letzte Änderung am 19. Dezember 2003

LabourNet Germany ARCHIV! Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Home -> Diskussion -> Wipo -> Globalisierung -> huhnke2 Suchen

Patriarchale Globalisierungsmythen - patriarchale Gespensterjagden

Von Brigitta Huhnke

1. Globalisierungsmythen: patriarchale Gespensterjagden

Der Lärm tobt, hektisch, wie die immer gleichen Technoschläge in Bars der Rotlichtbezirke, auf Bali, in Bangkok, Hamburg, Moskau oder Gelsenkirchen. Auf die Erregung für das Verachtete folgt schnelle Erledigung.

Fortwährende Gier treibt die stupid white men auch in anderen Bereichen in kollektive Manie. Seit 1989 zieht das Tempo merklich an, getrieben vom Mantra kommender Erlösung durch das Heil der Finanzmärkte. Der Kommunismus ist mausetot, der freie Markt einfach wunderbar. Immer und immer wieder beschwören Demagogen aus Politik und Wirtschaft - ihre Hilfstruppen in Feuilletons und Universitäten im Gefolge - den Gemeinschaftsgeist des vermeintlich für alle machbaren Gewinn- und Wachstumsstrebens im Reich der "Globalisierung".

Es könnte alles so schön sein - in dieser Endzeit nach der Post-Geschichte, im Jahr 2003. Wäre da nicht das "Böse". Das hat zwar nun kein "Reich" mehr, breitet sich dafür aber überall aus. Auf der beweglichen "Achse des Bösen" drängeln sich mittlerweile etwa fünf Dutzend "Schurkenstaaten" ­ gestern Afghanistan - heute Irak und morgen vielleicht der Iran oder Syrien? Nicht zu vergessen die vielen fünften Kolonnen: darunter prominent der Islamismus, gegen den überall der "Kampf der Kulturen" geführt werden muß, angeblich auch, um die Frauen zu befreien. Im inneren unseres Landes lähmen "Denkverbote" der "Tabuwächter" den Aufschwung. Sie sind die Verursacher des "Reformstaus". Zu ihnen gehören die Gewerkschaften, diese "Plage unseres Landes" die "zerschlagen" (Westerwelle) werden müssen. Nicht nur stramme Rechte wollen den gewerkschaftlichen "Sumpf ausrotten" (Merz). Der Kanzler und sein Kabinett blasen im Jahr 2003 zur Jagd auf "Traditionalisten" und "Fundamentalisten". Und Gerhard Schröder verkündet allen Ernstes, die "Höhe der Lohnnebenkosten" ­ für die Unternehmen versteht sich - sei das dringendste politische Problem unserer Gesellschaft. "Verantwortungs-Imperialismus" des Staates nehme dem Individuum die "Selbstverantwortung". Mit nie gekannter Emsigkeit wird auf das Konzept "Sozialstaat" eingedroschen. In aller Öffentlichkeit demontieren neoliberale Barrikadenstürmer dieses historisch vorgängige Glücksversprechen gegen den Sozialismus, dem besonders Frauen zumindest eine bescheidene Unabhängigkeit verdankten. Der Sieg über das "Reich des Bösen" reichte nicht, nun behindern "die sozialen Sicherungssysteme", wie es im Jargon heißt, den angeblich notwendigen "Systemwechsel". Traut sich eine gar zu fragen, "warum" dieser sein muß und "wohin" er gehen solle, dann fängt sie sich schnell den Vorwurf ein, ein "Gutmensch" oder "Politisch Korrekt" zu sein. Der Markt, diese scheue und leicht zu verärgernde Elfe, darf nicht gestört, also reguliert sondern nur noch vergöttert werden. Dem mythischen Wesen, bar jeder Sozialität oder gar Geschichtlichkeit, steht als Störfaktor nur noch das "Humankapital" gegenüber. Diese potentielle Bedrohung müssen die "Modernisierer" nun nicht nur disziplinieren und züchtigen, sondern im Diskurs auch die Bereitschaft zur permanenten eigenen Zurichtung und Entwertung fördern.

Die fortwährende Geschwätzigkeit über "Globalisierung", für Stuart Hall die aggressivste Variante des "Diskurs des Westens" (1994), kann nicht über die neue Stufe der Gewalt in dieser Phase des entfesselten Kapitalismus hinwegtäuschen. Jacques Derrida sieht keine neue Weltordnung sondern eher "eine neue Form des Krieges" (Jacques Derrida 1995) am Werk, die Subcomandante Marcos den Vierten Weltkrieg nennt. Und dieser Krieg ist in erster Linie ein Krieg gegen Frauen. Dies zeigen nicht nur die Massenvergewaltigungen in diesen "heißen" Kriegen, sondern auch die explodierende Zunahme des globalen Menschenhandels mit Frauen zum Zwecke sexueller Gewalt oder zunehmender Ausbeutung ihrer Arbeitskraft in sklavenähnlichen Verhältnissen (z.B. in den Freihandelszonen) und als billige Haushalthilfen. Der "Globalisierung"- Diskurs hat weltweit nicht nur alle offiziellen Reden über Egalität, Geschlechtergerechtigkeit, und Arbeit für Alle, sondern auch das Konzept des Fürsorgestaates erledigt. Auch in den reichen Ländern sind Frauen am massivsten von der Zerschlagung der jeweiligen Sozialstaaten betroffen.

Geradezu beängstigend gestaltet sich der Umgang mit Wissen, den Appadurai als wachsendes Mißverhältnis zwischen der "Globalisierung von Wissen und dem Wissen über Globalisierung" (Arjun Appadurai 2001) beschreibt. Der dramatische Bildungsverfall, nicht nur in Deutschland, sondern in besonders krasser Weise auch in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, zeigt allein für das immer noch privilegierte Europa, wie sehr die Chance, überhaupt an Bildung und Wissen zu gelangen, wieder zur sozialen Frage bzw. zur Klassenfrage und zur Frage des Geschlechts geworden ist. Ganz zu schweigen von der katastrophalen Situation in anderen Teilen der Welt. In grenzenloser Einfalt übergehen insbesondere mediale Promotoren der "Wissensgesellschaft", wie sehr alles Sprechen und Schreiben in der Tradition westlicher Wissensproduktion steht, rassistisch und ganz besonders patriarchal kontaminiert ist. Dennoch scheint es so, als hätten wir es hier mit einem gender ­ neutralen Diskurs zu tun, wie Saskia Sassen kritisch bemerkt, die unter anderem die Ströme des internationalen Frauenhandels (2002) untersucht. Naomi Klein plädiert dafür, den Begriff "Globalisierung" auch nicht mehr in kritischer Absicht, also etwa "Anti-Globalisierung", zu verwenden, da er lediglich Bestandteil der Ideologie des Neoliberalismus (vgl. Klein 2002, 46) sei, der in seinen zerstörerischen Dimensionen untersucht werden sollte, auch in den Auswirkungen auf nicht-weiße Frauen.

Allein visuell ist uns allen sicher nicht verborgen geblieben, wie sich auch in der Bundesrepublik überwiegend Männer vor den Mikrophonen im öffentlichen Raum drängeln, um ihre Heilsbotschaften über "Reformen" im Dienste der "Globalisierung" in den Diskurs zu einzuspeisen. Unermüdlich erzählen sie uns von "Paketen", die sie "schnüren" und "wieder aufmachen" oder auch "nicht aufmachen dürfen", sie aber nur als "Ganzes auf den Weg bringen" können. Manchmal "packen" sie das, was sie dort unermüdlich ein- und auswickeln und mit immer neuen Bezeichnungen versehen, auch "in trockene Tücher". Sie warnen vor "Verschiebebahnhöfen", auf dem "Mißbrauch" stattfinden könnte. Nicht nur abgegriffene Metaphern und Katachresen überwuchern den Diskurs. Er kollabiert auch an seinen Superlativen und grotesken Übertreibungen. So werden Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition aus Mangel an politischer und ethischer Überzeugungskraft großmäulig im Duktus internationaler Diplomatie zum "Reformgipfel", "Rentengipfel oder "Steuergipfel" hochgeschrieen.

Derrida beunruhigte bereits Anfang der neunziger Jahre die Geschwindigkeit, mit der sich Qualitätsverlust und Bedrohung der Demokratie sowie des öffentlichen Raumes vollziehen. Es entwachse daraus eine "mediale Ökonomie und Macht in ihrer irreduzibel gespenstischen Dimension". Obwohl das, was gemeinhin als "Globalisierung" beschrieben wird, bereits Anfang der siebziger Jahre einsetzte, findet doch seit den achtziger Jahren eine qualitativ neue Konzentration in Teilen des Kapitals statt, nämlich die globale Expansion der Medienindustrie, die wie Derrida es beschreibt, "selektive und hierarchisierte Produktion von Ìnformation` über Kanäle, deren Macht sich auf absolut beispiellose Weise vergrößert hat." (Derrida 1995, 90). Ohne die Gier der Medienindustrie wäre es nie zu dem Ausmaß der Hegemonisierung und Homogenisierung von Wissen bzw. von Standards dafür, was als "Wissen" gelten darf, gekommen (vgl. Huhnke 2003).

Folgen wir Derrida, dann sehen wir eine gigantische Gespensterjagd am Werk. Es sind "Marx´s Gespenster": die Ideen des Kommunismus und der sozialen Gleichheit, die tief im historischen Wissen eingelassen sind und keine Ruhe geben, obwohl ­ oder gerade weil - der realsozialistische Machtblock zerstört ist. Wir wollen im Folgenden unseren Schwerpunkt auf solche westlichen Jagdgemeinschaften legen, die sich gegen eine besondere Gespensterbrigade richten - gegen die geschichtsmächtigste und größte, die weltweit einzig friedliche, die erste globale Freiheitsbewegung überhaupt: gegen die Gespenster der Frauenbewegung und des Feminismus bzw. die Utopie globaler Geschlechterdemokratien.

Die taz frohlockte bereits im Januar 1990: "DDR- Opposition: Null Bock auf Emanzen"(taz 17.1.90). Gemeinsamer Frauenhaß war in der Tat wichtiger Kitt zwischen Ost- und Westmännern und "Lächerlichmachen des Feminismus" (Theweleit 1995) galt in den neunziger Jahren als schick. Zudem haben sich viele Frauen in dieser neuen Phase "hegemonialer Männlichkeit" (Connell 1995), die nach dem bereits wirksamen Backlash der achtziger Jahre massiv einsetzte, damit arrangiert, in Beruf, Öffentlichkeit und Partnerschaft wieder einen Schritt hinter ihm ­ Mit-dem-Täter - zu gehen.

Aber, so ließe sich feststellen, in den Mythen über Globalisierung tauchen Frauen doch kaum noch auf? Die über Machtausübung der politischen und ökonomischen Eliten gesteuerte erneute Annihilierung von Frauen aus dem politischen Diskurs (Huhnke 1996) scheint gelungen, nicht zuletzt wegen nachlassender Gegenwehr von Frauen. Andererseits wollen wir im Folgenden zeigen, wie genau diese Ausgrenzung aber auch darauf hinweist, wie sehr Männlichkeit, die Homi Bhabha per se als "prothetische Realität" (1995) definiert, womit Männer grundsätzlich "einen Mangel im ‚Sein‘ ausschließen"(Bhabha 1995, 57), bereits unter akuter Selbstauslöschung steht. Trotz ­ oder wegen der weltweiten gewalttätigen Re- Patriarchaliserung, die seit 1989 in ein neues gewalttätiges Stadium, geraten ist, haftet der "prothetischen Realität" kaum noch Souveränität an. Patriarchale Identität hat sich im wesentlichen immer auf zwei Krücken gestützt: den emotional-sexuellen Komplex hierarchischer Heterosexualität und auf das Phantasma der "selbstbewußten Nation", mit ausgeklügelten Günstlingssystemen sowie geregelten inneren und äußeren Feindschaftsbeziehungen.

Richard Goldstein, Chefredakteur der Village Voice und Bürgerrechtler, meint, alle Männer müßten sich in der Gegenwart mit den Komplikationen des Feminismus rumschlagen. Seines Erachtens haben Männer auf die Forderung nach sexueller Gleichheit global mit anwachsendem Fundamentalismus reagiert (Goldstein 2003 a), nicht nur im sogenannten "Privaten" sondern auch im Politischen, dem Bereich also, der bis dahin als natürlich- (weiß-) männliche Domäne definiert war.

