letzte Änderung am 30. April 2003

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Daniel Kreutz

30.04.2003

Pflege wird zur Ware

Eine Facette des neoliberalen Systemwechsels im Stammland der "Neuen Mitte"

Gegenwärtig berät der Landtag von Nordrhein-Westfalen über eine Novelle des Landespflegegesetzes, mit der im Ergebnis die Steuerungshoheit über die Entwicklung der pflegerischen Versorgungsstrukturen von der öffentlichen Hand auf den Kapitalmarkt übergeht. Zu den absehbaren Folgen der Novelle zählt: die Angebote der häuslichen Pflege werden geschwächt, große Träger von großen Pflegeheimen werden vergleichsweise begünstigt, die Entwicklung im Pflegebereich wird entöffentlicht und entdemokratisiert, und steigende Kosten für die pflegebedürftigen Menschen werden für mehr pflegebedingte Armut sorgen.

Hintergrund

Nach § 9 des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI) sind die Länder verantwortlich für die Sicherstellung der pflegerischen Versorgungsstrukturen und haben das Nähere "zur Planung und Förderung" von Pflegeeinrichtungen durch Landesrecht zu regeln. Daher haben alle Länder nach Verabschiedung des SGB XI Mitte der 1990er Jahre Landespflegegesetze erlassen.

"Pflegeeinrichtungen" nach dem SGB XI sind einerseits die ambulanten Pflegedienste und die teilstationären Angebote der Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege. Diese Angebote dienen der Unterstützung der häuslichen Pflege ("ambulant vor stationär"). Andererseits sind es die vollstationären Einrichtungen (Pflegeheime), die traditionell die pflegerische Versorgungsstruktur dominieren.

Nicht als "Pflegeeinrichtung" gelten die "komplementären ambulanten Dienste" (KAD), die "ergänzende" – weil im SGB XI so nicht vorgesehene - Leistungen für pflegebedürftige Menschen oder ihre Angehörigen anbieten (z.B. zeitintensive Pflege, psychosoziale und gerontopsychiatrische Betreuung, Familien entlastende Dienste). Nach übereinstimmender fachlicher Auffassung sind sie gleichwohl eine unverzichtbare "dritte Säule" für Stabilisierung und Qualität häuslicher Pflegesituationen.

Das Landespflegegesetz von 1996

Mit seinem Landespflegegesetz (PfG NW) von 1996 hatte das Land NRW den ihm vom Bundesgesetzgeber eingeräumten Regelungsspielraum im Sinne der Stärkung der häuslichen Pflege, zur weiteren Verminderung der pflegebedingten Armut und zur partizipationsorientierten Strukturentwicklung weitgehend genutzt. In der Fachöffentlichkeit galt das Gesetz als bundesweit beispielhaft.

Die ambulanten Dienste erhielten seither eine im Bundesvergleich hohe, aus Trägersicht gleichwohl nicht ganz ausreichende Förderung für ihre Investitionen (Geschäftsräume, Fahrzeuge, etc.).

Vorrangig zum Aufbau der kaum entwickelten Angebote der Tages-, Nacht und Kurzzeitpflege stellte das Land in den Jahren 1996-1998 insgesamt 420 Mio. DM in einem Landesinvestitionsprogramm bereit. Damit wurden die Investitionskosten teilstationärer Einrichtungen voll übernommen (100%), ab 1999 galt dann eine 80%-Förderung.

Pflegeheime erhielten 50% der Investitionskosten als zinslose Darlehen. Dabei hatten Sanierung und Modernisierung von Heimen Vorrang vor Neubau. Die Förderbestimmungen sollten auch eine Verkleinerung und Dezentralisierung der alten, krankenhausähnlichen "Bettenburgen" ermöglichen.

