letzte Änderung am 17. April 2003

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Brigitta Huhnke

Geschlecht und Politik im Spiegel der Medien

Nicht nur in der Berichterstattung der deutschen Medien scheint zu Beginn des neuen Jahrhunderts unter Gender-Gesichtspunkten alles beim Alten zu sein. Auch in den Medien- und Kommunikationswissenschaften wird die Bedeutung von Geschlecht allenfalls als feministischer Sonderwunsch geduldet, als "Anliegen" von Frauen. Tagungen, Symposien, Sammelbände und aktuelle Monographien dokumentieren: Weder theoretisch noch empirisch werden die Ursachen des Ausschlusses weiblicher Lebenswelten aus Medien und Politik ausreichend analysiert. Damit aber bleibt das grundlegendste Demokratiedefizit westlicher Gesellschaften ausgeklammert.

Sowohl in die Strukturen und Kommunikationsformen des politisch-administrativen Systems als auch in die der Medien und der Wissenschaft ist das Geschlecht tief eingeschrieben. In einem scheinbar "selbstreferenziellen" Sinne erzeugen sich diese Strukturen beständig neu, nach historisch tradierten patriarchalischen Mustern. An diesen Schnittstellen der Macht definiert überwiegend ein Geschlecht, was "Wissen" und "Information", "Objektivität" und "Wahrheit", oder auch "gut und böse" sind bzw. was politische "Moral" zu sein hat.

Kaum untersucht ist ferner das Günstlingssystem, das viele Politiker und Medienvertreter untereinander schaffen, um ihre Themen zu steuern. Noch weniger wissen wir darüber, wie diese immer noch überwiegend männlichen Akteure miteinander im Hinblick auf den Ausschluss von Frauen agieren. Hier wird nicht davon ausgegangen, dass diese Handlungen immer die Folge bewusster Entscheidungen sind. Ebenso wenig wissen wir über das Zustandekommen von Inszenierungsstrategien in diesen Milieus, mit deren Hilfe Medienprodukte der politischen Berichterstattung entstehen.

Um letzteren auf die Spur zu kommen, bieten m.E. diskursanalytische Zugänge, wie sie im Kontext dekonstruktiver Leseverfahren entwickelt werden, erfolgversprechende Ansätze, gerade auch, um subtile Botschaften und Strukturen herausarbeiten zu können.

Im Folgenden möchte ich die Aufmerksamkeit auf einige Inszenierungsstrategien politischer Kommunikation lenken: Iteration, Vagheit und Ahistorizität[1]. Die Anwendung dieser "patriarchalen Handwerkszeuge" führt zu einem Automatismus, der Akteurinnen und ihre Lebenswelten strukturell ausgegrenzt.[2]

Exemplarisch soll dies anhand von Globalisierungsmythen gezeigt werden, die seit den neunziger Jahren die deregulierten Medienlandschaften durchziehen. Die patriarchalste aller Erzählungen aber liefert der Krieg. Was haben wir Ende des Jahres 2001 im Zuge der Berichterstattung über die terroristischen Verbrechen in New York und den Krieg gegen Afghanistan in den ersten Wochen nach dem 11. September über betroffene Frauen erfahren?

Maskulinismus als "prothetische Realität"

Trotz Gleichberechtigungsgebot: Weder im politisch-administrativen System noch in der Wissenschaft oder in den Medien verfügen Frauen angemessen über Sitz, Stimme und Ressourcen. Auch leicht erhöhte Frauenanteile können nicht darüber hinwegtäuschen: An den Schaltstellen der Macht nehmen Frauen allenfalls den Status geduldeter Grenzgängerinnen ein. Nur ein Frauenanteil von mindestens vierzig Prozent auf allen Hierarchieebenen in Politik, Ökonomie, Medien und Kultur könnte jedoch eine wirkliche Umformung in geschlechtergerechte Verhältnisse garantieren.

Wie George L. Mosse in seinen Studien über den Maskulinismus herausgearbeitet hat, müssen wir für die Analyse der Geschlechterverhältnisse die historische Dimension unbedingt einbeziehen. Die "Dauerhaftigkeit des maskulinen Ideals" (Mosse 1997: 20), das immer als Konfrontation gegen das Weibliche bzw. auch gegen das "Andere", d.h. den oder die Fremde definiert war, ist bis heute wichtigster Garant der gesamten Moderne. Mit der Schaffung eines "Anti-Typus" (Mosse 1997: 22), der für alle Maskulinitätskonzepte grundlegend ist, verbindet sich ein geradezu reflexhaftes Verlangen nach bipolarer Aufspaltung der Welt, um ein mehr oder minder eindeutig "Gutes" von einem eindeutig zu identifizierenden "Bösen" unterscheiden zu können. Psychoanalytisch gesehen bewahrt sich das Individuum so davor, in Auseinandersetzung mit den eigenen Widersprüchen zu treten. "Dieser Akt der Projektion schützt das Selbst vor jedweder Konfrontation mit den der notwendigen Integration der ‚positiven‘ und ‚negativen‘ Aspekte des Selbst innewohnenden Widersprüchen." (Gilman 1992: 9f.). Diese mangelnde Selbstintegration hat kollektive Dimensionen und bietet ganz allgemein einen fruchtbaren Nährboden für Stereotype und Ausgrenzungsphantasien. Der Grad der Aggression, mit dem diese inszeniert werden, lässt wiederum sowohl Rückschlüsse auf die psychische Konstitution derer zu, die diese Art von Erzählungen über das Andere verbreiten, als auch auf die, die sie konsumieren (vgl. Mosse 1997: 11). Zu Recht wundert sich Mosse, warum genau diese Konstrukte bis heute aus Geschichtsschreibung und Sozialforschung weitgehend ausgeblendet bleiben (vgl. Mosse 1997: 9). Besonders in der Medienforschung spielt diese Perspektive keine Rolle.

Frauen geraten in der öffentlichen Kommunikation zu Objekten der Belehrung, der Regulierung und Disziplinierung[3] oder sie fallen dem "Vergessen" anheim, d.h. über das gesellschaftliche Handeln von Frauen wird in der Regel nicht berichtet. Doch auch das Niedergehaltene spukt als das "Unheimliche" zwischen persönlicher und kollektiver Geschichte weiter, wie Homi Bhabha ganz allgemein behauptet: "Das Unheimliche ist das verbindende Element zwischen den traumatischen Ambivalenzen einer persönlichen, psychischen Geschichte und den umfassenden Brüchen der politischen Existenz." (Bhabha 2000: 16).

Die Ausgrenzung von Frauen findet also keineswegs als souveräner Akt statt. Vielmehr kann folgendes angenommen werden: Ängste und Aggressionen sind bei vielen männlichen Akteuren am Werk, um "einen Mangel im Sein auszuschließen" (Bhabha 1995: 57). Diesen Zustand des Maskulinismus beschreibt Homi Bhabha als "prothetische Realität". Auch wenn immer mehr Männer merken, wie schwer sie dieses symbolische System von Männlichkeit aufrechterhalten können, folgt daraus keineswegs kollektive Einkehr. Zuviel steht auf dem Spiel, nicht zuletzt handfeste materielle Privilegien.

Um die historisch gewachsenen Herrschaftsverhältnisse zwischen den Geschlechtern weiter zu negieren und dadurch aufrecht zu erhalten, bedarf es nicht nur immer neuer Formen struktureller und physischer Gewalt gegen das "Andere". Auch müssen in öffentliche Erzählungen immer wieder alte und neue "Schutzdichtungen" (Bronfen 2000, XIIf.) über das "Gute" und das "Böse", über das Auf- und das Abzuwertende eingespeist werden. Durch fortwährende Wiederholung wird eine Naturhaftigkeit der Verhältnisse behauptet. So findet eine Verschmelzung der Inhalte mit dem Unbewussten statt, bis diese Erzählungen selbst zum Unbewussten werden (vgl. Cornell 1997: 152).