In extremster Weise verkörpert international gegenwärtig das Bush II ­ Regime die patriarchale Dreieinigkeit von Militarismus, gewalttätigem Maskulinismus und evangelikalem Fundamentalismus. Zunehmend patriarchale und damit wenigstens strukturell gewalttätige Züge trägt jedoch auch das Handeln politischer Klassen in anderen neoliberal regierten sogenannten westlichen Demokratien. Konzepte einer Aushandlungsdemokratie weichen immer stärker autoritären Politikvorstellungen, bis hin zu expliziten Forderungen nach Gefolgschaft und Unterwerfung. So verspricht Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2003 heilsgeschichtliche Zustände (- wenn die Agenda 2010 durchkommt, wird alles gut -). Seine politischen Forderungen setzt er in der Koalition gern mit Erpressungen durch und er hat die Kultur parteiinterner Züchtigungsrituale weit entwickelt. Analogien im Diskurs zum heilsgeschichtlichen Endzeitkampf der Evangelikalen im "Krieg gegen den Terror" sind nicht zufällig. Giorgio Agamben stellt fest: "Auch die herrschenden Klassen in Europa scheinen keine anderen politischen Paradigmen im Kopf zu haben als Notstand und Sicherheit" (Agamben 2003). Sie appellieren an Ängste vor inneren und äußeren Feinden, bringen die Subjekte in permanente Konkurrenz zueinander, halten sie in Atem, forcieren Unterwerfungslust. So kommt es gegenwärtig zur Erosion aller sozialen, ethischen und moralischen Verbindlichkeiten, die sich in den einzelnen (westlichen) Ländern im Kontext von Geschichte, Kultur und Rechtssystemen ausgebildet haben. Die Subjekte können immer weniger Gruppenzugehörigkeiten ausbilden. Allein vor sich und dem Markt, treiben sie in Zustände, die mehr und mehr an die "wahnhafte Umbildung der Wirklichkeit" erinnern, von der Freud spricht, um sich so "Glücksversicherung und Leidensschutz" zu verschaffen. Der Diskurs ist hermetisch: "Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt." (Freud 1930/1929, 213)

Bleiben wir noch eine Weile bei der psychoanalytischen Dimension, vertiefen wir sie anhand der Kategorie des sozialen Geschlechts/ des Gender. Für Judith Butler verkörpert der (heterosexuelle) Mann das vorrangig "melancholische Geschlecht". Sigmund Freud trifft folgende grundsätzliche Unterscheidung: "Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst." (Freud 1917[1915], 200). Die Leere des Ichs liegt beim Mann in der Logik "Mann" zu werden begründet, die davon bestimmt sei, sich zwanghaft in einer Heterosexualität des Begehrens auszudrücken, stellt Butler fest. Und diese Heterosexualität werde bereits beim kleinen Jungen durch "Verbote herangezüchtet". Dazu gehöre auch die "Abweisung der Weiblichkeit". Die Frau werde so "seine verworfene Identifizierung" und er müsse Zeit seines Lebens stets "ängstlich" darauf bedacht sein, den "Unterschied zwischen sich und ihr herauszustellen" (Butler 2001, 129). Nun beschreibt Judith Butler die Melancholie allerdings auch als gesellschaftlichen Normalzustand: "der Staat kultiviert die Melancholie unter seinen Bürgern eben als Weg zur Verschleierung und Verschiebung seiner eigenen idealen Autorität"(177). Somit sind auch Frauen keinesfalls frei von diesen Zuständen innerer Leere. Sie organisieren ihre eigene Unterwerfung jedoch anders, in eher masochistischem Begehren. Infolge ihrer sozialen historischen Rolle als Hauptverantwortliche für Kinder und alte Menschen sind sie zudem sehr viel stärker gefordert, Schutz für anderes Leben zu gewährleisten. Und Frauen scheinen infolge ihrer historischen Stellung auch zugänglicher dafür zu sein, ihre eigene Unterdrückung zumindest zeitweise in Formen der Trauer wahrnehmen zu wollen. Außerdem zeigen Frauen, wie es ihnen im Lauf der Geschichte auch immer wieder kollektiv möglich wird, Erkenntnis in politisches und soziales Handeln münden zu lassen. Dies dokumentieren nicht zuletzt die Aktivitäten der globalen Frauenbewegung im 20. Jahrhundert.

In der extremen Form der Melancholie, dieser "niedergeworfenen Rebellion" (Butler), die zugleich auch permanente "Selbstherabsetzung" (Freud) begünstigt, kann das Subjekt das Andere nicht mehr integrieren. Das Subjekt bleibt ohne die Fähigkeit der Empathie, für sich selbst und das Fremde. Es reagiert mit Abwehr und Haß nach außen und letztlich mit Selbstzerstörung. Was Freud am Stadium der Melancholie generell beunruhigt, ist der Zustand, den das Über-Ichs, also das Gewissens annehmen kann: Es kann "zu einer Art Sammelstätte der Todestriebe" (Freud 1923, 320) werden. Im Diskurs der "Globalisierung" und in seinen patriarchalen Begleiterzählungen finden wir gegenwärtig genau diese massive Destruktion vor. Um die Abgründe der Leere nicht wahrnehmen zu müssen, wird viel Energie auf aggressive Inszenierungen der Abwehr verwandt, persönlich und kollektiv.

2. Ochsengebrüll: Die Gespenster weiblicher Lust

Kein geringerer als Theodor W. Adorno vermutet über den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und weiblicher (Hetero-) Sexualität Folgendes: Die "Sexualität der Frau (sei) selbst weithin desexualisiert; als sei sie sich selbst so zum Fetisch geworden, dass sich ihr eigener Warencharakter zwischen die Frauen und ihre eigene sexuelle Betätigung schiebt, und zwar auch bei voller Promiskuität." Adorno wird dabei sehr konkret die angebliche sexuelle Befreiung im Auge gehabt haben, mit denen Männer der Achtundsechziger ­ Bewegung ihr neo-patriarchales Verhalten damals gegenüber Frauen rechtfertigten, vielleicht auch den Libidokiller "Pille". Über weibliche Unlust von Frauen vermutete Adorno: "Es wäre hier eine gesellschaftliche Theorie der weiblichen Frigidität zu geben, die meines Erachtens nicht etwa wesentlich daher rührt, dass die Frauen unter zu vielen Sexualverboten stehen oder nicht den richtigen Partner gefunden haben, sondern davon, dass sie noch im Koitus sich selbst Tauschobjekte zu einem natürlich nicht existierenden Zweck sind und dass sie wegen dieser Verschiebung zur Lust überhaupt nicht kommen … Ja, ich gehe so weit und möchte blindlings behaupten, dass gerade die Züge, in denen die Frau ihre ‚Unmittelbarkeit’ zu behaupten scheint, in Wahrheit die Schandmale sind, welche die bürgerliche Gesellschaft an ihr hinterlassen hat: Züge, die in einem wahren Verblendungszusammenhang das verdecken, was an eigentlicher Natur einmal möglich sein wird." (Adorno, zit. nach DLF vom 9.9.03) Das war eine bereits sehr kluge Philippika gegen die Reduktion weiblicher Sexualität auf den Coitus simplex. Die französische Psychoanalytikern Luce Irigaray geht in der Beschreibung, dessen, was "im Koitus sich selbst Tauschobjekte" zu sein, für Frauen bedeutet, noch um einiges weiter: "Die Frau ist innerhalb dieses sexuellen Imaginären nichts als eine mehr oder weniger gefällige Stütze für die Inszenierung der männlichen Phantasien. Daß sie dabei Lust empfindet, sofern sie dazu ermächtigt wird, ist möglich und sogar gewiß. Aber diese Lust ist vor allem masochistische Prostitution ihres Körpers für einen Wunsch, der nicht der ihre ist; das belässt sie in diesem Zustand der Abhängigkeit vom Mann, den man ihr zuweist. Nicht wissend, was sie will, ist sie zu allem bereit, bettelt sogar immer wieder darum, er möge sie doch als ‚Objekt’ zur Ausübung seiner eigenen Lust ‚nehmen’. Sie wird also nicht sagen, was sie begehrt. Sie weiß es außerdem nicht, oder nicht mehr." (Irigaray 1979, 30) Die Frau verwendet also viel Lebensenergie darauf, sich fortwährend als seine "verworfene Identifizierung" für ihn begehrlich zu machen und befriedigt und unterstützt damit das zwanghafte Bedürfnis des normalen Mannes nach Abgrenzung gegenüber der und dem Anderen. Doch in der jüngeren Geschichte westlicher Industrieländern gab es durchaus kollektive Versuche, aus diesem weiblichen Verhängnis im Privaten wie im Politischen auszubrechen, sogar in der Bundesrepublik. Erinnern wir uns dafür einen Moment lang an die fernen siebziger Jahre, an die heranwachsende Post-Achtundsechziger Generation, besonders an die Bildungslust von Mädchen und jungen Frauen. Der immense politische Aufbruch von Frauen mündete immerhin 1975 mit dem UN "Jahr der Frau" in einem ersten Höhepunkt, dem die "Dekade der Frau" folgte sowie insgesamt vier Weltfrauenkonferenzen, jeweils begleitet von NRO-Konferenzen, an denen Zehntausende von Frauen aus aller Welt teilnahmen. Im Superlativ internationaler Politik ausgedrückt waren dies die bisher größten Menschenrechtskonferenzen, die den weltweit tiefgreifendsten asymmetrischen Machtkonflikt bezeugt haben.