Der Zugang zu den Fördermitteln war daran geknüpft, das die Einrichtung im Pflegebedarfsplan der Standortkommune (Kreis/kreisfreie Stadt) als bedarfsnotwendig anerkannt war. An der Pflegebedarfsplanung waren regelmäßig die örtlichen Pflegekonferenzen zu beteiligen, denen neben den Interessenvertretern von Einrichtungs- und Kostenträgern auch Interessenvertreterinnen der Pflegebedürftigen angehören. Um "Konkurrenzprojekte" in überschneidenden Einzugsbereichen von Nachbarkommunen zu vermeiden, bedurfte es schließlich noch einer Bedarfsbestätigung durch den Landschaftsverband. Zum Ausgleich der Aufwendungen für Pflegekonferenzen, Pflegebedarfsplanung sowie für von der Kommune vorzuhaltende, einrichtungs- und kostenträgerunabhängige Pflegeberatungsstellen erhielten die Kommunen Pauschalzuweisungen von den Landschaftsverbänden.

Die "komplementären" ambulanten Dienste, in den Jahren zuvor mit maßgeblicher Förderung des Landes ins Leben gerufen, konnten in diese Planungs- und Fördersystematik nicht einbezogen werden. Da sie rechtlich nicht als "Pflegeeinrichtungen" gelten, konnten kommunale Gelder, die durch die Pflegeversicherung bei der Sozialhilfe zur Pflege eingespart wurden, auch nicht zu ihren Gunsten förderrechtlich gebunden werden. Zur Unterstützung der KAD wurde jedoch mit dem PfG NW den Kommunen ein allgemeiner Sicherstellungsauftrag auferlegt.

Dem Grunde nach waren mit dem PfG NW (1996) so weit wie möglich Strukturen geschaffen, die eine sozialplanerische, nach fachlichen Gesichtspunkten gesteuerte Entwicklung der Pflege-Infrastrukturen unter Beteilung auch und gerade von Interessenvertretungen der Betroffenen ermöglichten. Auch wenn in den örtlichen Pflegekonferenzen und bei der Pflegebedarfsplanung die Heim-Träger und die unter Spardruck stehenden Kostenträger überproportionales Gewicht haben, begünstigte und förderte das Landesrecht einen Strukturwandel im Sinne des Vorrangs der häuslichen Pflege.

Um die pflegebedingte Armut über die (eher enttäuschenden) Wirkungen des SGB XI hinaus zu vermindern, wurde das Pflegewohngeld eingeführt. Damit werden die Investitionskostenanteile, die ansonsten über die von den HeimbewohnerInnen zu tragenden Entgelte zu refinanzieren wären, für die BewohnerInnen übernommen, die sie aus eigenem Einkommen nicht bezahlen können. Im Unterschied zu sozialhilferechtlichen Bedürftigkeitskriterien blieb dabei das Vermögen außen vor.

Böses Erwachen

Die dreijährige wissenschaftliche Begleitforschung über die Wirkungen des PfG NW, deren Ergebnisse Mitte 2000 vorgelegt wurden, konnte die positiven sozialpolitischen Wirkungen des Pflegewohngelds eindruckvoll bestätigen. In erheblichem Umfang blieb dadurch HeimbewohnerInnen mit kleinen Einkommen oberhalb der Sozialhilfeschwelle die Sozialhilfeabhängigkeit erspart. Im Übrigen förderte die Evaluation allerdings Entwicklungen zu Tage, die in teils krassem Gegensatz zu den Absichten des Landesgesetzgebers standen. Der Zubau an Heimplätzen war ungleich höher als der an Tagespflegeplätzen. Die Größe der Heime lag immer noch deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Nachtpflegeangebote waren nach wie vor kaum existent. Bei der Kurzzeitpflege war das qualifizierte Angebot sogar deutlich rückläufig. Statt ihren Sicherstellungsauftrag für die KAD wahrzunehmen, hatten sich mehr Kommunen als zuvor vollständig aus der Förderung zurückgezogen. Da das Land zugleich seine Förderung für KAD reduzierte – mittlerweile ist sie praktisch ganz eingestellt – stand diese Säule häuslicher Pflege vor dem Aus. Zudem hatte sich im Heimbereich trotz des Landesinvestitionsprogramms ein "Investitionsstau" im Umfang von 4,7 Mrd. DM aufgebaut – ganz überwiegend für Modernisierungs- und Sanierungsmaßnahmen.