Nun kann mit Recht eingewendet werden, gerade in den achtziger und frühen neunziger Jahren seien Frauen durchaus – zumindest am Rande – in den Blickwinkel politischer Berichterstattung gelangt. Das ist richtig und von mir in einer Längsschnittstudie auch dokumentiert worden. Dennoch: Diese zeitweise höhere und häufig wohlwollendere Aufmerksamkeit in der politischen Kommunikation hat kaum strukturelle Veränderungen nach sich gezogen. Auch in Teilen der liberalen Presse kamen Frauen und ihre politischen Themen nur dann auf die Agenda, wenn diese Themen anhand der Nachrichtenfaktoren Sensation, Prominenz und Negativismus aufbereitet werden konnten. Begehrt war die erste Feuerwehrfrau, die erste obere Richterin, die erste Universitätspräsidentin, also die Frau, die sich in der Männerwelt erfolgreich behauptet, ohne diese in ihren Grundfesten zu erschüttern. Als Sensation, als Ausnahme war sie willkommen. Auch die ersten feministischen Studien hatten in den achtziger Jahren eine gewisse Chance, als Berichtsanlass wahrgenommen zu werden, konnte diesen doch häufig etwas "Kurioses" abgewonnen werden, das sich als Lesestoff eignete. Aber schon Themen wie "Gleichstellungsgesetze" – obwohl nicht eines davon je die Durchsetzung wirklicher Gleichstellung konkret angestrebt hat – trafen auf irrationale Ängste und entsprechende Formen aggressiver Berichterstattung. Und die "Quotierung" gar brachte viele bedrängte Männerseelen um den Schlaf, obwohl auch dieses Modell politischer Steuerung in keinem gesellschaftlichen Bereich, in keiner Behörde, in keiner Partei bislang wirklich umgesetzt worden ist (vgl. Huhnke 1996a). Seit den frühen neunziger Jahren begegnen wir in Medieninszenierungen häufig "Feministinnen", die als Agentinnen der sogenannten "politischen Korrektheit" diffamiert werden.

Bisher jedoch kaum in den medialen und leider ebenfalls zu wenig in den feministischen Blick geraten ist folgendes: das Verursacherprinzip und damit die volkswirtschaftlichen, ökologischen, moralischen und kulturellen Schäden, die männerbündische Strukturen Tag für Tag weltweit in jedem Land, jeder Kommune, in jedem Politikfeld, in jedem Büro, in jedem Ghetto und Armutsgürtel anrichten.

Genau diese globalen Verhältnisse waren 1995 in Beijing auf der Weltfrauenkonferenz und mehr noch auf dem begleitenden Forum der Nichtregierungsorganisationen NGO Thema. Obwohl dies die bis heute in der Weltgeschichte größte Menschenrechtskonferenz war, reichte nicht einmal dieser Superlativ aus, um politische Redaktionen zu einer auch nur annähernd angemessenen Berichterstattung zu bewegen (Huhnke 1996b). Ungewohnt intensive Recherchen wären notwendig gewesen. Stattdessen blieb das in Bejing thematisierte "Vergessene" durch Inszenierungen anderer Geschichten weiter aus der medialen Öffentlichkeit abgedrängt. Zu den damaligen "Schutzdichtungen" gehörte die Thematisierung des undemokratischen Verhaltens der chinesischen Machthaber, die zu dem Zeitpunkt allerdings weder neue noch außergewöhnliche Züge trug. Doch diese Agenda zu wiederholen, machte "Sinn". Mit Hilfe eines vertrauten außenpolitischen Feindbildrasters konnten Medien ohne großen journalistischen Aufwand Ersatzerzählungen inszenieren (Huhnke 1998).

Patriarchale Globalisierungsmythen

Während seit Mitte der neunziger Jahren die Geschlechterfrage im politischen Raum sowie in Zeitungen und im Rundfunk auch als "Randthema" wieder verdrängt wird, begleitet seit den frühen neunziger Jahren die Suche nach immer neuen Sensationen sowohl in Unterhaltungssegmenten als auch in politischen Medienerzählungen ein manischer Kick, der in der politischen Berichterstattung mit dem Medienhype "Globalisierung" seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. Zu deren prominentesten Zeremonienmeistern gehörte in den neunziger Jahren der damalige Bundespräsident Roman Herzog. Er verkündete 1997 in seiner "Ruck"-Rede vor Wirtschaftsführern im Hotel Adlon in Berlin: "In Amerika und Asien werden die Produktzyklen immer kürzer, das Tempo der Veränderung immer größer. Es geht auch nicht nur um technische Innovation und um die Fähigkeit, Forschungsergebnisse schneller in neue Produkte umzusetzen. Es geht um nichts Geringeres als um eine neue industrielle Revolution, um die Entwicklung zu einer neuen, globalen Gesellschaft des Informationszeitalters. Der Vergleich mit Amerika und seinem leergefegten Arbeitsmarkt zeigt: Deutschland droht tatsächlich zurückzufallen."(Herzog 1997: 524f.)

Tempo, Technik und Konkurrenz, für diese einfältigen Mantren lobten die Medien Herzog lautstark, noch bis in das Jahr 2001 hinein. Natürlich kann er in der gesamten Rede seine gesehenen Wunder nirgendwo belegen. Er gibt sich nicht einmal die Mühe zu definieren, was er beispielsweise unter "globaler Gesellschaft des Informationszeitalters" versteht. Doch nahezu gleichgeschaltet reagierten die Mainstream-Medien. Sie überschlugen sich im Lob, trotz anderer empirischer Realitäten (Huhnke 1998).

Die Rede war noch nicht einmal gehalten, da musste der ökonomische Massenzusammenbruch in vielen asiatischen Regionen zur Kenntnis genommen werden. Auch die sklavenähnlichen Arbeitsverhältnisse als Folge brutaler Ausbeutung durch transnationale Konzerne, denen besonders Frauen unterworfen sind, waren zu dem Zeitpunkt bereits in kritischen Studien beschrieben worden. Dennoch, Herzog ruft "die wirtschaftliche, technische und politische Herausforderung der Globalisierung" im Irgendwo an und bekommt Beifall nicht nur von einer eingeschworenen Gemeinschaft von Wirtschaftsführern im Hotel Adlon, die diese Codeworte als Appellation an paradiesische Zustände für das Kapital wohl zu deuten wussten.

Mit Versuchen, diesen Widerspruch "argumentativ" klären zu wollen, kommen wir hier kaum weiter. Jacques Derrida erklärt dieses Phänomen folgendermaßen: "Einerseits braucht das Evangelium des politisch-ökonomischen Liberalismus das Ereignis der guten Nachricht, die in dem besteht, was wirklich passiert ist (was insbesondere am Ende dieses Jahrhunderts passiert ist, nämlich der angebliche Tod des Marxismus und die angebliche Verwirklichung des Staats der liberalen Demokratie). Es kann auf den Rekurs auf das Ereignis nicht verzichten. Da aber andererseits die wirkliche Geschichte und so viele andere, anscheinend empirische Realitäten dieser Ankunft der vollendeten liberalen Demokratie widersprechen, muß diese Vollendung gleichzeitig als bloßes regulatives und überhistorisches Ideal hingestellt werden." (Derrida 1995: 106) Wir haben es also mit inszenierten, mit "prothetischen Realitäten" zu tun.