Politischer Aufbruch fördert immer auch weibliche Lüste und bringt patriarchale Geschlechterordnung im sogenannten Privaten ebenfalls kräftig ins Wanken. In den USA setzte die kurze Phase sexueller Aufklärung Ende der sechziger Jahre im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung ein und erreichte in den frühen siebziger Jahren auch die Bundesrepublik. Junge Frauen entdeckten die historische Leistung von Frauen, faßten Mut, nicht nur ihre politischen Visionen sondern auch ihre Lust auszuleben. Sehr unterschiedliche, auch bisexuelle und gleichgeschlechtliche Sexualitäten schienen plötzlich möglich. Sogar in der Bundesrepublik wollten viele junge Männer in den siebziger Jahren nicht nur das Politische sondern auch das Private verändern. Wie viele junge Frauen hatten sie ebenso unter den gewalttätigen noch von Nationalsozialismus und Vernichtungskrieg geprägten Körperpanzern der Väter und der emotionalen Kälte in den Eltern- Beziehungen gelitten. In den neuen koedukativen Gymnasien lernten Jungen, Mädchen bereits im Schulunterricht als gleichwertig zu akzeptieren. Mit langen Haaren, offenen Hemden in bunten Farben, engen Jeans und Stiefeletten unterstrichen auch junge Männer die Körperlichkeit ihres sinnlichen Aufbruchs, ihre Begehrlichkeit, aber auch ihre Lust begehrt zu werden. Sie tanzten versunken zur damals noch rebellischen globalen Popmusik. Der Fluß der Musik fügte sich in lustvolle Körperfluten. Verpönt waren Bärte und andere patriarchale Insignien und Rituale. "Sexfront" von Günter Amendt gehörte zur Pflichtlektüre. Viele junge Frauen konnten mit solchen jungen Männern durchaus gemeinsam ihre Lust entdecken, im Ansatz vielleicht sogar das, "was an eigentlicher Natur einmal möglich sein wird" (Adorno) ausleben. Doch waren auch das Geifern der Spießbürger allgegenwärtig sowie der Argwohn der vorgängigen achtundsechziger Männergeneration, die sich eher in der miefigen Welt der "Nackedeis" von Twen, Playboy, konkret oder St. Pauli Nachrichten wiederfand. Diese Phase androgyner Anarchie währte schließlich nur kurz, kürzer in der Bundesrepublik als beispielsweise innerhalb (weißer) Bildungsschichten in Metropolen wie New York City oder San Francisco, wo auch die Frauenbewegung in der Folge ganz anderen Einfluß auf Kultur und die Bildungsinstitutionen nehmen konnte. Aber ganz offensichtlich hat diese kurze Zeit bis heute sehr nachhaltig das patriarchale Unbewußte verstört. Das Patriarchat schlug hysterisch zurück. In der Bundesrepublik erfand es die Hertzjagd gegen die lustbetonten Männer mit dem Medienhype "Softie", der nun angeblich kein richtiger Mann war. Der Spiegel betete 1975 in "Frau 75. Zurück zur Weiblichkeit" (Der Spiegel 30.06.75) das Ende der Frauenbewegung herbei und beschuldigte sexuell selbstbewußte Frauen hysterisch, an "Impotenz", Homosexualität" und "Lesbianismus" schuld zu sein. Über Feministinnen wußten Spiegel-Männer: "Sie sind so unfähig geworden, sich einem Mann zu öffnen, wie ein "normaler" Mann unfähig ist, sich einem anderen Mann zum Analverkehr hinzugeben" (Der Spiegel Nr.27 1975). So offen gaben Spießer damals Einblicke in ihre sexuellen Abgründe. Bereits Ende der siebziger Jahre gerieten jedoch auch die Haare der jüngeren Männer wieder kürzer, Lustkiller wie Schnauz- oder Vollbärte sprießten erneut. Spätestens nach dem Studium lernten auch diese Männer mehrheitlich die Vorzüge der Männerbünde in der Berufswelt schätzen und übten die Rituale ein. Der Habitus geriet wieder voll straight, androgyne Popidole und lustvolle Inszenierungen waren weitgehend passé. Tanzschulen und Standardtänze mit ihren spießigen Geschlechtervorstellungen waren plötzlich wieder "in". Die Kleidung wurde langweiliger, Schlips und Anzug oder Beutelhosen und Birkenstock kamen zu neuen Ehren. Verklemmte Punker, die tumbe "Neue deutsche Welle" und martialische Glatzen der rechten Szene dominierten nun zunehmend die Ästhetik weißer Popkultur. Ängste vor und Aggressionen gegen Frauen lebten sich wieder ungebremster aus. Frauen arbeiteten sich erneut defensiv an Männern ab, "die sich nicht einlassen" wollten. In Massen stürmten Männer in Sportstudios, um in monotonen Bewegungen arbeitsam ihre Körper gegen den Fluß möglicher Lüste hermetisch abzuriegeln. Mit kraftlosen Muskelpaketen oder auch auseinandergehen Körpern bauten sie sich nun wieder vermehrt im autoritären und abgrenzenden Gestus vor ihrer "verworfenen Identifizierung" auf. Jan van Ackeren hat in seinem Film "Deutschland Privat" bereits 1980 diese aufgepumpten Körpern ironisch gewürdigt. Pornographie und Prostitution, euphemisiert als "ältestes Gewerbe der Welt", begannen zu boomen und sich zu globalisieren. Allein in der Bundesrepublik gewinnen täglich mindestens 1,5 Millionen Männer als Freier in der Bundesrepublik ihre "Erketionsfähigkeit" durch die Erniedrigung weiblicher Körper. Vielen deutschen Männern reicht das jedoch noch immer nicht. In sexistischen Raubzügen fallen sie zu Hundertausenden jährlich mit "Bumbsbombern" in arme Länder Asiens und Lateinamerikas ein oder nutzen das eigene Auto, um in ganzen Karawanen in den Grenzgebiete zu Osteuropa als Herrenmenschen sexuelle Gewalt aller Art an Frauen und Kindern auszuagieren. In den USA führte der Backlash (Faludi 1993) ebenfalls zu umfassendem Frauenhaß. Organisierter christlicher Fundamentalismus begünstigte die Demontage demokratischer Rechte und trieb Millionen Frauen in die soziale Armut der "working poor". Unzählige Pamphlete und Erzählungen straften nun ganz besonders die sexuell bewußte Frau ab. Filme wie "Fatal Attraction" oder "Basic Instinct", brandmarken unabhängige Frauen als neue Hexen, als vagina dentatis, während sie der treuen und sexuell genügsamen Ehefrau und Mutter ein Denkmal für weibliche Gefügigkeit setzen. Die schwarze Frau wurde als "welfare Queen" vorgeführt und als Prostituierte imaginiert. Susan Faludi warnt jedoch davor, im Backlash allein eine organisierte Bewegung am Werk zu sehen: "Größtenteils funktioniert der Gegenschlag verschlüsselt und verinnerlicht, diffus und chamäleonhaft." (Faludi 1993, 25) Das (weiße) patriarchale Unbewußte, nur eine zeitlang notdürftig zivilisiert, bricht sich neue Bahn im Diskurs, klammert und formt ihn, wirkt destruktiv auf politisches, soziales und emotionales Handeln ein. Einer, der in Deutschland früh und mit viel Beifall ebenfalls gegen diese bedrohlichen Frauen anging, ist Botho Strauß, bis heute erfolgreichster lebender deutscher Theaterstückeschreiber. Bereits 1981, in seinem Erzählband Paare, Passanten, streift der Strauß‘sche Erzähler vom Podest des vereinzelten ‚Genies‘ die Frauen mit besonderer Verachtung. Er entwirft so etwas wie ein Gesamtkonzept patriarchaler Sexualität. In dieser Ansammlung von Alltagsbeobachtungen empört sich das alter ego des Autors gleich am Anfang über eine (namenlose) Frau, die von "Zeit zu Zeit, wenn ihr eben danach ist", einen "gut gekleideten, kräftigen Burschen" aufsucht, mit dem sie sich offensichtlich sexuell vergnügt. Doch das geht der lebensüberdrüssigen Grundhaltung total gegen den Strich, und latente Aggression schleicht sich ein: "Vor dem Haus streichelt sie dem Mann in seinen weißen Hosen zum Abschied über die Wange. Weich und dankbar sieht es aus, lebensklug und nicht frivol. Eine umfassende Gebärde gleichwohl für die lasche Güte und die Auswegsfülle, in der mittlerweile das Lieben abseits der Liebe verläuft. Wir haben es hier eher zu tun mit einer liberal-demokratischen Einrichtung, chaoslos und angstfrei, die Liebe dem Guten untergeordnet, domestiziert und der Freiheit gewidmet. Die Angst gehört den Atomkraftwerken. Keiner ist mehr gezwungen, sie an seiner geschlechtlichen Quelle selbst zu ertragen." (Paare, Passanten 1981, 16). Diese zeitgemäße Abwandlung der roten Hure ist also Demokratin, demonstriert vor dem Atomkraftwerk und verschafft sich sexuellen Genuß ohne Schmerz und Versagung. Unerhört! Aber genau das gefährdet in der Tat bis heute die sexuelle Identität vieler Männer. Und auch das ‚Gute‘, das sich die Liebe unterordnet (!) wird hier bereits zehn Jahre, bevor der "Gutmensch" als Schimpfwort in den öffentlichen Diskurs fließt, negativ konnotiert.

Verachtung, nichts als Verachtung färben die sexuellen Schilderungen von Strauß. Weibliche Wesen, die dafür in Frage kommen, sind immer "Beute" und immer sehr jung. So berichtet der Erzähler, wie eines Tages eine junge Frau, die er nur "Mädchen" nennt, obwohl sie zwanzig Jahre alt ist, in seinem "Bücherstall" erscheint: "Die Beute, die sich von selbst einstellt, überrascht den untätigen Jäger, verhöhnt ihn im Grunde sogar. Man speichelt einen solchen Fang, einen solchen Fremdkörper zuerst mit sehr viel Rede ein. Der Mund geht über, wo die Augen noch nicht recht trauen wollen. Aber auch das schöne Mädchen setzt sich nicht künstlich ins Geheimnis, sie erleichtert sich vielmehr um eine Menge von freimütigem Geschwätz zu Kunst und Zeitgeschehen." (Paare, Passanten, 27) Und weil den Erzähler offensichtlich der Zustand verkümmerter Geilheit erreicht, in den sich bereits Selbsthaß mischt, geht es weiter in hämischem Ton: "Denn jetzt werden ihre Sprüche auf einmal fest und forsch, ihre Hände zieren sich nicht mehr, sie wischen vom Tisch, sie fuchteln wie die einer im Treppenhaus zeternden Frau. Ihre ganze Deckung, ihre Psycho-Rüstung, zeigt sich jetzt, ist ihre Mutter, und wenn man das Visier hochklappt, findet man unten, in Nabelhöhe, die Kleine aufschaun mit verstörtem Blick. So sind wohl viele schwach, die frei einherkommen, gezwungenermaßen frei, möchte man sagen, denn der äußeren Freiheit der Lebensformen entkommt ja niemand heute." (Paare, 93)

Der Erzähler besucht auch einen Drogenprozeß. Die Angeklagte, die ausnahmsweise sogar einen Namen hat, beschreibt er folgendermaßen: "Ilona ist klein, hat rötlich gefärbtes Haar, ein flaches, sehr bleiches Gesicht, Busen und Hintern sind angedickt, der Oberkörper sehr schmal und die vollen, schweren Busentropfen scheinen nicht zu diesem von Heroin ausgezehrten Körper zu passen, ein so mütterliches Appeal an diesem verlorenen Kind." (Paare, 143) Hier spricht der Freier vom Drogenstrich, der zudem pseudophilosophisch belehrt und die soziale Frage bereits 1981 zugunsten des mystischen "Bösen" nivelliert: "Wenn man furchtbare Aussichtslosigkeit und Todesbedrohung, die den Suchtkranken umgeben, zu spüren bekommt, kann man sich schwer nur in die Fragen nach den gesellschaftlichen Ursachen flüchten; man starrt fremd das nackte, souveräne Übel an, die real existierende Teufelsherrschaft." (Paare, 147)

Die (weiße) Hure, die ihn nicht bedroht, findet der Erzähler nur im Kind weiblichen Geschlechts. Die Leserin registriert zunächst staunend, daß ihm auch die Kinder immer als "Beute" zugeführt werden: "Es ist der Lamien-Schock, den ich jedesmal erleide, wenn man mir die Beute vertrauensvoll in die Arme legt." (Paare, 135) Vielleicht, um eventuell aufmerksamen Feuilletonisten zuvorzukommen, hat Strauß seine pädophilen Gewaltvorstellungen vorsorglich mit "Dämmern" überschrieben. Doch nicht einmal notdürftig bleibt der Schein des Somnabulen gewahrt. Das erste Kind erwartet ihn vor seinem Auto, die Szene ganz offensichtlich dem Tatort "Kinderstrich" nachempfunden: "wir sprachen nicht. Verschlossen sah sie zur Seite, legte das Kinn auf ihr Knie. Die Schweißperlen des einsamsten Sich-überlassen-Seins. Dann begnügte sie sich damit, mein Geschlecht in den Mund zu nehmen. Ich begriff, daß wir einer Welt der vollkommenen sexuellen Gleichgültigkeit entgegenschwebten." In den Zustand nahender Ejakulation mischt sich dann allerdings wieder nichts als Verachtung: "Das nackte Huhn! Ich drückte ihren brustlosen Oberkörper zwischen meine Beine, preßte beide Hände flach in ihre kleinen Achselkuhlen und starrte auf ihren schmalen, wundgescheuerten Babypopo." (Paare, 127) Und gleich im Anschluß tritt er die Flucht in den Mythos an: "Die menschliche Sexualität und ihre Kultur waren das Mythenreservoir - die stumme Götterwelt dieser untergetauchten, geheimnisvollen Wesen. Ein müdes Bedürfnis zu lieben und dabei müde zu bleiben, hob sie dann und wann zu uns empor." (Paare, 128)

Bleibt da noch die Heilige als Gegenmodell zum sexuellen Gebrauchsgegenstand. Ihr begegnet der Erzähler auf dem Marktplatz in Venedig, in Gestalt eines Mädchens, das russische Lieder singt: "... aus einem kindlichen Munde steigen unter Atemdampf diese reinen Töne, die sie selbst über alles liebt, die ihr Mund formt und liebkost. Sie empfängt von allen Zuhörern ein Gefühl von zufriedenem Glück; stellvertretend für jeden von uns hat sie sich jenen Schwingungen des Orts und der Stunde überlassen, die das Gehen wohl beirren mögen, den Gesang aber hervorlocken." (Paare, 203) Das Kitschig-Süße scheint dem Lebensekel wenigstens für eine Weile Einhalt zu gebieten.