Maßgeblich für diese kontraproduktive Entwicklungen war allerdings nicht das Landesrecht, sondern – neben dem konzeptionellen Strukturkonservatismus von Heimträgern – das Bundesrecht. Unter den unzureichenden leistungsrechtlichen Bedingungen des SGB XI sind vor allem kleine, nicht heimverbundene Tagespflegeeinrichtungen nur schwer wirtschaftlich zu betreiben. Bei der Kurzzeitpflege ist dies nochmals schwieriger, da sich die Inanspruchnahme auf die Haupturlaubszeiten konzentriert, die Kosten aber ganzjährig anfallen. Und die KAD – leistungsrechtlich in keiner Weise abgesichert – fielen zunehmend den Finanznöten von Kommunen und Land zum Opfer. In Folge einer Steuer- und Abgabenpolitik, die sich der Entlastung der Wirtschaft und der Vermögenden verschrieben hat, gaben die Haushalte der Landschaftsverbände Investitionsmittel im erforderlichen Umfang nicht mehr her. Die Einsparungen durch die Pflegeversicherung waren zum größeren Teil durch Kostensteigerungen und Einnahmeverluste an anderen Stellen aufgezehrt worden.

Die wissenschaftliche Begleitforschung offenbarte auch ein Spannungsverhältnis zwischen dem System der öffentlichen Steuerung der Entwicklung der pflegerischen Versorgungsstrukturen im Wege der von kommunaler Pflegebedarfsplanung abhängigen Förderung einerseits und dem "Marktvorrang" des SGB XI. Die "modernen" WissenschaftlerInnen regten an, dies dadurch zu bereinigen, indem die Pflegebedarfsplanung durch eine "Marktbeobachtung" ersetzt wird. Diese Empfehlung mochte die Landesregierung indes seinerzeit (noch) nicht aufgreifen.

Die Justiz greift ein

Im August 2001 sprach das Bundessozialgericht ein folgenreiches Urteil. Wegen "wettbewerbsrechtlicher Unzulässigkeit" untersagte das BSG in einem konkreten Streitfall, die Förderung von Pflegeeinrichtungen von einer öffentlichen Bedarfsplanung abhängig zu machen. Alle Einrichtungsträger am Pflegemarkt, die von den Trägern der Pflegeversicherung per Versorgungsvertrag zugelassen sind, hätten Anspruch auf gleiche Wettbewerbsbedingungen. Der Ausschluss eines Trägers von der öffentlichen Förderung (z.B. weil die Standortkommune kein neues Heim will, sondern auf Angebote der häuslichen Pflege in Verbindung mit barrierefreien Wohnangeboten orientiert) sei eine unzulässige Wettbewerbsverzerrung. Der Bundesgesetzgeber fordere im SGB XI aber den Vorrang des Marktes. Gänzlich offen ließ das Gericht, auf welchem Wege die Länder ansonsten ihrer Verpflichtung zur "Planung" der pflegerischen Versorgungsstrukturen nachkommen sollen.

Am Scheideweg

Spätestens mit diesem höchstrichterlichen Spruch stand die Pflegepolitik des Landes an einem Scheideweg. Entweder konnte sie an ihrem sozialpolitischen Gestaltungsanspruch und am strukturpolitischen Ziel "ambulant vor stationär" festhalten. Dann hätte sie entschlossen Kurs darauf nehmen müssen, die hierzu unerlässlichen rechtlichen Voraussetzungen im SGB XI (daneben auch im BSHG) sowie auf dem Gebiet des Steuer- und Abgabenrechts durchzusetzen. Entsprechende Hinweise und Forderungen gab es bereits in Zusammenhang mit der parlamentarischen Anhörung zu den Wirkungen des PfG NW. Oder sie konnte sich den – politisch geschaffenen – "Sachzwängen" der "leeren Kassen" und des "Marktvorrangs" anpassen. Dies war der Weg, den die Landesregierung wählte.