Auch Herzog und andere Jünger sind 1997 noch aufgeputscht von diesem Evangelium, vom Sieg im heiligen Feldzug gegen den Sozialismus. So gerät völlig aus dem Blick, wie Herzog reale und historische Kontexte meidet. Der Staatsmann wählt stattdessen einen religiösen Bezugspunkt: die Schuld. Die sucht er im Verhalten der Bevölkerung allgemein und adressiert im Subtext besonders Frauen. So denunziert er "staatliche Vorsorge", die "Maximierung von Sozialtransfers", Leistungen des Sozialstaates also, die in den siebziger und frühen achtziger Jahren auch Frauen zugute gekommen sind. Die Menschen sollen sich "an den Gedanken gewöhnen ..., später einmal in zwei, drei oder sogar vier verschiedenen Berufen zu arbeiten." (Herzog 1997: 531). Dem "Arbeitsplatzbesitzer" – womit er Arbeitnehmer/innen meint, die sich nicht mit Forderungen nach gerechtem Lohn und Arbeitsplatzsicherheit zurückhalten – droht er: "Statt Lebens-Arbeitsplätzen wird es mehr Mobilität und mehr Flexibilität geben" (Herzog 1997: 532). Die Kraft der Suggestion, die religiöse Botschaft verführt das Denken, haucht dem Sprachverhau beim Konsumenten "Sinn" ein (vgl. Huhnke 1998).

Die "Globalisierung" hat noch viele andere Begleiter im Gefolge, die ebenso lautprächtig daher traben. Ein Teil davon stammt aus dem Sprachgebrauch der siebziger Jahre, taucht nun aber in völlig neuen Konnotationsfeldern auf. Ein weiterer besteht aus Neologismen. Die Grenzen zu Euphemismen sind dabei jeweils fließend. Diese Diskurstaktik ist keineswegs neu: In den USA betreibt die politische Rechte seit Mitte der achtziger Jahre eine systematische Aneignung der Sprache der Linken bzw. Liberalen. In ihren Konzepten tauchen zunehmend Begriffe wie "freedom", "revolution", und "radical" auf (Brennan 1997). Das Wort "liberal", früher eine Selbstbezeichnung innerhalb der Bürgerrechtsbewegungen und in der Demokratischen Partei, hat in den USA mittlerweile den Rang eines Schimpfwortes: "liberal" gleich links, gleich kommunistenfreundlich. Die Diskursstrategie ist denkbar einfach: Man(n) nehme eines dieser Schlüsselwörter, das wie alle Begriffe nie einen wirklich reinen Bedeutungsursprung hatte, setze es in einen gegenüber dem Gewohnten leicht verschobenen Kontext und fahre fort mit Verschiebung und Wiederholung. Die permanenten Konnotationsverschiebungen, losgelöst vom historischen Kontext, gebettet in vage Inhaltsbezüge, können so Konfusion und Ambivalenz erzeugen. Re-Deskriptionen, die Vereinnahmung der Sprache des Widerstandes mit bestimmten historischen Werten und deren Umdeutung, beispielsweise in "republikanische Revolution", sind also die Folge. Sowohl in den USA als auch in anderen westlichen Ländern, Deutschland eingeschlossen, ist diese Taktik besonders diskursmächtig mit dem Begriff "political correctness" gelungen. Anhand der Wortgeschichte dieses Medienhypes lässt sich dokumentieren, wie Rechtskonservative in den USA und in der Bundesrepublik die Verunglimpfung demokratischer Rechte, insbesondere die von Frauen und Minderheiten, in den neunziger Jahren systematisch und strategisch betrieben haben. Im deutschen Sprachraum werden diese "Feinde" seit den neunziger Jahren alternativ auch gern als "Gutmenschen" geoutet (vgl. Huhnke 1997; 1999).

Im deutschen Sprachraum fanden Re-Deskriptionen zusätzlich mit Hilfe von Begriffen aus der Fitness- und Gesundheitswelle der siebziger und achtziger Jahre statt. Die tauchen dann häufig im Mix mit Bestandteilen des Selbsterfahrungs- und Esoterikjargons auf: "fit" und "schlank", so soll es zugehen, mit Menschen, die auf "Selbstheilungskräfte" der "Globalisierung" bauen. Wer wollte dabei nicht mitmachen? Aus dem politischen Aufbruchsliberalismus stammen "flexibel" sowie die "Reform" oder auch die Vorstellung von "Teamwork". Herausgelöst aus ursprünglichen Kontexten der Macht- und Herrschaftskritik, wie beispielsweise das "selbstverantwortliche Handeln" oder das "lebenslange Lernen", deren Wurzeln in der Reformpädagogik sowie in der Bewegung für den Zweiten Bildungsweg liegen, wurden die Konnotationsfelder dieser Begriffe umgedeutet, indem sie immer wieder in neoliberalen Prophezeiungen erscheinen, ausgeschmückt mit typischen Erzählungen. Vom Gleichheitsanspruch im Sinne emanzipatorischer und sozialstaatlicher Vorstellungen, die ursprünglich mit diesen Begriffen konnotiert waren, blieb in den neunziger Jahren wenig übrig. Im Gegenteil: "Gleichheit" wird nun als "Gleichmacherei", als "Modernisierungsbremse" diffamiert. "Flexibilisierung" bedeutet heute, allzeit und überall für Unternehmen bereit zu sein. "Reform" meint im neuen Konnotationsumfeld nichts weiter als Sozialabbau.

In diesem Sinne forderte Herzog in seiner paradigmatischen Rede von 1997 im evangelikalen Ton: "Ich rufe auf zur inneren Erneuerung! Vor uns liegt ein langer Weg der Reformen." (Herzog 1997: 533) Was in der Rede dann folgt, ist der Musterkatalog neoliberaler Wunschvorstellungen, vom Abbau von Arbeitsplätzen bis hin zum Aushebeln von Tarifverträgen, der Einführung von Niedriglöhnen, Abbau von Sozialleistungen, Privatisierung von Rentenansprüchen, dem Abbau der allgemeinen Schulbildung zugunsten von Eliteausbildungen. In diesem Kontext entstand in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre viel modischer Sprachputz, wie "die Reform der sozialen Sicherungssysteme", womit nicht nur konservative Politiker ihre Parolen schmücken.

Nicht nur der Sozialstaat, auch die Förderung von Kultur und Bildung besonders in den siebziger Jahren, die Globalisierungsritter nun verunglimpfen, sind symbolisch eher weiblich codiert. Zwar konnten Frauen selbst in den siebziger Jahren wenig mehr als kompensatorische Möglichkeiten nutzen, doch hat diese damalige "Bildungsoffensive" zumindest vielen Frauen der Mittelschicht soziale Sicherheit durch qualifizierte Ausbildungen ermöglicht und damit eine wachsende Unabhängigkeit vom "Lebensmodell Ehe" gefördert.

Heute hingegen werden die neuen Helden der Remaskulinisierung gefeiert. Dazu die Politologin Eva Kreisky: "Das Zeitalter ökonomischer Globalisierung ist nicht nur ein manisch vorantreibendes, sondern stilisiert sich auch als ein männlich-heroisches." (Kreisky 2001: 155) Um diese postmodernen Cowboys der "New Economy" ranken sich die wundersamsten Medienerzählungen. Überall sind die smarten Cyberheros am Werk. Ihre Selbstausbeutung gilt als Tugend, ihre Suchtstruktur wird verklärt. Was in diesen Geschichten nicht vorkommt: Sie kennen keine Tarifverträge, keine Familien, Frauen nur in der Unterordnung.

Die Medienerzählungen über diese neuen Helden schöpfen zudem aus den Phantasmagorien, die sich um die semantischen Kaskaden "Informationsgesellschaft" bzw. Dienstleistungs- oder "Wissensgesellschaft" ranken. Auch andere Phrasen, insbesondere anglophile Manierismen wie "E-Commerce", oder "IT-Branche", können ganz offensichtlich ihre Sprengkraft in patriarchalen Innenwelten entfalten. Die wundersamen Glücksversprechen der Medien-Geschichten schaffen Glauben, der anscheinend auch nicht angefochten wird durch gefälschte Bilanzen solcher Firmen, wie sie in letzter Zeit gehäuft zutage getreten sind. Vorläufiger Höhepunkt am Anfang des 21. Jahrhunderts: massenhysterische Aktionen an den Aktienmärkten, vorrangig von Männern für Männer, Lobpreisungen auf das Internet versprachen ebenfalls Erweiterungen des (männlichen) Seins.