Schauen wir nun ins Intelligenzblatt der Deutschen, in Die Zeit. Patriarchale Bedrängnis auch hier: Wir haben bereits das Jahr 1990. Günter Franzen, ein leidgeplagtes Opfer, macht sich im Trendyjargon Luft: "Wenn Frauen zuviel schreiben."(Die Zeit 16.11.1990). Dann breitet er auf fast zwei Seiten seine Befindlichkeiten aus. Schon die Unterüberschrift: "Der Mann im Zeitalter seiner feministischen Reduzierbarkeit: Ketzerische Anmerkungen über neuere Romane von Julie Burchill und Fay Weldon, Benoíte Groult und Erica Jong", kaschiert kaum, daß der Mann von Literaturkritik keine Ahnung hat und noch weniger von dem, was er für weibliches Schreiben hält. Wieder haben wir es mit einem in den siebziger Jahren Zukurzgekommenen zu tun. Warum, erfahren wir gleich im Einstieg. Lange hat Franzen die Schmach umgetrieben, doch erst jetzt, im gewendeten politischen Klima, schöpft der Mann Mut für alte Abrechnungen. Bereits zwischen die ersten Zeilen schiebt sich der Subtext, mit seinem eigentlichen Leitthema: die Schrecken weiblicher Lüste. Tief sitzt das Urerlebnis, das ihn fast auf den Tag genau seit fünfzehn Jahren quält. Damals, am 11. November 75, stürmten jedoch nicht die Jecken auf ihn los, sondern Franzens damalige Freundin zog handgreifliche Konsequenz. Ganz offensichtlich hatte sie die erotische Eintönigkeit satt gehabt und war seiner wohl auch sonst überdrüssig geworden. Mit den Worten "Lies das du Schweinehund!" habe sie ihm "Häutungen" von Verena Stefan an den Kopf geworfen und sei verschwunden. Diese erste größere deutsche Veröffentlichung über den patriarchalen Mythos vom vaginalen Orgasmus für Erwachsene hätte eigentlich auch diesem Mann Gewißheit über die eigene Stümperei verschaffen können. Doch statt Scham schwoll bei Franzen über die Jahre Haß und Opferhaltung: "Der lernwillige, ans Kreuz der deutschen Frauenbewegung genagelte deutsche Mann", wimmert er im Zeit-Artikel. Seine Empörung über die "berührungshungrige, von autonomen Orgasmen gepeitschte Frauenhaut"legt den Verdacht nahe, daß er wohl noch häufiger mit seinen sexuellen Bemühungen gescheitert sein muß. Und nun greift er in die Bestsellerliste der internationalen Frauenliteratur, deren Erfolg er sich so erklärt: "Unter der Obhut selbstloser Verleger und einfühlsamer LektorInnen ließen über Nacht Tausende von mehrfachbelasteten Müttern, Hausfrauen, Töchtern, Ehegattinnen, Geliebten, Schriftstellerinnen, immer in Personalunion, ihre Umluftherde, Töpferscheiben und Selbsterfahrungsgruppen stehen und liegen, griffen ganz unbeherrscht zur Feder und durften fortan reden, wie ihnen der patriarchal deformierte Schnabel gewachsen war: im Leben, ums Leben, ums Leben herum." Der von sich als "dem alternden, zu trotzigen Fehlleistungen neigenden Adam" redende Autor fahndet nun penibel in den Büchern der inkriminierten Autorinnen nach den einschlägigen Stellen über prächtige Penisse und entrüstet sich dann mit masochistischer Lust darüber, "daß das Zentralorgan des europäischen Mannes eine denkbar schlechte Presse hat". Richtig zornig und neidisch wird er bei der Lektüre einschlägiger Stellen in Groult‘s Roman "Salz auf unserer Haut". Darin schildert die Autorin genüßlich das beglückende Ausmaß und die ungewöhnliche Funktionstüchtigkeit mit der ihr männlicher Held ausgerüstet ist. Franzen schäumt und beklagt sich bitterlich: "Dieser Bonus gilt allerdings nur dem prachtvollen, für die Freizeit reservierten, auch nach Gebrauch äußerst beeindruckend wirkenden ‚Überredungswerkzeug‘ des normannischen Kleiderschranks, während es im Alltagsverkehr mit den Kopfarbeitern ihres Milieus zur Not auch ‚Jean-Christophs delikates Stummelschwänzchen‘ oder ‚Sidneys rührige Natter und deren mittlere Leistungen‘ tun. Es mag die vorschnelle Identifikation mit meinen körperlich minderbemittelten Brüdern im Geiste sein, die wir ja alle keine Fischer sind, oder ist es der im allgemeinen den Frauen vorbehaltende Penisneid, der mein Urteilsvermögen beeinträchtigt?"

Wir haben hier also einen Mann, der sich in den siebziger Jahren offensichtlich zuweilen mit intellektuellen und sexuell selbstbewußten Frauen ("von autonomen Orgasmen gepeitschte Frauenhaut") rumgetrieben hat. Nun, Anfang der neunziger Jahre ist seine Zeit gekommen, wenigsten in die Rolle des Maulhelden zu schlüpfen. Franzen selbst sucht schließlich beim "Sprachtheologen Botho Strauß" Zuflucht. Elf Jahre später legt er dann noch einmal im Tagesspiegel nach, jammert über den "Gründungsrausch" der Frauengruppen und "die einschlägigen Frauenperiodika", die immer noch über die "Abwicklung des Geschlechtsverkehrs" in der "einprägsamen Einfalt" schreiben würden. (Tagespiegel 22.Oktober 2002)

Zurück zu Botho Strauß, diesem Fixpunkt depravierter deutscher Männlichkeit. Das Private "prothetischer" Männlichkeit wird in den neunziger Jahren explizit politisch. Wir erinnern uns, wie Strauß 1993 in der Herrenillustrierten "Der Spiegel" mit seinem Pamphlet "Anschwellender Bocksgesang" (8.2.1993) zum nationalen Raunen aufrief und seine Jünger ihm 1994 die "Selbstbewußte Nation" widmeten. Darin will in "Dekadenz und Kampf" auch der ehemalige SFB-Redakteur Ansgar Graw das mit den Frauen noch mal klären. Die guten verkörpern für ihn Journalistinnen wie Cora Stephan. Die bösen verbinden sich merkwürdigerweise mit den 68ern und den "Onanisten des Konsumzeitalters" (Graw 1994, 283). Es wird ganz deutlich, daß dieser damals relativ junge Mann, Jahrgang 1961, sich trotz rechtem Heimatgedusel die Libido noch nicht ganz wegsublimiert hat, sie andererseits aber auch nicht so ausleben kann, wie es dem Herren gebührt. Er erklärt sich das Ganze schließlich mit dem neuen Schlagwort der Rechtskonservativen in den neunziger Jahren, der "Political Correctness" ("PC") die ab 1995 auch "Politischen Korrektheit" heißt: "Neue radikalnivellierende PC-Strömungen kommen daher: Sie besingen den ‚Tod der westlichen, weißen Kultur‘, da diese zwangsläufig repressiv und sexistisch sei; sie predigen einen Feminismus, der den Beischlaf schlechthin als Vergewaltigung definiert." (Graw 1994, 286) Am Schluß gehen die virilen Kräfte mit ihm durch: "Nehmen wir die Kriegserklärung endlich an! Der Kampf kann gewonnen werden, wenn wir uns den Denk- und Frageverboten, der unheiligen Inquisition namens political correctness verweigern ... Gelingen wird sie nur, wenn sie entschlossen und selbstbewußt von der Nation getragen wird." (Graw 1994, 290)

Ernst Nolte gibt im selben Band, in "Links und Rechts", zunächst noch mal Einblicke in seine bekannten Revisionen deutscher Geschichte. Doch knapp zehn Jahre nach dem Historikerstreit hat er nun einen neuen Feind entdeckt, den Feminismus, zunächst im Zusammenhang mit dem "Anti-Okzidentalismus". Doch nach längerem Nachdenken kommt er auf eine ganz neue Gefahrenverbindung: Nichts weniger als die "Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Deutschen" würde der Feminismus instrumentalisieren (vgl. Nolte 1994, 158). Für diese Verbindung gebührt Nolte das geistige Patent.

In gleicher Richtung ist aber auch Rainer Zitelmann unterwegs, mit "Position und Begriff. Über eine demokratische Rechte". Von ihm ist erst einmal zu lernen, daß Hitler eigentlich links stand (vgl. Zitelmann 1994, 166). Heute aber sieht er den Hauptfeind ebenfalls im Weiblichen. Allerdings hält er die Frauen selbst für relativ unfähig, diese Bewegung zu führen: "Der Marxismus hat kaum noch Attraktivität, aber im Feminismus ist eine neue Ideologie mit dem utopischen Anspruch auf Schaffung eines ‚neuen‘ Menschen entstanden. Es wäre falsch, im Feminismus eine nur auf Frauen beschränkte Ideologie zu sehen. Natürlich wird es niemals eine ‚Herrschaft der Frauen‘ geben, so wie es ja auch in Wahrheit niemals eine ‚Diktatur des Proletariats‘ gab. Wie einstmals vor allem bürgerliche Intellektuelle maßgeblich und führend in der ‚Arbeiterbewegung‘ wirkten, so sind auch heute Männer oft die radikalsten FeministInnen." (Zitelmann 1994, 178f.) Welch Wahnvorstellungen über Marx`s Gespenster! Die "Selbstbewußte Nation" wurde zwar 1994 durchaus kontrovers in der Öffentlichkeit diskutiert, doch die Verachtung der Frauen, blieb im patriarchalen Einverständnis völlig außen vor.

Zur Jahreswende 1996/97 bekommt die "Lust am Bösen. Der göttliche Teufel" im Spiegel Titelhöhe (23.12.1996). Als Fachmann für ein Gespräch auf der Couch konnte Rüdiger Safranski gewonnen werden. Der hatte sich für das Thema ebenfalls im völkischen Manifest "Die selbstbewußte Nation" mit seinem Beitrag "Destruktion und Lust" qualifiziert. Schon in dieser Hommage an Botho Strauß hatte er Gewalt, zu der er auch Drogengebrauch zählt - als Lust definiert, der nur mit Gewalt begegnet werden könne (!). Das Spiegel-Gespräch "Auf dem Rücken des Tigers" führen Henryk M. Broder und Nikolaus von Festenburg, ausgewiesene Kämpfer gegen den Feminismus und die "Politische Korrektheit". An einer Stelle kommen sie zum Bösen im Fernsehen: "SPIEGEL: Dafür aber begegnet man überall - auch im Fernsehen - der sozialtherapeutischen Erklärung. Wo gibt es denn eine Renaissance des Bösen oder zumindest eine Renaissance in der Wahrnehmung des Bösen? Das Gute dominiert auf eine absurde, schleimige Weise. Denken Sie an die Gutmenschen aller Orten, an die Political Correctness. Safranski: Mit PC hält man die Leute an zu vergessen, daß sie auf einem zerbrechlichen Floß treiben. Ein mit dem Bösen vertrauter Blick merkt aber, daß wir in einem unruhigen Ozean leben. Nach einer Weile:
SPIEGEL: Metaphysisch böse wäre wohl, daß der Mensch sterben muß.
Safranski Ja. Beim Malum physicum dachte Leibniz an Naturkatastrophen und Krankheiten. Das Moralische machte nur ein Drittel aus.
Spiegel: Aber wieso macht es heute eine so beherrschende Stellung?
Safranski: Ich glaube, der Höhepunkt des modischen Gutseins lag in den siebziger Jahren, als diese breiten Hosen und Gürtel getragen wurden, tief sitzend, direkt über dem Geschlechtsteil". Ganz offensichtlich hat diese Herren noch 1996 das Mini-Gespenst "Softie" umgetrieben. Nicht nur Erinnerungen an Strauss` und Franzens sexuelle Desaster drängen sich auf. Es scheinen auch hier wieder kollektive Erfahrungen patriarchaler Identitätsbildung getroffen. Aus seinen zahlreichen Ausflügen ins dunkle Reich des Bösen hat Safranski schließlich eine "Dämonologie" geschaffen. Die sei keinesfalls "zu fachlichen philosophischen Debatten zu gebrauchen" (Die Zeit 19.9.1997), meint der Sozialwissenschaftler Micha Brumlik.

Im Jahr 1996 verliert Bob Dole in den USA die vorerst letzten demokratischen Präsidentschaftswahlen. Doch ihn treibt es bald wieder ins Rampenlicht. Dole verdingt sich als Reklameträger für Viagra, bis heute der globale Verkaufsschlager der Pharmaindustrie. Und Ehefrau Elizabeth erzählte der Yellow Press über ihre neuen nächtlichen Erlebnisse mit Bob. Unermüdlich machen sich international Medien nun wieder auf die Suche nach G-Punkt und vaginalem Orgasmus, fordern ein Viagra für Frauen, Firmen bieten Penisverlängerungen im Internet an. Leistung muß sich auch für Männer wieder lohnen, vor allem muß sie sichtbar werden. Wie Susan Faludi in "Stiffed" (1999) berichtet, gilt das jetzt besonders für männliche Darsteller in der Pornoindustrie. Wer nicht vor laufender Kamera in schneller Folge und genügend ejakuliert, fliegt vom Set. Wer spräche bei soviel Leistungsdruck patriarchalem Gemüt besser aus der Seele als "unser" Boris Becker? Den feierten deutsche Medien im Frühjahr 2001 geradezu emphatisch dafür ab, wie er in der Wäschekammer eines Londoner Hotels eine junge, dunkelhäutige Angestellte sexuell gebraucht und in diesem coitus simplex von nur wenigen Augenblicken ein Kind gezeugt hatte. Doch selbst dieses Mindestmaß an Erektionsfähigkeit scheint zunehmend in Gefahr, wie die Erfolgsgeschichte von Viagra zeigt, obwohl bisher mindestens 600 offiziell gemeldete männliche Todesopfer beklagt werden müssen. Die Dunkelziffer, gerade in asiatischen, osteuropäischen oder lateinamerikanischen Metropolen der sexuellen Versklavung, dürfte weitaus höher liegen.