Die soziale Alternative galt in Folge der die Politik allgemein beherrschenden Doktrinen der wirtschaftspolitisch motivierten Steuer- und Abgabensenkungen ("Lohnnebenkosten") längst als indiskutabel. Die berechtigte Kritik, die aus SPD und Grünen einst daran geübt wurde, dass der Grundsatz der paritätischen Finanzierung in der Pflegeversicherung von vornherein aufgegebenen ist und die Versicherten allein für die unzureichenden Leistungen gerade stehen müssen, ist längst verstummt. Dabei würde sich das Mittelaufkommen der Pflegeversicherung etwa verdoppeln, wenn man die Arbeitgeber in gleichem Unfang zur Finanzierung heranzöge.

Die "Finanzmarktnovelle" des Landespflegegesetzes

Die aktuelle Novelle des Landespflegegesetzes zielt nun auf folgende einschneidende Veränderungen:

Die Investitionsmittel für Heime und teilstationäre Einrichtungen sollen künftig zunächst vollständig über den Kapitalmarkt bzw. durch private Investoren aufgebracht werden. Die "vorschüssige" Investitionsförderung, die während der Bauphase greift, wird eingestellt. Damit wird die regelmäßige Erwirtschaftung von Renditen zwangsläufig zum vorrangigen Betriebsziel von Pflegeeinrichtungen, gleich, ob der Träger eine Kommune, ein Wohlfahrtsverband oder ein gewerblicher Investor ist. Denn die Kreditgeber am Kapitalmarkt wollen Zinsen sehen.

Die öffentliche Pflegebedarfsplanung wird entsprechend der Rechtsprechung des BSG zu Gunsten der Marktregimes in der Pflege abgeschafft. Was zuvor als "Marktbeobachtung" diskutiert wurde, soll unter dem Titel "Pflegeplanung" stattfinden – ein geschönter Begriff, denn was dort stattfinden kann, hat allenfalls noch prognostischen, aber nicht mehr planerischen Charakter. Welche Art Pflegeeinrichtungen in welchem Unfang angeboten werden, entscheiden künftig Kreditgeber und Investoren.

Nach den geltenden Regularien der Kreditvergabe ("Basel II") haben Großträger von Großeinrichtungen, die am Markt als vergleichsweise lukrativ gelten, noch die besten Chancen, zu vertretbaren Konditionen Kredite zu bekommen. Doch auch sie verlieren an Boden, weil die bisherige öffentliche Bedarfsbestätigung ihnen beim Bonitätsrating zu Gute kam. Das Bonitätsrating bewertet die Kreditrisiken danach, in welchem Umfang Verzinsung und Tilgung als gesichert (oder unsicher) gelten. Sinkt der Träger im Rating, verschlechtern sich seine Kreditkonditionen. Es können höhere Zinsen gefordert werden, die dann im Betrieb der Einrichtung "eingespielt" werden müssen. Bedarfsbestätigte Objekte gelten hinsichtlich ihrer Refinanzierung bisher als relativ gesichert. Kleinen Trägern von fachlich qualifizierten kleinen Tages- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen werden erhebliche Probleme beim Zugang zu Investitionskrediten prophezeit.

