeinsamen Kampf und wir sind inzwischen so zahlreich, dass unser Kampf für eine andere Welt nun besser geführt werden kann. Wir können was ausrichten! Wir sind eine breite Kraft, auch und gerade, weil es keine Kluft mehr gibt zwischen "der" Antiglobalisierungsbewegung" und "den" Gewerkschaften.
  5. Deutlich überholt sind heute Vorstellungen, nach denen sich z. B. Attac auf eine "Volksbildungsinitiative" (so ihre "offizielle" Eigendefinition) beschränken kann. Die Bewegung ist in ihrer überwältigenden Mehrheit sowohl auf inhaltliche Auseinandersetzungen und Debatten wie auch auf Aktionen ausgerichtet. Diejenigen Kräfte, die nicht auf beiden Ebenen wirken, werden keine Rolle mehr spielen. So manche® musste spätestens in Florenz auch erkennen, dass sich nicht alles um Attac herum gruppiert, dass ganz andere Kräfte noch mehr auf die Beine bringen und bewirken, allen voran die linken Gewerkschaften.
  6. Die Bewegung ist v. a. deswegen nicht mehr zu trennen in "hier die Globalisierungsgegner" und "da die Gewerkschaften, die nur punktuell gemeinsame Berührungspunkte haben", weil Teile der Gewerkschaften sich deutlich bewegt haben. Dies wird nicht zuletzt durch die Kräfteverschiebungen in der britischen Gewerkschaftsbewegung deutlich. Wenn Patrick Sikorski – stellvertretender Vorsitzender der RMT – in Florenz auf einer der großen Veranstaltungen gesprochen hat, dann war dies in gewisser Weise stellvertretend für insgesamt 16 Gewerkschaften in Großbritannien (ca. 1/3 des gesamten TUC), bei denen in letzter Zeit – oft gegen den erbitterten Widerstand rechter Bürokraten – linke Führungen gewählt wurden.
  7. Die Beispiele Italien (Cobas, CGIL), Frankreich (SUD) und Spanien (bestimmte Bewegungen an der Basis der CCOO) zeigen, dass die Gewerkschaften – im Gegensatz zur Sozialdemokratie, die seit vielen Jahrzehnten nicht mehr in organischer Weise von der ArbeiterInnenklasse abhängig ist – sehr wohl durch Druck von unten auch wieder nach links veränderbar sind. Sie können wieder zu kämpferischen Organisationen gemacht werden. Aufgabe der Gewerkschaftslinken muss es jetzt sein, die in Florenz zu Tage getretene Chance einer politischen Belebung der kapitalismuskritischen Kräfte im allgemeinen und derjenigen in der Gewerkschaftsbewegung im besonderen zu ergreifen. Wir haben hier in Deutschland sicherlich noch sehr viel zu leisten, was die Hinterfragung neobliberaler Denkmuster angeht (z. B. dass Wettbewerb was Gutes sei und deswegen möglichst viel zu privatisieren sei), aber wir dürfen nicht in statischen Kategorien denken. Gerade jetzt, wo bestimmte Widersprüche offener aufbrechen und der Widerstand eine gewisse Schwelle überschritten hat, können Bewusstseinsentwicklungen sehr wohl in Schüben stattfinden.
  8. Die Bewegung ist nicht nur breiter geworden, sie ist auch inhaltlich deutlich mehr geworden als eine Antiglobalisierungsbewegung. Dafür ist in der Medienöffentlichkeit noch kein Begriff geschaffen oder als Etikett aufgeklebt worden, aber wir sollten uns über die politischen Folgen für diese (nennen wir es mal Oppositionsbewegung) im klaren sein. Was in Genua zum ersten Mal erkennbar wurde, und sich in Barcelona, Sevilla und anderen Städten fortsetzte, ist in Florenz überdeutlich geworden: Je nach Gelegenheit und Größe der Veranstaltung (z. B. einer Demonstration) kommen heute wieder Kräfte von sehr unterschiedlichen Ausgangspunkten zusammen.
  9. Dies soll nicht heißen, dass alle Positionen gleich gut oder in Einklang zu bringen sind. Aber für die TeilnehmerInnen in Florenz waren und sind ganz offensichtlich die Gemeinsamkeiten das Wichtigere gewesen. Die optimistische Stimmung, die Begeisterung war allgegenwärtig, und zwar wegen der TeilnehmerInnenzahl, aber auch wegen der im Vordergrund stehenden gemeinsamen Positionen, die deutlich über eine "Globalisierungskritik" hinausgehen.
  10. Speziell auf den Großveranstaltungen in Florenz wurde sichtbar, dass kapitalismuskritische Positionen auf einer organisationsübergreifenden, breiteren Ebene artikuliert werden. Gerade diese Ausführungen erhielten oft tosenden Beifall. Längst hat die Bewegung die Kritik nur am Neoliberalismus hinter sich gelassen.
  11. Es muss aber auch festgehalten werden: In Florenz wurde zwar wiederholt, ja häufig, auf die Systemfrage verwiesen: Es gehe nicht nur darum den Neoliberalismus oder gar nur seine extremsten Auswirkungen zu bekämpfen, sondern darum, das System Kapitalismus insgesamt in Frage zu stellen, weil es in seiner Natur liegt, dass ständig Raubbau an Mensch und Natur betrieben wird. Am deutlichsten wurde dies immer wieder an der Kriegsfrage entwickelt, auch bei Veranstaltungen, die zu anderen Themen oder sehr eingegrenzten Fragestellungen abliefen.
  12. Was aber noch nicht geleistet wurde, ist die Erläuterung dessen, was mensch sich denn als Alternative vorstellt, wie diese andere Welt aussehen wird usw. Nur zu sagen – wie so manche RednerInnen – es braucht eine Revolution, wird in den kommenden Monaten und Jahren nicht reichen. Es muss erläutert werden, was die Grundzüge einer anderen Gesellschaft sind, wie wir dorthin kommen können, wo heute schon Merkmale definiert bzw. wie in den Kämpfen ein anderes Zusammenleben sichtbar gemacht werden kann. V. a. auf der Ebene der Forderungen, die die politische und die Gewerkschaftsbewegung entwickeln, muss diese Brücke erkennbar werden. Je zusammenhängender ein solches Programm nennenswerten Teilen der Bevölkerung vermittelt werden kann, um so größer das politische Gewicht, das in zukünftigen Kämpfen entwickelt werden kann. Auch hier hat die Gewerkschaftslinke eine gewisse Verantwortung.
  13. Ein Instrument zur Verbreitung und inhaltlichen Weiterentwicklung der Bewegung könnte die Bildung eines Sozialforums Deutschland sein, und zwar als ein breites Bündnis, das die Vernetzung und die Diskussionen fördert, was aber vor allem gemeinsame, wirkungsvolle Aktionen anstößt und koordiniert. Die Existenz des italienischen Sozialforums z. B. war einer der Faktoren, die zum gewaltigen Erfolg des ESF beigetragen haben. Das Bündnis "Stop the War" in Großbritannien war Voraussetzung für die erfolgreiche Mobilisierung zur Antikriegsdemo vom 28. September, zu der 400 000 DemonstrantInnen in London zusammenkamen. Die Nichtexistenz einer vergleichbar breiten Struktur in Deutschland ist das Gegenbeispiel, das (neben anderen Faktoren) erklärt, warum bei uns z. B. die Antikriegsdemonstrationen noch nicht sehr beeindruckend waren.

Jakob Schäfer
Forum Gewerkschaftliche Gegenmacht (Wiesbaden)

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