Allergrößte Probleme hat auch Bush II. Nun könnte frau denken, so ein furchtloser Kriegsherr gegen das "Böse" müßte doch vor potenter Ausstrahlung geradezu platzen. Weit gefehlt. Seine Wahlkampfstrategen machten sich im Frühjahr 2003, also schon gut 18 Monate vor den Wahlen, Sorgen darüber, ob Bush II über genügend Sexappeal verfüge, um insbesondere Bürgerinnen für sich an die Wahlmaschinen zu treiben. Während Clinton in politischen Karikaturen immer mit dicker Knollennase auftauchte, war Bush bis dahin nur mit kleinem Näschen und großen Ohren bedacht worden. Wie Abhilfe schaffen? Die evangelikalen Massen würden natürlich toben, würde ihr Idol sich beispielsweise plötzlich mit prallen jungen Frauen zeigen, oder sich wie sein Vater Bush I. eine Geliebte halten. Mache dir das Weib untertan, aber eben nur eines und das Gieren nach dem zweiten ist schon Sünde, so das evangelikale Geschlechterdogma. Außerdem pumpt Bush viel Geld in evangelikale Gruppen, die Jugendliche mit Bibel und Gehirnwäsche indoktrinieren, "keusch" in die Ehe zu gehen und dort lediglich die Missionarstellung zu absolvieren, während sexueller Aufklärungsunterricht an vielen amerikanischen Schulen mittlerweile verboten ist. Woran sollen konservative Wählerinnen also die Männlichkeit ihres Präsidenten erkennen? Die Wahlkampfstrategen besonnen sich schließlich auf das, was jede aufgeweckte junge Frau schnell lernt, nämlich gewisse Körperregionen diskret abzuschätzen, um so physischen Enttäuschungen bereits im Vorwege vorbeugen zu können. Rechtzeitig zum militärischen Überfall auf den Irak gab es plötzlich ungewöhnliche Fotos aus dem Weißen Haus: Bush II präsentierte sich in Fallschirmspringeruniform. Nun gut, für Kriegsherren scheint das nichts Originelles zu sein. Oder? Es war nicht irgendein Foto, wie Richard Goldstein feststellt: "Es war das erste Mal, daß ein Präsident buchstäblich seine Hoden gezeigt hat." Lange habe das Team auf die richtigen natürlichen Lichtverhältnisse gewartet, um so die "Ausbuchtung real erscheinen zu lassen". Enge Jeans hätten nicht das gleiche Resultat gebracht. Nichts würde besser funktionieren als die Strapsen der Kampfpiloten, die "die Leistengegend halten und ihnen Kontur geben" Das bringe die Vorstellung zum Arbeiten. Goldstein meint, die Kampagne habe gerade auch bei Männern ins Schwarze getroffen, da Bush wie kein anderer die tief sitzende Unsicherheit vieler Männer verkörpere, die sie angesichts des sexuellen Wandels verspüren. "Sie fühlen sich mit seinem Kampf verbunden, die Heldentat als Macho zu erringen … Viele feuern Bush an, es auch als Mann zu machen und deshalb sind sie glücklich seinen großen basket (Schritt) zu sehen. (Auch wenn es nur so etwas wie eine männliche Version eines bush-up BHs ist)." (Goldstein 2003 b) Ähnliche Solidarität in Zeiten sexueller Bedrängnis sieht Goldstein auch bei der Wahl Arnold Schwarzeneggers am Werk: Viele Kalifornierinnen waren nicht zu Wahl gegangen. Es sei diesmal ein "white-boy jamboree" (weiße Jungs -Pfadfindertreffen) gewesen. Sie hätten den Kandidaten gewählt, der ihnen das Gefühl der Stärke gebe (vgl. Goldstein 2003 b). Herrengehabe ist auch in der Pop-Kultur cool. Es ist sicher kein Zufall, wenn die leblos-martialischen Glatzköpfe der deutschen Horror-Formation "Rammstein", die sich im deutschtümelnden Gestus auch gern "Radaubrüder" nennen, im Jahr 2001 deutscher Kulturimport Nummer eins in den USA waren. Auch der amerikanische Sänger "Eminem", der mit grotesken Hip Hop Plagiaten Millionen-Umsätze macht, verkörpert mit seinen rassistischen, sexistischen, homophoben und pädophilen Attitüden genau das Lebensgefühl (junger) depravierter weißer Männer in der westlichen Welt. Berechtigte Empörung und körperliches Unbehagen, die diese Art gewalttätigen Treibens zappelnder und stampfender Körper mit ihren geschorenen Schädeln auch auslösen, sollten die Analyse jedoch nicht vorschnell verstellen. Gerade weitergehendes Dekonstrukruieren der unbewußten Inszenierungen solcher "Radaubrüder" kann das ganze Ausmaß von Gewaltfantasien aber auch Kastrationsängsten und sexueller Impotenz zutage fördern. Zur Überprüfung sei beispielsweise auf das Musikvideo "Die Sonne" von Rammstein verwiesen. Einschlägig sind auch die Texte von Eminem. Eine feine Dekonstruktion seiner pädaophilen und sexistischen Attitüden findet sich in der Analyse von Chuck Eddy (The Daddy Shaddy Show, Village Voice 25-31 Dec. 2002). Nicht einmal die Werbeindustrie scheint mehr in der Lage zu sein, virile Mythen und männlichen Sexappeal zu inszenieren. Zunehmend geistern vielmehr Männer als lächerliche, infantile Figuren durch die Gigs. Erinnern wir uns an die Astra-Reklame an Hamburger Busstationen im Frühjahr 2003? "Ex und Hop" stand da. Zu sehen war ein halbausgezogener junger Mann, dumpf stierend, Einheitsschädel, die Flasche Astra fast am Hals. Vor ihm ist eine junge Frau zu sehen, halb liegend auf einem Bett drapiert, blond natürlich. Artig abwartend, mit BH und Höschen, die an die Extravaganz der Plastikprodukte von H&M oder Palmers erinnern, schaut sie ihn an. "Ex und Hop", das weckt eher Assoziationen an Kriegsrhetorik und die push up Strapsen eines George W. Bush als Phantasien über einen kraftvollen und feurigen jungen Liebhaber. Natürlich ist diese Reklame frauenverachtend und gehört mindestens vor den Presserat. Doch zeigt sie eben auch, wie sehr sich alltägliche Männlichkeit mittlerweile selbst als Farce vorführt. Sexualität ist zur Notdurft verkommen, derer man sich schnell und problemlos, "Ex und Hop", am besten mit Hilfe von Prostituierten marktgerecht entledigen kann. Der kommerzielle Erfolg gewalttätiger und faschistoider Männerfantasien bestätigt kollektive Befindlichkeiten und damit auch das bedenkliche Ausmaß der Ansammlung von Todestrieben, die global zunehmend vielen Frauen als psychische und als nackte Gewalt gegenüber tritt. Aber die offen gelegte Lächerlichkeit zeugt allerdings auch von der "Selbstherabsetzung" und damit der Kraftlosigkeit dieser "prothetischen" Männlichkeit. Gerade diese Defekte belegen, wie endgültig die Definitionsmacht über weibliche Lüste gebrochen ist. Die "verworfene Identifizierung" hört nicht auf, als Gespenst patriarchale Seelen allgegenwärtig heimzusuchen. Das Patriarchat ist ein einziges Pulverfaß, allerdings ein hoch explosives. Den Auswirkungen jedoch, der globalen Zunahme an Gewalt können sich Frauen und Männer, die diese destruktiven Kreisläufe lernen zu durchbrechen, nicht länger verschließen. Politisches Handeln gegen diese Destruktionen ist keine Möglichkeit oder Wahl mehr, sondern ethische Pflicht, gerade für Menschen in der westlichen Welt.

3. Die Gespenster des Glücksversprechens Sozialstaat

Weltweit herrscht "Apartheid der Geschlechter" und in vielen Teilen der Welt ist "Weiblichkeit" zum "Überlebensrisiko" geworden, wie UNICEF zur Jahrtausendwende feststellte. Auch in westlichen Ländern verweist die tiefgreifende Asymmetrie zwischen den Geschlechtern, wie sehr wirkliche Demokratie auch hier eine Illusion ist. Obwohl Frauen in den EU-Mitgliedsländern mittlerweile nicht schlechter ausgebildet sind als Männer und sich kulturell und sozial interessierter verhalten, bleiben ihre Chancen in der Arbeitswelt geringer. Doch wenn Frauen immer noch 20 bis 40 Prozent weniger als Männer in gleicher Position verdienen, trotz mittlerweile höher qualifizierter Bildungsabschlüsse von Frauen, dann verletzt das in keiner Weise männliches Rechtsempfinden. Männer ­ von rechts bis links - nehmen ihre Privilegien ­ wie den Markt - als Natur hin.

Kehren wir zur patriarchalen Politik in unserem Land zurück, die sich scheinbar geschlechtsneutral gibt. Die Fakten sind klar: In Top-Positionen wie Vorständen, Aufsichtsräten und Geschäftsführungen sind Frauen kaum vertreten - in Deutschland etwa nur zu drei Prozent. DGB-Frauen wären schon glücklich, wenn sich der Frauenanteil im oberen Management auf wenigstens acht Prozent erhöhen würde. Der Slogan "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" taugt allenfalls noch, um die Sprecherin damit hämisch als "Gutmenschen" vorzuführen. Berufe, in die Frauen vermehrt einsteigen, verlieren nach kurzer Zeit noch immer an Marktwert, wie beispielsweise sinkende Honorare und Gehälter sogar für das Berufsfeld Journalismus dokumentieren.

Im "vereinigten" Vaterland haben Männer ­ weiße und "echte" Deutsche - neunzig Prozent aller Professuren und Chefredakteursposten und zu fast 100 Prozent die Führung großer Betriebe inne. Mit Unterstützung von Industrie und Regierung züchtet das deutsche Patriarchat noch immer die lausigsten Väter in der EU heran: Nur ganze 1,9 Prozent der Väter halten es überhaupt für nötig, Erziehungsurlaub zu nehmen. Frauenförderung ist auch im öffentlichen Dienst kein Thema mehr. Sie hat das im neoliberalen Neusprech so hip klingende Gender Mainstreaming abgelöst, mit keinerlei verpflichtendem Charakter oder gar klaren Zielvorgaben für die Gleichstellung von Frau und Mann.

Zum Frauentag 2000 zitierte die Frankfurter Rundschau auf Seite eins: "Frauen können nicht mehr auf ein strenges Gleichstellungsgesetz hoffen". Die Bundesfamilienministerin habe "Angesichts von Arbeitgeber-Protesten" verzichtet! Im Jahr 2002 hatten gerade einmal 4,1 Prozent der Unternehmen betriebliche oder tarifliche Übereinkünfte zur Frauenförderung getroffen. Eine darüber hinausgehende, politisch vorangetriebene Frauenförderung im Arbeitsmarkt existiert nach wie vor nicht. Dabei weist das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei der Bundesanstalt für Arbeit durchaus häufiger darauf hin, dass es noch schlechter aussieht mit der Frauenerwerbstätigkeit, als die Zahlen auf den ersten Blick zeigen. Der Frauenanteil an den Erwerbstätigen steigt zwar, aber vor allem im Bereich der Teilzeitstellen. Und wie viele verheiratete Frauen melden sich erst gar nicht arbeitslos sondern fügen sich wieder still und demütig in häusliche Abhängigkeit? Seit Januar 2003 haben laut BMWA 160.000 Arbeitslose ihren Anspruch auf Arbeitslosenhilfe verloren, weil Partnereinkommen und Rücklagen angerechnet werden. Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen. Hinzuverdienen dürfen sie. Insofern hat die neoliberale Regierung Frauen sehr wohl im Blick. So rühmt sie sich für die vielen, "Minijobs", die sie wie Teilzeitjobs fördert. Derzeit sind 95 Prozent der sechs Millionen geringfügig Beschäftigten Frauen. Sie sollen ab 2004 nicht einmal mehr als Arbeitssuchende gelten und damit auch keinen Anspruch auf Vermittlungsversuche durch die Arbeitsämter haben. Statt dieses bereits unter der Vorgängerregierung grassierende Unwesen schleunigst einzudämmen, haben Sozialdemokraten und Grüne die Möglichkeiten für diese sozial unabgesicherten Beschäftigungen noch ausgeweitet. Volle Arbeitsplätze werden dadurch nicht geschaffen, sondern verhindert. Der Sozialversicherung und Kommunen entgehen Milliarden von Einnahmen. Dennoch feiert die Regierung Schröder diese größte Lohnkostensubvention für Unternehmen als "Reform".

Die bisherige lautlose Verdrängung von Frauen aus dem qualifizierten Arbeitsmarkt ist jedoch nur eine Art Vorspiel dessen, was die sogenannte Agenda 2010 und andere "Reformen" noch bringen werden: Nichts weniger als eine erneute Zementierung des geschlechtsspezifischen Arbeitsmarktes, eine gigantische Re-Feminisierung der Armut und neue Abhängigkeiten in der "Versorgerehe". Durch geringe Lebenseinkommen, ergeben sich geringe private Altersvorsorge und Rentenbezüge. Schon heute beziehen Frauen lediglich die Hälfte der durchschnittlichen Männerrente, die im Osten 1061 Euro und im Westen 983 Euro beträgt. So wird nach Berechnungen der Gewerkschaft Ver.di eine Rentnerin mit 700 Euro pro Monat, mit einer also noch über dem Mittel liegenden Rente, nach Inkrafttreten der "Reformen" ab 2004 monatlich mit rund 25 Euro belastet. Ein männlicher Vielverdiener mit einem Bruttojahreseinkommen von 500.000 Euro jährlich wird hingegen 31.501,13 Euro gewinnen, bekommt also mehr als dreieinhalb Mal so viel dazu als die Rentnerin an Jahreseinkommen zur Verfügung hat. Welche ethischen Maßstäbe liegen einer solchen Politik zugrunde?

