letzte Änderung am 21. Januar 2004

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Bericht vom Weltsozialforum in Mumbai, Indien

Von Wolfgang Schaumberg

Du glaubst, dir platzt die Birne. Wie sollst du so eine Flut von Eindruecken, Bildern, Ideen in ordnende Gedanken kanalisiert kriegen?

Gleich muss ich wieder rein in die Hitze, ins hupende, dabei unglaublich aggressionsarme Verkehrschaos, muss mich wieder hinter den Fahrer von einer der unzaehligen, durcheinander flitzenden Auto-Rikschas klemmen, um zur 1.00 Uhr-Veranstaltung ins Mumbai-Messegelaende zu kommen, staubfressend, ueberwaeltigt vom Gewuehl im ueber 14 Millionen Einwohner-Moloch Mumbai.

Und dann die bettelnden oder zum Betteln geschickten Kinder, Frauen mit Babys, schwerstbehinderten Menschen, die dir an jeder Kreuzung, an allen Strassenecken die Hand entgegenstrecken. “Eine andere Welt ist moeglich”? Regelmaessig was zu essen, statt der tausenden von Slum-Buden, an denen man fassungslos den Kopfschuettelnd vorbeifaehrt, menschenwuerdige Wohnungen, mit fliessendem Wasser, das ist es, was hier 400 Millionen unter der Armutsgrenze lebende Menschen benoetigen, von den rund 1 Milliarde in Indien insgesamt.

Weil solch eine Not unnoetig ist, nicht naturbedingt, sondern von uns -wenn auch in langer Geschichte- gemacht und von uns auch abschaffbar ist, sind wir mit ueber 100.000 auf dem WSF versammelt.

Ein ganz anderes Bild als im Vorjahr im brasilianischen Porto Alegre. Das Bild ist hier gepraegt durch arme Leute aus der Landbevoelkerung, wohl die Haelfte Frauen, rund 80.000 aus Indien, der Rest meist aus asiatischen Laendern. Massen von Menschen draengeln sich unablaessig auf den breiten, staubigen Fahrstrassen zwischen den alten Messehallen, vorbei an Hunderten von Info- und Kunsthandwerks- oder Essensstaenden. Die einen sind auf dem Weg zu ihrer naechsten Diskussionsveranstaltung an einem der ueber 150 Versammlungsorte, die fuer Zigtausende von Teilnehmern in Riesenhallen und in unterschiedlich grossen Zelten bis fuer 50 Leute vorbereitet worden sind. Die andern, und ich glaube die Mehrheit, bleiben fast den ganzen Tag auf den Fahrwegen und Plaetzen, demonstrieren lautstark in Gruppen von 50 bis zu Bloecken von ueber 1000 durchs messegelaende, darunter gegen ihre Ausgrenzung kaempfende Dalits (aus der untersten Kaste), oder fuer den Erhalt ihres Landes, ihrer Waelder kaempfende Adivasis (der idigenen Volksgruppen), oder Gruppen von weit angereisten Bauern, oder indische, koreanische, japanische Gewerkschaftsverbaende, oder NGO-Gruppen gegen Missbrauch von Kindern , alle mit droehnendem Rhythmus-Getrommel , lauten Parolen , Transparenten, Fahnen und Flugblaettern ohne Ende. Da umringen einige Hundert eine fuer unseren Blick exotisch verkleidete Tanzgruppe, einige Meter weiter wird ein Theaterstueck bestaunt, oder ein Redner ist von “seinen” Leuten und Zuschauern umringt. Eine heisse Szene den ganzen Tag ueber, staubig, farbenpraechtig und –aergerlich unverstaendlich.