Wie jedoch jenseits religiöser Erweckungswünsche voraus zu sehen war, entpuppten sich auch die internationalen Börsenplätze spätesten im Jahr 2000 als Orte der spektakulärsten Firmenflops in Europa, Japan und den USA. Erwartungsgemäß brachen die Aktienmärkte ein. Während sich jedoch viele dot.com Firmen auflösen, bleibt der Markt für Pornographie – sexuelle Gewalt an Kindern eingeschlossen – ein profitintensives und expansives Medien-Segment im Web.

Die Börsenkräche brachten jedoch süchtige Medienarbeiter und ihre Konsumenten nicht zum Innehalten, um beispielsweise die Funktionsweisen der Aktienmärkte, vielleicht auch den Kapitalismus als Ganzes mit Methoden journalistischer Recherche zu demystifizieren. Die Anbetung des Marktes bleibt unverzichtbarer Pfeiler "prothetischer Realität". Seine Naturhaftigkeit wird weiter behauptet. Notfalls muss wieder die alte Metapher von der "unsichtbaren Hand" (Adam Smith) herhalten, um den Glauben an die Geschichtslosigkeit ökonomischer Prozesse zu stärken. Die Analogie zur Pornographie drängt sich auf. Dieses Marktsegment hat ebenso hohe Zuwachsraten, wie der globale Handel mit Frauen und Kindern erschreckende Ausmaße angenommen hat. Neben der Lust an der Gewalt scheint auch eine permanente Illusion kaufanregend zu wirken, die Vorstellung, sich selbst erleben zu können, indem ein anderer Körper durch temporären Kauf erniedrigt wird. Ist die Forscherin frei von eigener Opferhaltung, dann erkennt sie in solchen Produkten aber auch die Lächerlichkeit, die patriarchale Angstlust. Wie bei der stofflichen Sucht tritt im Anrufen der Märkte oder in patriarchalen Sexualitätsvorstellungen der Zwang zur Iteration zutage, bei gleichzeitig verminderter intellektueller und psychischer Fähigkeit, die Verhältnisse wirklich durchdringen und in ihnen selbstbestimmt handeln zu können.

Mediale Inszenierungen verdrängen die sexuelle Ausbeutung nicht nur, sondern sie liefern auch Mythen zu ihrer Rechtfertigung. Der Anrufung der "Natur des Marktes" entspricht in diesem Bereich die "Natur des Mannes", gefolgt von Klischees wie dem vom "ältesten Gewerbe der Welt". Die Erfüllung sexueller und ökonomischer Versprechen wird durch permanente semantische und visuelle Dampfhämmer suggeriert, sie verheißen für viele Lebensbereiche Erlösung, Erlösung durch immer schöneres Kaufen, ob nun von Aktie, Ware oder Mensch. Immer wagemutigeres Gewinnen scheint zum Greifen nah. Medien werden zu gigantischen Umschlagplätzen für Globalisierungsmythen in der Endlosschleife. Vordergründig als Aufklärung daher kommend, üben diese Botschaften Empfindungen über Lust, Frust und Ängste gleichermaßen ein.

In diesen magischen Praktiken der Beschwörung sehen Jean Comaroff und John L. Comaroff (2001) einen "okkulten Kapitalismus" am Werk. Die Grenzen zwischen Realitäten und phantasierten Welten dieser "white male paranoia", die keinesfalls nur in grotesker Weise im Privatfernsehen und in der bunten Illustriertenwelt toben, sind fließend. Und die okkulte Gemeinschaft braucht das eindeutige "Böse", das gebannt werden muss.

Derrida borgt sich zur Erklärung des allgemeinen Phänomens von Karl Marx die historische Metapher der "Gespensterjagd", die dieser wiederum bei Shakespeare gefunden hat: "Die Beschwörung wiederholt sich und wird ritualisiert, sie hält auf Zauberformeln und hält sich an Zauberformeln, wie jede animistische Magie es will. Immer wieder intoniert sie die alte Leier und den Refrain. Im Rhythmus des Gleichschritts ruft sie: Marx ist tot, der Kommunismus ist tot, ganz und gar tot, mit seinen Hoffnungen, seinem Diskurs, seinen Theorien und seinen Praktiken, es lebe der Kapitalismus, es lebe der Markt, es überlebe der ökonomische und politische Liberalismus!" (Derrida 1995: 89)

Doch mediale Beschwörungen führen durchaus zu profitablen Erfolgen. Nach der Öl- und der Autoindustrie landeten die Medienkonzerne im Bund der Führer global agierender Oligopole bis Ende der neunziger Jahren auf Platz drei: die Trans National Media Corporations (TNMC), die internationalen Medienkonzerne. Weniger als zehn davon, jeweils vernetzt mit vier bis fünf Dutzend Unterfirmen, welche regionale Programme und Spartendienste versorgen, regelten im Jahr 2000 den weltweiten Markt. Noch 1983 war die ökonomische Macht der Medien auf 50 Konzerne verteilt, die überwiegend national organisiert agierten. In seinem wissenschaftlichen Bestseller "Rich Media, Poor Democracy" belegt Robert W. McChesney umfassend, wie einige wenige Superkonzerne, zu denen AOL und Time Warner, Walt Disney, News Corporation, aber auch die Bertelsmann AG gehören, den weltweiten Markt in den neunziger Jahren wie eine Provinz unter sich aufgeteilt haben. Regierungen vieler Länder standen dabei beflissen zur Seite, halfen mit Gesetzen, Regulierungen und Subventionen nach, flankiert von Entscheidungen zwischenstaatlicher Organisationen wie GATT und NAFTA (vgl. McChesney 2000: xxii; 82).

Das international agierende Mediensystem ist nicht nur Resultat transnational agierender Märkte, sondern zugleich auch ein wichtiger Garant für den Erhalt und Ausbau weiterer ökonomischer Interessen: So wären beispielsweise die in den neunziger Jahren gestiegenen Profite aus Werbung und dem Vertrieb von Dienstleistungen und Waren ohne diese neuen, global agierenden Medienkonzerne nicht möglich gewesen.

Die TNMCs wachsen heute schneller als die übrige globale Ökonomie. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 2000 belief sich die Summe von Firmenzusammenschlüssen international agierender Medienkonzerne, Internet und Telekommunikation eingeschlossen, auf 300 Milliarden Dollar. Das ist eine Verdreifachung im Vergleich zu den ersten sechs Monaten des Jahres 1999 (vgl. McChesney 2001: 3).

McChesney zeigt ferner, welche entscheidende politische Rolle das "globalisierte" Mediensystem in "neoliberalen Demokratien" spielt. In diesen Ländern besteht zwar nach wie vor das formale Recht zu wählen. Jedoch verlieren nationale Entscheidungsprozesse, wie sie traditionell etwa in Parlamenten getroffen werden, zunehmend an Bedeutung, da sich politische und ökonomische Macht in immer weniger Händen konzentriert und sich zunehmend nationaler Zugriffe entzieht.

Der neoliberalen Logik in den Medienbetrieben, der täglichen Jagd nach Auflagensteigerung und Einschaltquoten, beugen sich in vielen westlichen Ländern ohne Not auch staatliche, d.h. öffentlich-rechtlich finanzierte Rundfunksender. Das Resultat: Qualitätsverfall durchzieht auch hier alle Bereiche, besonders jedoch die politischen und kulturellen Informationssegmente. Aus dieser, ebenfalls global zu beobachtenden, Entwicklung schlussfolgert McChesney: "Die Kombination von Neoliberalismus und der Corporate Media Culture führt dazu, eine tiefe und nachhaltige Entpolitisierung zu fördern." (McChesney 2000: 15) Die Auswirkungen auf demokratische Strukturen sind bereits heute verheerend. Sie fördern beispielsweise in den Bevölkerungen das, was leichthin mit dem Schlagwort "Politikverdrossenheit" bezeichnet wird.