Aber, sitzen in Berlin nicht viel mehr Frauen als je zuvor in der Regierung? In den USA stehen Frauen dem kriegführenden Präsidenten ebenfalls qualifiziert zur Seite oder machen als Senatorinnen von sich reden. Dieses Phänomen läßt auch Richard Goldstein nicht los: Anhand des Bush Regimes hält er fest: "Er repräsentiert ein Modell, das weibliche Initiative und Beratung einlädt, aber keinesfalls Kontrolle." Nichts scheint wichtiger für den neoliberalen Mann, als fähige Ausputzerinnen im direkten Umfeld zu haben. So hat beispielsweise Bush II seine rechte Hand Condoleezza Rice, die - ungleich intelligenter als er - ihm nicht nur Grundlagen der Politik und der Verhandlungsführung vermittelt und an seiner Aussprache feilt, sondern auch seine Patzer ­ wie die Behauptung der Irak verfüge über Atomwaffen - später verbal ausbessert.

Auch in anderen westlichen Ländern bekommen artige Frauen durchaus ihre Chance. Enthusiastisch hofieren deutsche Medien seit Ende der achtziger Jahre, ähnlich wie die amerikanischen (Faludi 1993), geradezu Frauen mit Enthüllungszwang. Wenn eine beispielsweise zum X-ten Mal bekennt, "Ich bin keine Feministin", dann läßt sich das keine Nachrichtenillustrierte entgehen. Ebenso begehrt ist weiblicher Radikalismus, der "Mißbrauch mit dem Mißbrauch" anprangert oder die Forderung nach Gleichstellung der Geschlechter als altmodisch, als "politisch korrekt" outet. Besonders begehrt sind auch junge Frauen, die freimütig erzählen, sie fühlten sich nicht benachteiligt, das sei lediglich ein Problem von alten Feministinnen. Dieses diskursive Umfeld begünstigte schließlich nicht nur die Abschaffung von Frauenseiten oder Frauensendungen mit politischer Ausrichtung in den Medien. Auch die Politik hat es viel leichter als noch Mitte der neunziger Jahre, Gleichstellungsgesetze zu kippen, Beratungsstellungen und Frauenhäuser einfach zu schließen, obwohl jede dritte deutsche Frau in ihrem Leben Opfer von männlicher Gewalt ist. Im öffentlichen Dienst stören immer weniger lästige Frauenbeauftragte, die Arbeitnehmerinnenrechte einklagen.

Auch die deutsche Regierung mag in den eigenen Reihen auf Perlen des Patriarchats nicht verzichten. Wie wäre sonst beispielsweise die sogenannte Gesundheitsreform, die am härtesten Arbeitnehmerinnen, Rentnerinnen, alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern und arbeitslose Frauen trifft, überhaupt zustande gekommen? Auch das weibliche Antlitz der Familien-, der Bildungs- und der Justizministerinnen wird dringend gebraucht, um die sogenannte "Agenda 2010" durchzuboxen und das Bildungssystem im Sinne des Marktes, d.h. auf der Grundlage patriarchaler Werte (z.B. Wachstum, Wachstum, Konkurrenz, Konkurrenz) "umzubauen". Eine wertkonservative Feministin wie Rita Süssmuth wäre heute im Kabinett von Gerhard Schröder als Ministerin undenkbar.

Bevor wir uns dem innenpolitischen Teil des Konstrukts "Agenda 2010" als Diskursfragment zuwenden, als erstes zu seiner neoliberalen Diskursgeschichte. Dieser Neusprech, dessen tiefere "Bedeutung" sich wahrscheinlich auch im Jahr 2004 für mehr als neunzig Prozent der Bevölkerung nicht erschließen wird, ist im Kern nichts anderes als ein Plagiat der sogenannten "Ruck-Rede", von Roman Herzog. Der hatte 1997 sein Traktat im Hotel Adlon in Berlin unter standing ovations geladener Industrieller vortragen dürfen (vgl. Huhnke 1998; 1999).

Herzog führt den evangelikalen Bezugspunkt der Schuld in den sozialpolitischen Diskurs ein. Die sucht er im Verhalten der Bevölkerung allgemein und adressiert im Subtext besonders Frauen. So denunziert er "staatliche Vorsorge", die "Maximierung von Sozialtransfers", sozialstaatliche Errungenschaften also, die in den siebziger und achtziger Jahren vor allem auch Frauen zugute gekommen sind. Dem "Arbeitsplatzbesitzer" ­ womit er ArbeitnehmerInnen meint - die sich nicht mit Forderungen nach gerechtem Lohn und Arbeitsplatzsicherheit zurückhalten, droht er: "Statt Lebens-Arbeitsplätzen wird es mehr Mobilität und Flexibilität geben" (Herzog 1997, 355). Die Menschen sollen sich "an den Gedanken gewöhnen ..., später einmal in zwei, drei oder sogar vier verschiedenen Berufen zu arbeiten." Vor den sogenannten "Leistungsträgern" im Adlon fordert Herzog im Gestus der Erweckung: "Ich rufe auf zur inneren Erneuerung! Vor uns liegt ein langer Weg der Reformen" (Herzog 1997, S, 533). Was dann folgt, ist ein Musterkanon neoliberaler Mantren, die dem Abbau von Arbeitsplätzen bis hin zum Aushebeln von Tarifverträgen und der Einführung von Niedriglöhnen ebenso huldigen wie dem Abbau von Sozialleistungen, Privatisierung von Rentenansprüchen, dem Abbau der allgemeinen Schulbildung zugunsten von Eliteausbildungen. Herzog hat das alles bereits 1997 auf seinem Wunschzettel. In solchem Gefolge prägten in der Folge andere Heilsapostel manch weiteren modischen Sprachputz, wie "die Reform der sozialen Sicherungssysteme", mit dem sich nicht nur konservative Politiker schmücken. Laut wird der Ruf, "soziale Besitzstände" prüfen zu wollen. Ganz ähnlich geraten die Parolen des Blair/Schröder- Papiers "Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten" im Jahr 1999. Die Genossin beachte das alleinige "Sozialdemokraten"! Wie die "Ruck-Rede" bleibt auch dieses Glaubensbekenntnis ohne eine einzige Stellungnahme zu den global nachhaltigsten asymmetrischen Machtverhältnissen: Die massive Diskriminierung und Ausbeutung von Frauen ist für diese Sozialdemokraten kein Thema. Wie Herzog suchen Toni Blair und Gerhard Schröder nicht nach den historischen und ökonomischen Ursachen von Arbeitslosigkeit sondern nach der Schuld des Einzelnen. Die beiden Parteiführer verleiben die rhetorische Figur "Sozialversicherungssysteme behindern Eigenverantwortung" nun endgültig dem sozialdemokratischen Diskurs ein: "Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert, muß reformiert werden. Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln." Sozialdemokraten setzen sich also für den freien Fall ohne Netz ein. Arbeitslosigkeit, diskursiv von seinen gesellschaftlichen Zusammenhängen entsorgt, ist nun zum mangelnden Willen von Individuen, Arbeit finden zu wollen, umgedeutet. Der Sozialstaat taucht im Diskurs nicht mehr als historische und kontextreiche Errungenschaft auf, die sich die westeuropäische ArbeiterInnenbewegung gegen das Kapital erkämpft hat. Sozialdemokraten ent-historisieren einfach das ehemalige Glücksversprechen gegen den Sozialismus. Sie konstruieren es als anti-modern, im Gegensatz zur "Eigenverantwortung". Dieser kontextlose Neologismus, formal ohne Sinn (gibt es beispielsweise das Gegenteil, eine Nicht-Eigen-Verantwortung? Was ist der Unterschied zwischen Verantwortung und Eigenverantwortung, mehr als ein weißer Schimmel?), wird zum neuen Fahnenwort.

Absolut tabuisiert bleiben die rücksichtslosen Methoden, mit denen internationale Konzerne Arbeitsplätze vernichten sowie die Folgen der "Deregulierung", d.h. die Zerschlagung von einstigen verstaatlichten Schlüsselindustrien durch Regierung und Staat. Konkrete Arbeitsplatzvernichtung konkreter Unternehmen bzw. öffentlicher Arbeitgeber wird im öffentlichen Diskurs zum individuellen und vorsätzlichen Versagen von mehr als 5 Millionen Menschen allein in Deutschland umgedeutet, die lediglich zur "Eigenverantwortung" diszipliniert werden müssen.

Gerhard Schröder und Toni Blair geben in ihrem Pamphlet den neoliberalen Diskurs nun endgültig auch für Sozialdemokraten frei und fordern Arbeitgeberverbände geradezu auf, gegen weitere "Denkverbote" Sturm zu laufen und "Tabus" zu brechen. Im neu justierten Diskurs dauert es dann auch nicht mehr lange, bis weitere historische Erfolge der ArbeitnehmerInnen zur Disposition stehen. So kann bald auch der "Kündigungsschutz" als "Wachstumsbremse" diffamiert werden. Forderungen wie "Lohnspreizungen" herbeizuführen statt "Tarifkartelle" aufrecht zu erhalten, werden zu semantischen Nebelkerzen für Lohndumping. In einem solchen Kontext kann die FAZ schließlich sozialstaatliche Regelungen insgesamt knapp als "Sozialgedöns" (FAZ 15.11.02) abtun. Unter der Regierung Schröder wandelt sich "Reform" endgültig zum neoliberalen Drohbegriff. Euphemistische Wendungen wie "Reform der sozialen Sicherheitssysteme" stehen nun für die konkrete Kürzung bzw. Abschaffung historisch, sozial sowie gesetzlich verbürgter Leistungen.

In diesem Amalgan aus Aggressivität und Verachtung gegenüber ArbeitnehmerInnen und Erwerbslosen, radikalisiert sich ein Menschenbild, das die Einzelnen geschichtslos als von Natur aus böse, d.h. als faul und leistungsunwillig imaginiert. "Arbeit muß sich wieder lohnen", dieser Slogan für die strategische Zerschlagung des Sozialstaates unterstellt, Menschen würden aus Faulheit und Bequemlichkeit nicht arbeiten, weil es ihnen auch ohne Arbeit zu gut ginge. Dieses Menschenbild ist äußerst medienkompatibel. Einschlägige Erzählungen lassen sich dazu schnell generieren. Beflissene Redaktionsleiter organisieren Feldzüge gegen Faulenzer und "Transfermißbrauch", bringen die Phantasmen über Arbeitslose als Aufmacher auf Titelgeschichten (vgl. als einen von unzähligen Spiegel-Titeln "Wer arbeitet ist der Dumme" 22.09.03) und in die Nachrichten. Unermüdlich schlagen sie Predigten der Politiker über Gehorsam und Buße um, rufen wie sie nach Erlösung, immer wieder nach dem "Ruck", der durch die Gesellschaft gehen soll. All das läßt sich in Redaktionen, die zunehmend unter dem Druck der Profitmaximierung stehen, ohne großen Rechercheaufwand und Analysen realisieren.

Das neoliberale Diskursumfeld ist also bestens aufbereitet, als Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003 seine "Agenda 2010" im Bundestag plaziert. Mit Raunen umwoben war sie seit Anfang Januar des Jahres angekündigt worden, als kommende große politische Erleuchtung, ganz so, als stünde der Heiland persönlich vor der Pforte, um uns mit der "Reform der sozialen Sicherheitssysteme" alle zu erlösen. Allerdings hatte Gerhard Schröder auch "notwendige Grausamkeiten" angekündigt. Buße kommt vor dem Himmelreich.

Innenpolitisch kreist auch diese Rede um die beiden zentralen Behauptungen des Neoliberalismus: Naturhaftigkeit des Marktes und die Unrechtmäßigkeit sozialer und historischer Rechte. Doch dieses Paradigma vertritt Schröder weniger offensiv als Konzept, da es gegen das Grundgesetz verstoßen würde, sondern er operiert im autoritären Gestus aus dem verdeckten Hinterhalt heraus. Er verdächtigt, unterstellt und beschimpft Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind und droht mit massiven Eingriffen in die soziale Existenz von Millionen. Hingegen erwähnt er Großverdiener, Unternehmen und ihre Manager bzw. Besitzer in der gesamten Rede mit keinem Wort.

Die positive Natur des Marktes möchte Schröder wie Herzog keinesfalls antasten, allenfalls gegen die Unbill der verwandten Naturgewalt "Globalisierung" schützen. Das "europäische Sozialmodell" will Schröder "gemeinsam gegen die Stürme der Globalisierung wetterfest" machen. Weder bietet er der Bevölkerung eine politische Perspektive, noch bekennt er sich zu ethischen oder kulturellen Verbindlichkeiten. Schröder hat nur ein neoliberales Credo zu verkünden: "Wir verlangen der Gesellschaft heute etwas ab, aber wir tun es, damit den Menschen neue Chancen eingeräumt werden, Chancen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und Höchstleistungen zu erbringen." (zitiert nach Dokumentation der Frankfurter Rundschau vom 15.3.03) .Die einzige Gruppe, die er im innenpolitischen Teil der Rede konkret benennt sind Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger.