Ich habe es naemlich nur selten geschafft, eine genauere Erklaerung zu bekommen, was diese so verschiedenartige Gruppen bedeuten, denken und wollen. Freundlich wird meinem muehsamen Englisch zugehoert und dann meistens unverstaendlich oder nur mit einem Laecheln geantwortet…

Allerdings scheint ein kaum messbarer Erfolg dieses WSF aber gerade damit erreicht worden zu sein, dass sich die unterschiedlichsten Gruppen und Bewegungen Indiens wie des gesamten asiatischen Raums hier ein riesiges Stueck naehergekommen sind, und die Vielfalt der Forderungen und Zukunftsvorstellungen als Ausdruck globaler Entwicklungen von nun an intensiver mitreflektieren werden, natuerlich auch durch die Beteiligung von allen anderen Kontinenten. “Aber man zappt sich hier so durch, von einem Event auf der Strasse und in den Versammlungen zum naechsten!” meint mein deutscher Freund, der aus Hongkong im Auftrag einer NGO angereist ist. Meine Dortmunder Verdi-Kollegin Anne und ich, -nach der Reiseplanung im Rahmen des Labournet mit Finanzierung durch die Stiftung “Menschenwuerde und Arbeitswelt” als Teil der attac-Gruppe hierher gelangt-, koennen Peters Unbehagen gut nachvollziehen.

Ueber 100 Veranstaltungen werden zeitlich parallel hier angeboten! Das Programmheft ist zwar uebersichtlich, was einen jeweils erwartet aber kaum einzuschaetzen. So landen wir in einer der grossen Hallen bei einem spannenden, an die Selbstverwaltung in Porto Alegre erinnernden Referat ueber basisdemokratische Erfahrungen im indischen Kerala. Der Co-Referent aus Mexiko beklagt dann, dass “Geld die Welt regiert” und schlaegt vor, wir sollten uns weltweit eigenes Geld organisieren. Von einer Chinesin wird anschliessend sorgfaeltig die Krise der Landbevoelkerung Chinas anlysiert und das Beispiel eines Ortes mit 3000 Leuten beschrieben, die ihr Zusammenleben sehr egalitaer geregelt haben. Allerdings, den ideologischen Rahmen gibt eine religioese Kulturpraegung aus vorrevolutionaerer Zeit, der sich die Leute gemeinsam zu- und unterordnen. Also sollte man “Demokratie” nicht einfach als Frage von “Dezentralisierung” oder “Lokalisierung” behandeln, sondern die kulturelle Vorpraegung mit in den Blick nehmen, so das Fazit der Referentin.

Zuletzt spricht einer der wenigen WSF-Teilnehmer aus den USA: “Demokratie ist nicht die Wahl zwischen Cola und Pepsi, auch nicht die Wahl, ob ich zur Toilette gehen darf oder nicht, was ja nicht zugelassen ist in vielen multinationalen Unternehmen. Auch nicht die freie Wahl des Praesidenten, wo in den USA ueber 50 Prozent sowieso waehlen, gar nicht zur Wahl hinzugehen… Die US=Bevoelkerung hat weltweit den besten Zugang zu Informationen, ist aber am ignorantesten. So hat Demokratie zunaechst mit Self-Management zu tun, der Notwendigkeit, Wissen und Faehigkeiten entwickeln zu koennen…” Schade dann, dass in der Massenversammlung wieder kein Redner auf den andern einging, kaum Zeit fuer Nachfragen und Debatten blieb. Das klappt nur in den kleinen, von vielleicht nur 100 Leuten besuchten Workshops. Es scheint mir allerdings am schwierigsten in den gewerkschaftlichen Veranstaltungen, die wir bisher mitgekriegt haben, wo - etwas grob zusammengefasst (ich muss jetzt endlich los zum Messegelaende!)- allgemein der Blick verengt bleibt auf den Erhalt und die Verbesserung der Moeglichkeit seine Arbeitskraft zu verkaufen, was gluecklicherweise vielen hier als Zukunftswunsch nicht reicht und auch gar nicht als machbar erscheint, wenn man eine “andere Welt” will.

Wir werden zuhause viel zu berichten haben und viel mehr zu diskutieren!

w.schaumberg@cityweb.de

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