Der Krieg als patriarchale Meistererzählung

Profitintensive Höhepunkte medialer Inszenierungen liefern moderne Kriege, auch oder gerade, weil staatliche Zensur in solchen Krisenzeiten für einen eingeschränkten Deutungskontext sorgt.

Deutsche Medien waren bereits in Hochform, als die Terrorakte am 11. September 2001 das World Trade Center in Schutt und Asche legten und etwa 3.000 Menschen dabei ums Leben kamen. Eine neue Stufe in der Hysterisierung der Polit-Berichterstattung war wenige Wochen zuvor bereits erklommen worden. Wir erinnern uns: Bunte und Gala, diese beiden Wochenblätter für Prominententratsch, hatten sich im Sommer 2001 auf das Feld der Politik gewagt und reißerisch die Flug- und Badeeskapaden des damaligen Verteidigungsministers Rudolf Scharping inszeniert. Alle zogen mit, nicht nur die üblichen Fachblätter des Kampagnenjournalismus wie das Boulevardblatt Bild oder die Nachrichtenillustrierten Spiegel und Focus. Im Handumdrehen warfen sich auch politische Tageszeitungen in das bunte Treiben. Die Spaßgeschichte des Spätsommerlochs 2001 geriet auch auf die Agenda politischer Sendungen des öffentlich- rechtlichen Rundfunks. Nicht einmal die Hörerin des Deutschlandfunks blieb davon verschont. Die ARD überraschte mit dieser Themenübernahme jedoch nicht. Den ARD-Tagesthemen war bereits ein paar Monate zuvor der Maßstab völlig abhanden gekommen: Ein angeblich kokainsüchtiger Fußballtrainer war zum Nachrichtenaufmacher geworden. In diesem Tribut an die Spaßgesellschaft hatte die ARD-aktuell-Redaktion sogar auf das einzig politisch Interessante und nachrichtlich verwertbare dieses Falles verzichtet. Dieses Vorbild deutscher Männer war mehrfach mit rassistischen Sprüchen an die Öffentlichkeit getreten. Das jedoch weckte keine gesteigerte journalistische Neugier, obwohl die Zunahme des Rechtsextremismus zu den dringendsten Problemen der deutschen Gesellschaft gehört.

Zurück zum 11. September. Kurz vor 15 Uhr mitteleuropäischer Orts- und Sommerzeit war es mit dem Hype der "Scharping-Affäre" schlagartig vorbei, entsprechend der journalistischen Maxime: "Was interessiert uns die Sau, die wir gestern durchs Dorf gejagt haben". Einziger Grund: das terroristische Verbrechen und die brennenden Tower des World Trade Centers.

Was nun einsetzte, kam m.E. einem Quantensprung medialer Obszönität gleich. Der "Terror der Hysterie" (Günter Gaus, Freitag, 16.11.01, S. 1) nahm seinen Lauf. Die Gier auf Scharpings Badefreuden wurde auf die Bilder vom brennenden WTC umgelenkt. Keine Tageszeitung verzichtete auf die brennenden Türme auf der Titelseite. Über Tage und Wochen hinweg war auf allen Fernsehkanälen immer wieder die eine Sequenz zu sehen: Anflug der Verkehrsmaschinen, brennende Türme, verzweifelte Menschen, die aus den Fenstern springen, Menschenteile, dann der endgültige Zusammenbruch der Türme. Dem realen Mord folgte die symbolische Missachtung menschlicher Würde noch im Tod durch die Kameras. Journalisten ließen sich damit auf die Dramaturgie und Inszenierung der Terroristen ein. Dieser Wiederholungszwang bleibt bis heute völlig unreflektiert. Im Journalismus fehlen ethische Verbindlichkeiten.

Zum Wert des einzelnen Menschen schreibt Jacques Derrida: "Niemals aber sollte man von der Ermordung eines Menschen wie von einer Figur sprechen, noch nicht einmal wie von einer exemplarischen Figur in einer Logik des Emblems, einer Rhetorik der Fahne oder des Martyriums. Das Leben eines Menschen, so einzigartig wie sein Tod." (Derrida 1995: 7) Für ethische Überlegungen, ob vielleicht ein Bilderverbot angemessen gewesen wäre, war jedoch kein Raum. Die zerfetzten Körperteile wurden zur bloßen Staffage. Auf Kosten der Opfer wurde Quote und Auflage gemacht. Das alles mischte sich mit dem peinlichen Gestus, den Günter Gaus als "journalistisch-agitatorische Ritualisierung des Erschüttertseins" kritisiert (ebd.). Einzig die Musiksender MTV und Viva reagierten, zeigten mit weitgehend schwarzen Bildschirmen für einige Tage Anteilnahme.

Bereits am Abend des 11. September übernahmen auch deutsche Medien mehrheitlich die Deutungsmuster der US-Regierung. Das Verbrechen hatte George W. Bush kurzerhand zum "Krieg gegen Amerika" erklärt, die Toten waren lediglich sein Unterpfand. Mit der Einsatz des Krieg als "Vater aller Dinge" standen die vertrautesten aller Feindbilder zur Verfügung: Gut und Böse, Westen gegen Orient, Zivilisation gegen Barbarei: Erzählstoffe, aus denen Stereotype entstehen oder bekräftigen, die nichts als Hass fördern. Das "Böse" hatte innerhalb von Stunden einen Namen: Osama bin Laden. Wenig später kamen die afghanischen Taliban dazu, die über Jahre hinweg von den USA unterstützt worden waren. Und nach nur wenigen Tagen stand auch für westliche Politiker in Europa die Liste der Schurkenstaaten fest: Irak, Somalia und Sudan. George W. Busch, dessen Familie mit dem Bin Laden-Clan Jahre zuvor gute Geschäfte gemacht hatte, gab nun die Anordnung, Reden des Feindes nicht zu senden oder zu dokumentieren. Dem leisteten auch deutsche Medien bedenkenlos Folge. Ausreichende Beweise legte die Bush-Administration nie vor, ein Untersuchungsausschuss wurde verweigert. Der amerikanische Politologe Norman Birnbaum beschreibt die innenpolitische Situation in den USA nach dem Terrorangriff: "Unbestimmte, aber alles durchdringende Angst, ein verzweifeltes, nein, obsessives Pochen auf nationale Solidarität und eine fast totale Bereitschaft, amtlichen Anweisungen Folge zu leisten, prägen die Geistesverfassung der Nation." (Frankfurter Rundschau, 3.11.01, S. 16). Die Gesellschaft habe sich in eine Art Kirche verwandelt, in der der Präsident als "Pontifex Maximus" auftrete, der die religiöse Lehre und die heilige Nation feiere. Die "Eschatologie gilt dem puren Heute" (taz, 25.10.01, S.3), schreibt Birnbaum weiter und übt zudem scharfe Kritik an den Medien: "Die Medien, ignorant, flach und unkritisch, tragen beträchtliche Mitverantwortung" (FR ebd.).[4]

Kritische Distanz übten auch deutsche Medien kaum. Die neue Situation schien wenig zur journalistischen Recherche zu reizen. Stattdessen durchzog das Mantra von der "uneingeschränkten Solidarität mit den USA" schnell den öffentlichen Diskurs. Und wie immer in Kriegszeiten drängte sich physisch überaus sichtbar ein Geschlecht nach vorn: An allen politischen und medialen Frontlinien waren fast ausschließlich nur noch Männer zu sehen und zu hören. Fazit: "Niemand weiß genaues – aber alle schreiben und reden darüber" (FR, 11.10.2001, S. 23), so ehrlich war immerhin der Korrespondent der Frankfurter Rundschau, allerdings erst vier Wochen nach den Terrorattacken.