Historisch erkämpfte soziale Rechte formuliert Schröder nun in "Hilfen" um: "Meine Damen und Herren, wir können es nicht dabei belassen, die Bedingungen für die Wirtschaft und die Arbeitsmärkte zu verbessern. Wir müssen auch über das System unserer Hilfen nachdenken und uns fragen: Sind die sozialen Hilfen wirklich Hilfen für die, die sie brauchen?" Schröder inszeniert seine Unterstellungen in Form von Anspielungen und rhetorischen Fragen. Statt empirische Belege für seien Behauptung, Menschen bekämen unrechtmäßig "Hilfen", anzuführen, benutzt er die Suggestion von "wirklich" im Fragesatz. Die durch Arbeitsplatzvernichtung der Unternehmen und Behörden Betroffenen macht er zu Bittstellern und Almosenempfängern.

Schröder unterscheidet die Guten von den Bösen: "…Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollen und können, zum Sozialamt gehen müssen, während andere, die dem Arbeitsmarkt womöglich gar nicht zur Verfügung stehen Arbeitslosenhilfe beziehen." Erneut ersetzt ein Fülsel den empirischen Beleg, diesmal "womöglich". Arbeitslosigkeit ist für Schröder eine Frage der Bereitschaft arbeiten zu wollen. Und er gibt zynisch vor, Gerechtigkeit herstellen zu wollen: "…Ich akzeptiere auch nicht, dass Menschen, die gleichermaßen bereit sind zu arbeiten, Hilfen in unterschiedlicher Höhe bekommen. Ich denke, das kann keine erfolgreiche Integration sein." Das Füllwort "gleichermaßen" suggeriert "Gleichheit" oder "Gerechtigkeit", die er nun vorgibt herstellen zu wollen.

Nun könnte daraus natürlich gefolgert werden, die bereits unter dem Existenzminimum liegende Sozialhilfe wolle die Regierung deshalb nach oben anpassen. Doch Schröder hat eine solche Gleichheit, die die Menschenwürde unterstützen würde, nicht im Sinn: "Wir brauchen deshalb Zuständigkeiten und Leistungen aus einer Hand. Damit steigern wir die Chancen derer, die arbeiten können und wollen. Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe - auch das gilt es auszusprechen -, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird."

Im Nebensatz also deponiert er den sozialpolitischen Sprengstoff, die Verweisung von weiteren Millionen Menschen unter die Armutsgrenze. Eine sozialpolitische Begründung liefert er dafür nicht, statt dessen droht er weiter aus dem Hinterhalt: "Ich denke, wir setzen damit ein eindeutiges Signal für diejenigen Menschen in unserer Gesellschaft, die länger als zwölf Monate arbeitslos sind. Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt - wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern -, der wird mit Sanktionen rechnen müssen." Was meint Schröder damit "ein eindeutiges Signal" zu setzen? Da die Regierung seit fünf Jahren keinerlei rationale Anstrengungen zur Abhilfe unternimmt, Vergünstigungen für Unternehmen die Arbeitslosenzahlen vielmehr steigen lassen, kann dieses "Signal" nur bedeuten, die betroffenen Menschen mit sozialem Abstieg zu bedrohen.

Schröder will den Druck verschärfen, nicht auf Unternehmen sondern auf Arbeitslose: "Niemand darf sich künftig zu lasten der Gemeinschaft zurücklehnen". Das Füllwort "künftig" ermöglicht die Assoziation, es gebe jene, die sich "zurücklehnen", aber er werde Abhilfe schaffen ("wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern"). Diese Veränderung soll also durch autoritäre Setzung erfolgen, ohne jegliche gesellschaftliche Debatte.

Noch einmal: Die einzige Gruppe, die Schröder in dieser "Agenda-Rede" konkret mit Disziplinierung und Beschneidung ihrer materiellen Existenz zur Ader lassen will, sind die sozial Schwächsten, Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen. Doch perspektivisch nimmt er die zweite Gruppe schon ins Visier. So kündigt er an, auch die Rechte von ArbeitnehmerInnen anzugreifen: "Darüber hinaus reformieren wir das Arbeits- und das Sozialrecht an den Stellen, an denen sich im Laufe der Jahre Beschäftigungshemmnisse entwickelt haben." Was genau die "Beschäftigungshemmnisse" sein sollen, erläutert er nicht. Heißt das beispielsweise, die Flächentarifverträge zu zerschlagen und noch mehr Frauen in Billigjobs abzudrängen?

Auch mit seinem Verhalten nach dieser Rede dokumentiert der Bundeskanzler, wie sehr für ihn Politikformen des Überzeugens, des Konsens und der Kooperation bereits obsolet sind. Er wählt mehrfach die Kommunikationsform der Erpressung. Schröder droht in den Folgemonaten knapp ein Dutzend Mal mit Rücktritt, wenn die "Ansätze von Reformen wieder einbetoniert werden" (DLF 31.3.03). Vom SPD- Parteitag fordert Schröder absolute "Gefolgschaft" ein. Als die dann im November 2003 nicht hundertprozentig klappte, soll er Genossen gedroht haben "euch mache ich fertig". Trotz Massenaustritte aus der SPD und hoher Verluste bei Landtags- und Kommunalwahlen verweigert Schröder jegliche Auseinandersetzung mit Parteimitgliedern und der Bevölkerung. Er wolle sich "nicht auf rückwärtsgewandte Debatten einlassen" sondern sei "zukunftsgewandt", verkündet er auf dem Parteitag im November 2003. Und in hohlem Pathos läßt er die Delegierten wissen, die Partei stehe "vor einer großen sozialdemokratischen Epoche". Im November 2003 fliegt Schröder eigens nach New York, um sich und seine "Agenda 2010" als "durchgreifende Modernisierung" (lt. DLF-Nachrichten am 21.11.03) zu loben. Um davon zu berichten, wie seine Regierung Arbeitslose disziplinieren wird?

Was künftig Frauen von dieser "großen sozialdemokratischen Epoche" zu erwarten haben, machte Ende Oktober 2003 sein Arbeitsminister unmißverständlich deutlich. Wolfgang Clement war während seiner Zeit als Chefredakteur der Hamburger Morgenpost inhaltlich für eines der frauenfeindlichsten Blätter verantwortlich. Dieses Boulevardblatt fördert zudem seit Jahrzehnten im norddeutschen Raum die sexuelle Versklavung von Frauen, die täglich zu Hunderten in Kontaktanzeigen der Morgenpost feilgeboten werden. Der Minister will nun arbeitsuchende Frauen unter Druck setzen und neue Abhängigkeit vom Ehemann fördern: "Wer genau hinschaut, der wird erkennen, daß die neuen Vermittlungs- und Zumutbarkeitsregeln bewirken werden, daß wir uns auf die wirklichen Jobsucher konzentrieren können. Einmal drastisch gesprochen: Die Ehefrauen gutverdienender Angestellter oder Beamter akzeptieren einen Mini-Job oder müssen aus der Arbeitsvermittlung ausscheiden."( FAZ vom 31.10.03)

Dem Kanzler ergeben verhält sich auch Familienministerin Renate Schmidt. Anläßlich der Eröffnung des Gender Kompetenz Zentrums an der Humboldt-Universität in Berlin am 27.10. 2003 nimmt sie zu den Auswirkungen der sogenannten Hartz-Gesetze Stellung: "Ein Gesetz kann auf unterschiedliche Zielgruppen ganz unterschiedliche, zuweilen unbeabsichtigte Effekte haben. So kommt es zum Beispiel bei weitreichenden Änderungen in den Sozialversicherungssystemen, wie die Bundesregierung sie derzeit durch die Hartz-Gesetze erreichen möchte, entscheidend darauf an, die Auswirkungen auf die Zielgruppen geschlechterdifferenziert zu betrachten. Die geplanten Maßnahmen wirken nicht geschlechtsneutral, sondern haben auf die häufig weniger verdienenden, teilzeitarbeitenden und überwiegend in der Dienstleistungsbranche tätigen Frauen andere Auswirkungen, als auf die Mehrzahl der Männer, die in Branchen mit besseren Verdienstmöglichkeiten und meist in Vollzeit arbeiten." Nun kritisiert die Ministerin jedoch nicht die negativen Auswirkungen gerade für Frauen, sondern sieht in der Geschlechterdifferenz gerade eine Quelle, die "Effizienz" zu steigern: "Das heißt, eine geschlechterdifferenzierte Planung und Durchführung führt zu einer Erhöhung der Effizienz in Politik und Verwaltung." Der repressiv-autoritäre Gestus der "Agenda 2010" Rede und deren Auslegung dokumentiert mehr als nur das Vorhaben, den Sozialstaat allgemein zerstören zu wollen. Es zeigt den Willen, vorsätzlich und massiv gegen das in der Verfassung verankerte Gebot der Gleichberechtigung zu verstoßen, indem insbesondere Frauen wieder verstärkt vom Arbeitsmarkt und in soziale Not oder Abhängigkeit vom Mann gedrängt werden sollen. Außerdem hält die Rede in beängstigender Weise den Zerfall politischer Vernunft und Kommunikation in der Bundesrepublik fest. Der Kanzler verzichtet nicht nur auf Argumente und Gegenargumente, sondern auch auf empirische Belege und historische Kontexte des Sozialstaates.

Wir finden im Diskurs zur "Agenda 2010" geballt das vor, was Jacques Derrida als "Logozentrismus" faßt. Damit sind ­ stark vereinfacht - die inneren Inkonsistenzen des auf binärem Denken beruhenden westlich-patriarchalen Denkens gemeint, die im Text implodieren. In unserem Zusammenhang können wir es auch "Unlogik", nennen oder Irrationalismus. In einigen Äußerungen sind die Grenzen zu Wahnvorstellungen fließend. Im Folgenden eine Zusammenfassung der wichtigsten Logozentrismen des neoliberalen Fundamentalismus:

Manchmal steckt der Logozentrismus auch in einem einzigen Wort, in der Regel sind es Neologismen. Zwei Beispiele:
Erstens: "Reformstau". Dieses Kompositum verbindet "Reform", ein Fahnenwort der antikapitalistischen ArbeiterInnen- und Bildungsbewegung und historisch eher weiblich konnotiert, in paradoxer Weise mit "Stau", einem Element aus dem Bildbereich "Verkehr". "Stau" ist die Folge patriarchaler Prinzipien: Wachstum, Wachstum der PS-Zahlen und Konkurrenz auf dem Asphalt führen zu Unfällen und Stillstand. "Reformstau" hat in sich also keine Bedeutung mehr. Gibt es gestaute Reformen?
Zweitens: "Ich-AG". Das Bindestrich ­ Kompositum steht geradezu als Symbol für die Zurichtung moderner Marktsklaven als Scheinselbständige. Es ist gänzlich ohne jeden Sinn: Wer geht mit wem hier eine AG ein? Das "Ich" mit wem? Bedeutet AG Arbeitsgemeinschaft ­ oder eine Aktiengesellschaft? In jedem Fall mehr als eine Person. Oder geht das "Ich" mit einem anderen "Ich" zusammen?

Fakten werden abgewehrt. Mit brachialer Gewalt bahnt sich der Neoliberalismus 1973 mit dem Putsch in Chile erstmals Bahn, dessen Diktator Pinochet sich von Milton Friedman und seinen Chicago boys ökonomisch beraten läßt und das Land mit Repression und Folter zum ersten neoliberalen Satellitenstaat macht (vgl. Naomi Klein 2003).