Viele der im WTC ermordeten Menschen waren weiblich, nicht-weißer Hautfarbe, und ein beträchtlicher Teil soll auch muslimischen Glaubens gewesen sein. Die genaue Zahl der Toten wird nie zu ermitteln sein, da viele Menschen, die zum Zeitpunkt des Angriffs im WTC ohne Pass waren und wahrscheinlich Hilfsarbeiten, wie z.B. im Reinigungsdienst verrichtet hatten, auf den Opferlisten nie dokumentiert wurden. Doch statt Recherchen in dieser Richtung anzustellen, die zugegeben einigen Arbeitsaufwand erfordert hätten, zogen in deutsche Wohnzimmer andere Helden ein: Tote und lebendige weiße Feuerwehrmänner aus New York City sowie die ganzen Kerle des NYPD (New York Police Department). Nicht nur diese inszenierten die Medien zu Lichtgestalten im Krieg der Nation gegen islamische Schurken.

Zu einer Art Volkstribun kürten auch deutsche Medien den damaligen Bürgermeister Rudolphy Giuliani. Dieser Mann hatte während seiner Amtszeit nicht nur die Verschuldung der Stadt New York in unverantwortlicher Weise vorangetrieben und mit seinen privaten Eskapaden – wie dem öffentlichen Inszenieren seines Ehebruchs – von sich reden gemacht. Schwerwiegender für das demokratische Leben in der Stadt bleiben die Folgen der unzähligen rassistischen Übergriffe auf Angehörige nicht-weißer Minderheiten durch Polizeibeamte, deren oberster Dienstherr Giuliani war. Zudem wurden während seiner Regierungszeit mindestens ein halbes Dutzend junge Männer afrikanisch-amerikanischer Herkunft durch Polizeikugeln getötet. Doch wegen Totschlag oder gar Mordes Mordes wurde bis heute keiner dieser Beamten zur Rechenschaft gezogen. Ebenso plötzlich aus dem medialen Gedächtnis ausradiert war die soziale Brutalität, mit der Giuliani unter anderem gegen Tausende von alleinstehenden, armen Frauen und deren Kinder vorgegangen war, durch Kürzungen des städtischen Wohlfahrtsetats und Vernachlässigung der öffentlichen Bildung. Doch diese Realitäten gerieten ebenfalls völlig ins Vergessen.

Eines kann mit einiger Sicherheit festgestellt werden: Die deutschen Korrespondenten waren weder zur Übernahme dieser Art Heldenverehrung noch zu anderen Deutungsmustern der politischen Klasse in den USA gezwungen worden. Sie haben es freiwillig getan. Damit ist ein Phänomen berührt, das in einem allgemeineren Sinne Judith Butler beschäftigt, nämlich "wie die reglementierende Macht Subjekte in Unterordnung hält, indem sie das Verlangen nach Kontinuität, Sichtbarkeit und Raum erzeugt" (Butler 2001: 32). Würde die Medienforschung sich diesen Zusammenhängen stellen, hätten wir spannende erkenntnistheoretische Debatten zu erwarten und könnten auf aussagekräftige empirische Studien hoffen.

Im Fall der deutschen Korrespondenten in den USA – es sind in der Regel Männer – liegen folgende Zusammenhänge nahe: Wer einen solchen Posten bekleidet, genießt hohes Ansehen und hat gute Aussichten, später im Heimatland weitere Stufen in der Karriereleiter nehmen zu können. Leistung wird nach dem sichtbaren, also gedruckten bzw. gesendeten Output gemessen. Quantitäten sind gefragt, keine tiefgründigen Recherchen. Gerade in einer unvorhergesehenen Situation wie dieser, die zudem hysterisch aufgeladen war, scheint das Verlangen nach Kontinuität besonders ausgeprägt zu sein. Warum sich also dann im Chaos auf ungewohnte Recherchewege begeben, wenn populäre Handlungsträger wie Bürgermeister oder Präsident einfach strukturierte Deutungsmuster anbieten? Warum beispielsweise gab es keinerlei kritische Analysen der offensichtlich zum Teil unsinnigen Einsatzbefehle? Viele Feuerwehrleute hatten nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, als sie während des Zusammenbrechens der Türme in die Treppenhäuser stürmten. Mit ihren umfangreichen Feuerwehrausrüstungen haben sie auch Fluchtwege für herunterströmende Menschengruppen verstopft.

Offen und doch rechtfertigend zugleich beschreibt der Journalist Rolf Paasch sein Dilemma: "Der Druck, täglich oder gar stündlich Neues zu berichten, ist angesichts der Dimensionen der Ereignisse enorm." (Frankfurter Rundschau, 11.10.2001, S. 23) Nein, nicht unsichtbare Mächte und Hände waren am Werk, sondern viel Selbstunterwerfung. Genau diese ungewöhnlichen Ereignisse hätten Anlass geben können, neu über Tugenden eines verantwortlichen Journalismus nachzudenken. Das fand jedoch nicht statt. Ebenso fehlten Analysen, die sich mit neuen Formen gewalttätiger Männlichkeitskonzepte auseinandersetzen.

Deshalb war beispielsweise wenig von den unzähligen, vielfach von Frauen dominierten Friedensversammlungen in den Medien zu hören und zu sehen, die bereits am 11. September spontan nicht nur am Union Square sondern über ganz New York verteilt, auf Straßen und Plätzen, in Kirchen und Versammlungshäusern stattgefunden haben. Viele Frauen haben Verletzte versorgt oder wochenlang die Verpflegung für die mit den Aufräumarbeiten Beschäftigten organisiert. Nichts war auch darüber zu erfahren, wie beispielsweise Menschen in den Stadtbezirken Brooklyn, Manhattan, Queens, der Bronx und Staten Island mit dem Tod ihrer am 11. September im WTC ermordeten Angehörigen umgegangen sind. In den überregionalen Blättern fehlten außerdem Reportagen über die Gruppe "Nicht in unserem Namen", in der sich überwiegend betroffene Mütter zusammengeschlossen haben, weil sie nicht zulassen wollen, wie dass George W. Bush die Würde ihrer im WTC ermordeten Söhne und Töchter für seine Kriegsabenteuer in Afghanistan und seine Kriegsvorbereitungen gegen den Irak missbraucht. Nur wenige Zeitungen berichteten über die ungerechte Verteilung der Hilfsgelder an die Familien der Hinterbliebenen. Das Leben eines Managers oder das eines getöteten Feuerwehrmannes scheint mehr Wert zu sein, als das einer Sekretärin , einer Sachbearbeiterin oder gar einer Raumpflegerin ohne Pass. Kaum etwas war über die Massenverhaftungen und Massendeportationen von Einwanderern in New York und New Jersey zu lesen, die allein wegen ihres muslimischen Glaubens verdächtig geworden waren (vgl. Huhnke 2002: 3). Was auch deutschen Journalisten rundum fehlte, waren Empathie und journalistische Kompetenz, mit denen sie diese neuen innenpolitischen Entwicklungen in den USA hätten durchdringen können. Vielmehr zeigte der überwiegende Teil der Berichte, wie gering die Kenntnisse über die Lebensverhältnisse in New York City sind. Doch Selbstkritik übten die wenigsten.

Stattdessen wucherten Spekulationen und Gerüchte, mit allen Mitteln wurde der Hype vom "Krieg gegen Amerika" in Gang gehalten. Seiten wurden gefüllt, Sondersendungen mit den immer wieder gleichen Bildern und Statements geschaltet. Statt die Nachrichtensperre der amerikanischen Regierung beispielsweise mit gut recherchierten Geschichten über Opfer des Terrors zu durchbrechen oder über die rechtzeitig vor diesem Attentat von Geheimdiensten bekannt gegebenen Warnungen, über die sich die Bush Administration aber hinweggesetzt hatte, zu berichten, konnten wir viel Ab- und Zusammengeschriebenes aus amerikanischen Zeitungen lesen, sehen und hören.