In der Bundesrepublik hat sich seit 1970 das Sozialprodukt der Bundesrepublik zwar verdoppelt, aber vom Wachstum profitierte überproportional das Kapital. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Arbeitslosen von offiziell 149 000 gemeldeten im Jahr 1970 auf mindestens 4,5 Millionen (Ahfeldt 2003, 7) gemeldete in 2002. Nach Schätzungen der Sozialverbände leben 8 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze (13). Der Wirtschaftwissenschaftler Horst Afheldt belegt, wie andere Experten, für die letzten dreißig Jahre eine gigantische Umverteilung von unten nach oben. Seine Schlußfolgerung: "Die Mittel für die Ärmsten weiter zu beschneiden wird bald zur Verletzung der Menschenwürde."(Ahfeldt, 59)

Auch andere reale Zusammenhänge, wie etwa die zwischen Arbeitslosigkeit in westlichen Ländern und zunehmender Versklavung von Arbeitskräften, insbesondere von Frauen in armen Ländern, bleiben im Diskurs tabuisiert. Ebenso wird die Zerstörung von Arbeitsplätzen durch globale Kapitalkonzentration hingenommen. Das weitere Setzen auf "Wachstum" hält Afheldt ähnlich wie Derrida für ein Glauben an Wunder (20). Doch dieser Glaube, mehr Wachstum durch geringere Löhne, Zerschlagung des Sozialstaates und Steuerkürzungen für Vielverdiener und Unternehmen, gehört zum Kern des neoliberalen Fundamentalismus, der sich nun einmal nicht rational erschließen läßt. Ihre dämonische Lust, mit der besonders deutsche Sozialdemokraten über den "Versorgerstaat" herfallen und semantische Operationen an historischen Fahnenworten wie "soziale Gerechtigkeit" (Olaf Scholz) vornehmen, macht sie zur Vorhut der "neoliberalen Revolution". Diese Form der "Glücksversicherung und Leidensschutz" (Freud) hat letztlich die weitere Zerstörung der Demokratie zur Folge. In diesem Sinne agieren bereits Männer wie Josef Ackermann. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, die zuletzt Mitte 2003 die Massenentlassung von 8000 Beschäftigten, die überwiegend Frauen sein dürften, ankündigte, hat im Januar 2003 in Frankfurt im Beisein der Bürgermeisterin eine Rede über "Reformen" gehalten: "’Reform’ heißt in Deutschland immer noch ‚Reform innerhalb der bestehenden Strukturen’. Alle Reformkommissionen haben von vornherein diese Vorgabe. Fast ist man versucht zu sagen: Sie haben das Denkverbot Vorschläge außerhalb des bestehenden Systems zu machen." (Ackermann 2003, S.8) Wer hier wo Denkverbote erteilt, bleibt Geraune. Der Feind ist diffus und damit überall. Der Ehrenmann Ackermann, der sich vor Gericht wegen der feindlichen Übernahme des Konzerns Mannesmann und Abfindungen von über 100 Millionen Mark für Vorstandsmitglieder verantworten muß, ruft schließlich zu Folgendem auf: "Wäre es nicht an der Zeit, nach 50 erfolgreichen Jahren Bundesrepublik die Strukturen neu zu entwerfen?" Aus der Phantasie vom "Ruck" ist ein ganz offener Aufruf zum Sturz des bestehenden Rechtstaates geworden. Zum Jahrestag der Bücherverbrennung zündelte der Spiegel auf der Titelseite am Grundgesetz, das er als "Oldie" degradiert (Der Spiegel "Die Verstaubte Verfassung" 12.05.03). Einschlägigen Experten tauchen auf, wie Wolfgang Hoffmann-Riem, ehemaliger Senator der rechten Statt Partei in Hamburg und heute Verfassungsrichter. Er behauptet: "keiner, der sich auskennt, glaubt daran, daß mit dieser Verfassung die schleudernde Industrienation noch zu managen ist." Der Staat des Grundgesetzes, moniert Jürgen Kluge, Deutschland-Chef der Unternehmensberatung McKinsey, sei zum "Sanierungsfall" geworden. "Ineffizient und ungerecht". Wir sehen, die "Reform" - Revolution macht auch vor dem Grundgesetz nicht halt.

Medien fügen sich nicht nur in diese Destruktion der sozialstaatlichen Demokratie, sie profitieren auch davon. Unabhängige Investigation sozialer und politischer Verhältnisse ist im Journalismus nicht mehr "marktgerecht". In neoliberalen Zwangsvorstellungen fehlt der Mensch als soziales Wesen und als Quelle von Solidarität und Gemeinschaft. Der Mensch erscheint im aktuellen sozialpolitischen Diskurs vielmehr als Gauner, als zu disziplinierendes Objekt, das angeblich durch den Sozialstaat unmündig und ineffizient für den Markt geworden ist. Doch wie wir gesehen haben, wird der Diskurs über "Globalisierung" und die Zerstörung des Sozialstaates ebenso wenig souverän geführt wie die Auseinandersetzung mit sexuellen, sozialen und politischen Rechten von Frauen. Der autoritär-angstbeißerischer Ton, der immer mitschwingt, zeigt wie sehr das patriarchale Konzept auseinander bricht. Ohne Frage ist die Zerschlagung des Sozialstaates die bisher umfassendste innenpolitische und soziale Abrechnung mit dem Aufbruch von Frauen in den siebziger Jahre. Die wahnhaften Züge neoliberaler Glaubenssätze lassen sich als "Wahrheit" weltweit politisch nur mit struktureller Gewalt (z.B. Re-Feminisierung der Armut, Fernhalten von Frauen von qualifizierten Arbeitsplätzen und aus der Politik) und mit physischer Gewalt (Angriffskriege, sexuelle und ökonomische Ausbeutung und Versklavung von Frauen) durchsetzen.

Dennoch suchen die Gespenster des Kommunismus bzw. der sozialen und globalen Gerechtigkeit und der Gleichberechtigung die stupid white men immer wieder heim, tagein, tagaus. Die Befreiung der Frauen, d.h. ihr Recht auf gesellschaftliche Teilhabe und ihr weibliches Begehren, voll in der Welt zu sein, sind bereits als Utopie und als teilweise gelebte geschichtliche Erfahrung sedimentiert und eben nicht auszulöschen. Um so ruheloser, aufgeregter und laut-stampfend geraten die Reden und kulturellen Äußerungen des Patriarchats, immer unberechenbarer politische und soziale Taten.

Was können wir also tun? Zunächst einmal bei uns selbst, bei den westlichen Frauen anfangen: In allen Bereichen des Lebens sofort aufhören, einen Schritt hinter ihm zu gehen. Dafür wird es wichtig sein, weiter die neoliberalen Diskurse in Medien und Politik zu dekonstruieren. Zeigt doch unser Nicht-Handeln, wie sehr auch wir Frauen uns der Gehirnwäsche ausgeliefert haben. Das Patriarchat hat zwar seine depravierteste Stufe erreicht. In seiner ganzen Lächerlichkeit entlädt sich jedoch ein ungeheures Gewaltpotential, dem dringend Einhalt geboten werden muß. Ohne ethischen Paradigmenwechsel werden Gegendiskurse und andere Formen politischen Handelns allerdings wenig Erfolg haben. Solidarität muß neu gedacht werden; Neuland für uns alle. Ein positives "Anderes" hat im westlichen Denken ­ die Adaption der Marxschen Lehre eingeschlossen - nie eine Bedeutung gehabt, lediglich als "Reduktion des Anderen auf Dasselbe", wie Emmanuel Lévinas (zit nach Taureck 1997, 40) kritisiert. Patriarchale Identität lebt davon, immer wieder Geschichtslosigkeit zu behaupten und sich zwanghaft vom Anderen abzugrenzen, es/sie/ihn disziplinieren und vernichten zu müssen. Für Lévinas beispielsweise konstituiert sich im Gegensatz dazu das Subjekt überhaupt erst in der Begegnung, durch das Eingehen auf das Andere: "In der Verantwortlichkeit für den anderen Menschen liegt meine Einzigkeit selbst: ich könnte mich ihrer für niemanden entziehen"(zit. nach Taureck, 18). Statt zwanghaft immer weiter die Spur des Anderen (in der Frau, der Sinnlichkeit, der sozial Schwachen, der "Fremden", der "islamistischen Fundamentalisten", der Frau mit "Kopftuch") ausgrenzen und vernichten zu wollen, im Diskurs oder mit psychischer und physischer Gewalt, um unserer eigenen Leere zu entfliehen, könnten wir die von Derrida beschriebenen Gespenster wieder zu unseren historischen Brüdern und Schwestern machen. Doch plädiert Derrida dafür, das Konzept des "Bruders" auch als symbolische Figur neu zu überdenken: Man habe ihm "noch nicht erklärt, warum man an dieser Figur festhält und nicht eher an derjenigen der Schwester, Kusine, Tochter, Gattin des Fremden oder eines Beliebigen, eines beliebigen Jemand, den Vorzug gibt" (Derrida 2003, 86). So könnte die geschichtliche Erfahrung des gewaltfreien weiblichen Begehrens in Politik und im Privaten als positive Energie neu entdeckt werden, für die "kommende Demokratie" (Derrida) globaler Gerechtigkeit.


Literatur

Ackermann, Josef (2003): Vorsitzender des Vorstandes der Deutschen Bank. Rede anläßlich des Neujahrsempfangs 2003 der Stadt Frankfurt.
Adorno, Theodor W. (2003) zitiert nach: Die Dialektik der Aufklärung landet in der Konspiration. Adorno und der 11. September. Von Tita Gaehme.
Agamben, Giorgio (2003): Der Gewahrsam. Ausnahmezustand als Weltordnung, in : FAZ vom 19.4.2003, 33.
Afheldt, Horst (2003): Wirtschaft die arm macht. Vom Sozialstaat zur gespaltenen Geselschaft, München.
Appadurai, Arjun (2001): Grassroots Globalization and the Research Imagination, in: ders. (Hg.): Globalization. Durham, London
Bhabha, Homi (1995): Are You a Man or a Mouse? In: Berger, Maurice/ Wallis, Brian/ Watson, Simon: Constructing Masculinity. New York, 57-68.
Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Gender Studies. Frankfurt a.M.
Connell, R.W. (19959. Masculinities. Berkeley, Los Angeles
Derrida, Jacques (1995) : Marx` Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt a.M.
Derrida, Jacques (2003): Schurken. Frankfurt a.M.
Faludi, Susan (1993): Die Männer schlagen zurück. Reinbek bei Hamburg.
Faludi, Susan (1999): Stiffed. The Betrayal of the American Man. New York.
Freud, Sigmund (1917[1915]): Trauer und Melancholie, in: Sigmund Freud. Studienausgabe. Psychologie des Unbewußten, Bd. III. Frankfurt a.M.
Freud, Sigmund (1923): Das Ich und das Es, in: Sigmund Freud. Studienausgabe. Psychologie des Unbewußten, Bd. III. Frankfurt a.M.
Freud, Sigmund (1930/1929): Das Unbehagen in der Kultur, in: Sigmund Freud. Studienausgabe. Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, Bd. IX. Frankfurt a.M.
Goldstein, Richard (2003 a): Bush's Basket. Why the President Had to Show His Balls, in: Village Voice, May 21 - 27, 2003
Goldstein, Richard (2003 b): The Politics of Groping. A Cure for Schwarzenegger Syndrome: Grab Men Back, October 15 - 21, 2003
Graw, Ansgar (1994): Dekadenz und Kampf. Über den Irrtum der Gewaltlosigkeit, in: Schwilk, Schacht (Hg.), a.a.O., 281-290.
Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg.
Herzog; Roman (1997): Rede bei der Veranstaltung "Berliner Rede” der Partner für Berlin-Gesellschaft im Hotel Adlon (26.April 1997), in: Reden und Interviews. Band 2/2, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn, 523-541.
Huhnke, Brigitta (1996): Macht, Medien und Geschlecht. Opladen
Dieselbe (1997): PC: Das neue Mantra der Remaskulinisierung. In: Cleve, Gabriele/Ruth, Ina/Schulte-Holtey, Ernst/Wichert, Frank: Wissenschaft Macht Politik. Interventionen in aktuelle gesellschaftliche Diskurse. Münster, 315-329.
Dieselbe(1998): Patriarchale Politikvermittlung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Zwei Beispiele: Die mediale Inthronisierung des Bundespräsidenten Roman Herzog und die Vierte Weltfrauenkonferenz im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Pfaffenweiler.
Dieselbe (2003): Geschlecht und Politik im Spiegel der Medien, in: Wiedemann, Dieter, Lauffer, Jürgen (Hrsg): Die medialisierte Gesellschaft. Beiträge zur Rolle der Medien in der Demokratie, 242-265.
Irigaray, Luce (1979): Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin
Klein, Naomi (2002): Thomas, Lyn. 2002. Interview with Naomi Klein, in: Feminist Review, No. 70, 2002, 46-56.
Dieselbe (2003): Free Trade Is War, in: The Nation, September 29,
Nolte, Ernst (1994): Links und Rechts. Über Geschichte und Aktualität einer politischen Alternative, in: Schwilk, Schacht(Hg.), a.a.O., 145-162
Sassen, Saskia (2002): "COUNTERGEOGRAPHIES OF GLOBALIZATION: THE FEMINIZATIONOFSURVIVAL”. Paper presented at the conference on "Gender Budgets, Financial Markets, Financing for Development”, February 19th and 20th 2002, by the Heinrich-Boell Foundation in Berlin.
Schwilk, Heimo; Schacht, Ulrich (Hg.) (1994): Die selbstbewusste Nation: "Anschwellender Bocksgesang und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte. Frankfurt/Berlin.
Strauß, Botho (1981): Paare, Passanten. München
Taureck, Bernhard H.F. (1997) Emmanuel Lévinas zur Einführung.Hamburg.
Zitelmann, Rainer (1994): Position und Begriff. Über eine neue demokratische Rechte, in: Schwilk, Schacht (Hg), a.a.O., 163- 181.

LabourNet Germany Top ^