Erinnern wir uns an die Inflationären Brennpunkte der ARD? Erinnern wir uns noch, wie die Gier in den Augen des Moderators vom Brennpunkt am 9. November ganz besonders flackerte, als wir beinahe unseren ersten Anthrax-Fall in der Bundesrepublik hatten?

Und was war über den Krieg in Afghanistan zu erfahren? Afghanische Frauenorganisationen wie die Revolutionären Frauen Afghanistans (RAWA), die älteste des Landes, hatten sich wie schon häufig – doch in der westlichen Welt ungehört – auch kurz nach den Anschlägen in New York am 14. September zu Wort gemeldet: "Die RAWA hatte die Vereinigten Staaten bereits davor gewarnt, den verraeterrischsten, kriminellsten, anti-demokratischsten und frauenfeindlichsten islamischen fundamentalistischen Parteien Unterstuetzung zu gewaehren, denn die Jehadi und die Taliban wuerden, nachdem sie jedes nur erdenkliche Verbrechen gegen unser Volk veruebt haben, keine Scham davor empfinden, gleichartige Verbrechen gegen das amerikanische Volk zu verueben, welches sie als ‚abtruennig’ ansehen. Um Macht zu erlangen und zu behalten, sind diese barbarischen Verbrecher nur allzu leicht bereit, sich jedwelcher verbrecherischen Kraft zuzuwenden. Ungluecklicherweise muessen wir jedoch feststellen, dass es die Regierung der Vereinigten Staaten war, die den pakistanischen Diktator General Zia-ul-Haq dabei unterstuetzt hat, Tausende religioeser Schulen zu gruenden, aus welchen die Taliban hervorgingen. In aehnlicher Weise, und das ist auch allen klar, war Osama Bin Laden der Goldjunge der CIA. Noch schmerzhafter ist jedoch die Tatsache, dass die amerikanischen Politiker nichts aus ihrer pro-fundamentalistischen Politik in unserem Lande gelernt haben, und dass sie immer noch diese oder jene fundamentalistische Bande oder deren Anfuehrer unterstuetzen. Wir sind ueberzeugt, dass jegliche Art der Unterstuetzung fuer die fundamentalistischen Taliban und Jehadis ein Herumtrampeln auf den demokratischen Frauenrechten und Grundlagen der Menschenrechte darstellt. Wenn festgestellt wird, dass sich die der Terroranschlaege Verdaechtigten ausserhalb der USA aufhalten; dann hat sich unsere oft wiederholte Behauptung, dass die fundamentalistischen Terroristen ihre Schoepfer vernichten wuerden, wieder einmal bewahrheitet. Die Regierung der USA sollte die Wurzel des Uebels dieser schrecklichen Ereignisse betrachten; dieses war nicht das erste schreckliche Ereignis, und es wird auch nicht das letzte sein. Die USA sollten endgueltig und ein fuer alle Mal damit aufhoeren, afghanischen Terroristen und ihren Helfern Unterstuetzung zukommen zu lassen." (www.rawa.org, Ende 2001)

Doch Stellungnahmen wie diese oder des "Afghan Women Council" hatten in deutschen Medien keine Chance, veröffentlicht zu werden, ebenso wenig die Warnungen afghanischer Frauenorganisationen vor neuen Massakern und Massenvergewaltigungen durch Krieger der sogenannten Nordallianz. "Werden die USA nun, da fuer sie nach den verbrecherischen Angriffen die Taliban und Osama die Hauptverdaechtigen sind, Afghanistan zum Ziel eines Militaerangriffs wie dem in 1998 machen und Tausende unschuldiger afghanischer Menschen fuer Verbrechen toeten, welche von den Taliban und Osama veruebt wurden? Glauben die USA, dass durch derartige Angriffe, deren Opfer Tausende armer und unschuldiger Menschen sind, das Grunduebel des Terrorismus ausgeloescht wird, oder wird dadurch der Terrorismus in noch viel staerkerem Masse zunehmen?" fragten afghanische Frauen gleich nach den Attentaten (www.rawa.org, Ende 2001).

Die Befürchtungen dieser afghanischen Frauen wurden weit übertroffen. Am ersten Oktoberwochenende 2001 war es soweit, auf Afghanistan fielen die ersten Bomben und es herrschte "Gender skew everywhere", stellt die politische US-Kommentatorin Katha Pollitt (The Nation, 19.11.01) fest. Nicht nur die Frauen Afghanistans blieben unter den Schleiern weiterhin unsichtbar. Frauen verschwanden aus den amerikanischen Kommentarseiten und hatten auch in der Bundesrepublik weitgehend nichts zu sagen. Terror und Krieg sind Männersache, die Opfer überwiegend Frauen und Kinder. Aber dies wurde ebenfalls nicht reflektiert. In der Bundesrepublik gerieten nun sogenannte Expertenrunden, in denen über das immer Gleiche spekuliert wurde, überwiegend völlig frauenfrei, allenfalls – wie auf einigen Sendeplätzen in ZDF und ARD – von freundlichen, aber in der Sache nicht nachhakenden Moderatorinnen zur Selbstdarstellung ermutigt.

In Nachrichtenillustrierten wie Der Spiegel konnten wir im Tagebuchstil männlicher Abenteurer nachlesen, wer als erster wie nach Kabul gekommen war. Überwiegend nichtssagende Quotes aus der Bevölkerung lieferten folkloristische Elemente (vgl. Spiegel, 19.11.01) statt Analyse. Von den vielen Tausenden Toten, vom zusätzlichen Elend, das durch den Krieg verursacht wird, war hingegen wenig zu erfahren.

In deutschen Medien fehlte auch eine angemessene Berichterstattung über die Bedeutung der UN-Resolution 1325, die festlegt, dem UN-Sicherheitsrat regelmäßig über Gewalt, die Frauen in Kriegsgebieten erleiden, zu berichten. Am 30. Oktober 2000 war sie in Kraft getreten. Zum ersten Jahrestag hatten Frauen aus Afghanistan, dem Kosovo und Ost-Timor vor der UNO eindringlich über Massenvergewaltigungen, Frauenhandel, Zwangsprostitution und Zwangsehen in diesen Gebieten berichtet. Doch wo waren da die ARD-Brennpunkte oder Titelgeschichten in der Süddeutschen Zeitung, der taz oder der Frankfurter Rundschau?

In der deutschen Innenpolitik verkam das Schicksal afghanischer Frauen zum billigen Appell. So erwähnte Bundeskanzler Gerhard Schröder am 16. November 2001, dem Tag seines Machtcoups im Bundestag, bei dem er die Vertrauensfrage mit der Zusage zum deutschen Kriegseintritt verknüpfte und somit die Partei Bündnis 90/Die Grünen dazu brachte, den deutschen Waffengang abzusegnen, die Frauen folgendermaßen: "Wer die Fernsehbilder von den feiernden Menschen in Kabul nach dem Abzug der Taliban angesehen hat, und ich denke hier vor allen Dingen an die Bilder der Frauen, die sich endlich wieder frei auf den Straßen bewegen dürfen, dem sollte es nicht schwer fallen, das Ergebnis der Militärschläge im Sinne der Menschen dort zu bewerten." (zit. nach Frankfurter Rundschau 17.11. S. 5) Das Schicksal der afghanischen Frauen wird zum Poker, zum Schlagwort rhetorischer Überredungskunst, um die Bombardierungen von Afghanistan zu rechtfertigen.

Wo sich welche Frauen in Afghanistan Mitte November frei bewegen konnten, wo sie an der politischen Umgestaltung aktiv beteiligt werden, diese Beweise bleiben Kanzler und Korrespondenten der Öffentlichkeit auch noch Monate später schuldig. Im Gegenteil, bereits in der zweiten Novemberhälfte versuchte die UN-Hochkommissarin Mary Robinson die Welt über die erneut stattfindenden Massenvergewaltigungen durch Krieger der Nord-Allianz zu informieren. Viele afghanische Frauen waren bereits von 1992 bis 1996 sexueller Folter durch Männer der Nordallianz ausgesetzt gewesen. Und auch nach dem Verjagen der Taliban werden afghanische Frauen wegen Ehebruchs eingesperrt. Straftaten wie der Mord an weiblichen Familienmitgliedern bleiben nach wie vor ungesühnt. Nach Angaben von RAWA ist es Frauen noch immer nicht erlaubt, in Kabul für ihre Menschenrechte zu demonstrieren.[5]

Doch diese Nachrichten passten nicht zur Kriegspropaganda. Stattdessen erschienen vor und nach der Abstimmung im Bundestag dünn recherchierte Stories, verfasst von Männern für Männer. Zwei Beispiele aus liberalen Blättern: So schreckte die taz entgegen der Realität nicht davor zurück, am 22. November "Frauenpower für Kabul" zu titeln, ohne die Massenvergewaltigungen überhaupt zu erwähnen. Ähnlich mager fiel am 24. November eine Reportage der Frankfurter Rundschau aus. Wohl nicht zufällig erschien zu beiden Geschichten, wie auch in vielen anderen Zeitungen in jenen Tagen, das eine Foto: Eine lachende, stark geschminkte Frau, die ihre Burkha hochgeschoben hat, rechts und links neben sich eine verschleierte Frau. Alle drei Frauen bleiben namenlos, ihre Gesichter waren irgendwo in Afghanistan aufgenommen worden. Ein Vergleich dieses Bildes mit Standfotos aus dem Film "Reise nach Kandahar", der vor dem 11. September 2001 gedreht worden war, legt den Verdacht nahe: Die Redaktionen haben offensichtlich einfach ein Filmfoto verwendet, das die Nachrichtenagentur Associated Press verbreitet hatte.

Die UN-Resolution 1325 fordert ferner alle Regierungen und internationalen Organisationen auf, Frauen an Friedensverhandlungen und Staatsgründungen teilnehmen zu lassen. Statt auf diese Vereinbarung hinzuweisen, wurden in vielen Berichten sogenannte Experten männlichen Geschlechts zitiert, die davor warnten, unsere westlichen Maßstäbe anzulegen, was die Forderung nach Gleichberechtigung beträfe. Menschenrechte wurden also offen zugunsten eines Geschlechts relativiert. Deutsche Medien fragten auch nicht kritisch nach, warum beispielsweise das deutsche Außenministerium nicht die gleichberechtigte Einbeziehung afghanischer Frauenorganisationen für die Verhandlungen über die Zukunft Afghanistans, die damals in Bonn stattfanden, zur bedingungslosen Voraussetzung gemacht hatte.

Dichotomien von gut und böse sind nicht nur säkularen Maskulinitätskonzepten, sondern ganz besonders auch allen monotheistischen Religionen eigen. Sie werden im Krieg gegen die gottlose Welt zu "Heilgewissheiten", erklärt der österreichische Religionswissenschaftler Adolf Holl: "Von Abraham über Moses, die Propheten, Jesus Mohammed, das ist eine Männerpartie. Diese Männer müssen das Vorhandene auseinander dividieren in ‚Wir und sie‘. Das ist ein strukturell kriegerisches Konzept." (Der Standard vom 9.10.01, S. 33)

Im Gegensatz zu George Bush, einem bekennenden evangelikalen Fundamentalisten, ging es bei europäischen Politikern zwar säkular zu. Doch auch sie agierten gemäß des Bibelwortes: "Wer nicht für mich ist, ist gegen mich", um politische Mehrheiten für den Krieg gegen Afghanistan hinter sich zu bekommen.

Erinnern wir uns an die Angstlust, die kritische Forscher wie George Mosse oder Homi Bhabha als ganz wesentlich für Maskulinitätskonzepte ausmachen. Der Ausschluss der Frauen aus "Schutzdichtungen" (Elisabeth Bronfen) gegen die Angst nimmt insbesondere dann zu, wenn Krieg und terroristische Verbrechen medial aufbereitet werden. Könnten sich mehr kritische Stimmen von Frauen Gehör verschaffen, wäre patriarchale Identität auf allen Seiten schwer gefährdet. Doch genau die eint trotz martialischer Waffengänge in wechselnden Koalitionen noch immer die Männer des "Guten" und des "Bösen".

Zusammengefasst: Das Ausmaß des "Vergessens" zeigt, wie wenig Politik, Medien, aber auch nationale und internationale Rechtssysteme über Mechanismen verfügen, um Realitäten und gesellschaftliche Leistungen von Frauen sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten wahrzunehmen. So tickt in der "prothetischen" Realität patriarchaler Männlichkeitskonzepte weiter ein immer weniger kalkulierbares Gewaltpotenzial. Noch machen Medienkonzerne damit prächtige Gewinne.

Michael Janeway, der neue Direktor des Journalistikstudienganges an der Columbia Universität in New York City, bewertet die Entwicklungen äußerst skeptisch: "Getrieben von Anforderungen der Unternehmen, wie Einsparung von Personalkosten und Gewinnwachstum, kippen ganze Bereiche des Nachrichtengeschäftes in ‚Infotainment’ und seichte Geschichten um." (New York Times, 17. August 2000, op-ed 11. Auch Journalisten hätten es versäumt, die rechtzeitigen, und Wochen vor den Anschlägen öffentlich gewordenen Warnungen vor Terrorattacken auf das WTC zu studieren. Für westliche Demokratien wäre aus medienwissenschaftlicher Perspektive schon einiges erreicht, wenn der journalistische Beruf wieder ernsthafter erlernt werden würde. Auch Janeway gibt die Hoffnung nicht ganz auf und fordert eindringlich eine solidere Journalistikausbildung, die auch stärker die Vermittlung fachwissenschaftlicher Kenntnisse miteinbeziehen müsse.

Gendergerechte Verhältnisse lassen sich nicht umgehend verwirklichen. Doch eine neue, auf umfassendem Fachwissen gründende Seriosität in Politik und Berichterstattung, die sich der Verbesserung konkreter Lebensverhältnisse für alle Menschen ebenso verpflichtet fühlt wie der historischen, sozialen und ökologischen Verantwortung, sind wichtige Voraussetzungen für ein demokratisches Zusammenleben. Auf einem solchen ethischen Fundament könnte auch Geschlechtergerechtigkeit wachsen und den Kriegern des "Guten" und des "Bösen" langfristig Einhalt gebieten. Noch liegt die Utopie einer wirklichen Demokratie in weiter Ferne, wie die täglichen Schlagzeilen zeigen.

 

Anmerkungen

1) Zur Bedeutung dieser Kategorien vgl. unter anderem die Arbeiten von Derrida, besonders "Marx’s Gespenster (1995) sowie Homi Bhabha 2000.

2) Dieser Automatismus garantiert auch den Ausschluss anderer Lebensrealitäten, beispielsweise ethnische Minderheiten oder ganzer Blöcke von Menschen in der "Dritten Welt". Das komplexe Zusammenspiel der Faktoren Geschlecht, Ethnizität und Klasse kann im Folgenden leider nicht angemessen berücksichtigt werden.

3) In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf die öffentliche Zurichtung von Frauenkörpern in allen Mediensegmenten zu verweisen. Sogenannte Frauenzeitschriften halten Frauen überdies zur Selbstkontrolle einer von patriarchalen Vorstellungen geprägten "Weiblichkeit" an.

4) Die Wochenzeitung The Nation gehörte zu den wenigen US-Publikationen, die regelmäßig Kritik an der Berichterstattung der Mainstream Medien übten.

5) Vgl. dazu auch die Analyse von Giuliana Sgrena, die erstaunlicherweise in der Wochenzeitung Die Zeit am 19.12.01 nachzulesen war.

Literatur

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