Steigende Investitionskosten bedeuten steigende Investitionskostenanteile in den von den NutzerInnen zu tragenden Entgelten. Eine "nachschüssige Investitionsförderung" nach dem Modell des Pflegewohngelds soll die Belastungen für die Betroffenen in einem "erträglichen" Rahmen halten. Gegenüber dem bisherigen Pflegewohngeld sollen jedoch zwei Veränderungen greifen. Zum einen werden die pro Heimplatz berücksichtigungsfähigen Investitionskosten werden gekürzt. Dadurch entstehende Defizite werden die Träger entweder durch Qualitätsabbau (Personalabbau, Umwandlung regulärer in prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder schlechtere Baustandards) oder durch höhere "Preise" zu kompensieren haben. Zum zweiten sollen künftig neben den Einkommen der BewohnerInnen auch ihre Vermögen herangezogen werden, soweit sie eine Schongrenze von 10.000 Euro nicht übersteigen.

Höhere "Preise" und vorrangige Aufzehrung von Ersparnissen werden die pflegebedingte Armut und Sozialhilfeabhängigkeit wieder steigen lassen. Das Pflegewohngeld wandelt sich von einem Instrument der Sozialpolitik zu einem Instrument der Co-Finanzierung privater Renditen aus öffentlichen Mitteln. Nicht bedeutungslos ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Pflegequalität auch in "überdurchschnittlich guten" Heimen deutlich unterhalb der Schwelle bewegt, die man als "sicherungsfähig" akzeptieren könnte. Das für eine menschenwürdige Pflegequalität erforderliche Personal ist bisher nicht refinanzierbar. Dies wurde durch eine empirisch-pflegewissenschaftliche Studie des Landes NRW belegt. Wenn also die "Preise" für Heime künftig steigen, sind es Preissteigerungen für "Satt – Sauber – Still".

Die pauschale Investitionsförderung für die ambulanten Pflegedienste wird etwa halbiert. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Dienste, die in aller Regel neben Pflegeleistungen (SGB XI) auch häusliche Krankenpflege (SGB V) anbieten, durch leistungsrechtliche Verschlechterungen im Krankenpflegebereich unter zunehmenden wirtschaftlichen Druck geraten sind. Konzentrationsprozesse prägen vielerorts das Bild. Die drastische Kürzung der Förderung wird daher dazu führen, dass Einrichtungen entweder aufgeben oder Kompensation über höhere "Preise" suchen müssen. Bei allen Pflegeeinrichtungen (ambulant, teil- und vollstationär) ist in Folge der "Finanzmarktnovelle" mit Preissteigerungen und entsprechenden Armutswirkungen zu rechnen. "Glück" hat, wer schon in der Sozialhilfe sitzt. Denn für den ändert sich finanziell nichts – zumindest bis das Sozialhilferecht selbst verschlechtert wird.

Die künftige Kapitalmarktsteuerung des Pflegemarkts lässt – insbesondere unter den gegebenen Bedingungen eines völlig unzureichenden Leistungsrechts der Pflegeversicherung - für den seit langem überfälligen Strukturwandel von Pflege weg vom Heim und hin zu selbstbestimmtem Wohnen in der eigenen Häuslichkeit ("ambulant vor stationär") keinen Raum erkennen. Die teils bereits seit Jahrzehnten beklagten Defizite des pflegerischen Regelsystems werden wachsen. Damit aber wächst auch der Markt für zusätzliche Angebote, die diese Defizite kompensieren – für diejenigen, deren Konto es möglich macht.

Reaktionen

Angesichts des grundlegenden Richtungswechsels, der mit der Novelle verbunden ist, sind die bisherigen Reaktionen des überwiegenden Teils der an der Pflege beteiligten Akteure erschreckend zahm. Eher selten wird der Richtungswechsel selbst zum Gegenstand kritischer Betrachtung, wird der Ruf nach sozialpolitisch motivierten bundesrechtlichen Veränderungen laut. Dies mag zum einen daran liegen, dass sich die Verbände der freien Wohlfahrtspflege schon zu sehr daran gewöhnt haben, wie die privat-gewerblichen Anbieter Pflege in erster Linie als "Geschäft" zu betrachten. Zudem, und das wiegt schwerer, ist bei Fortgeltung der gegebenen rechtlichen und fiskalischen Rahmenbedingungen keine landespolitisch praktikable Alternative in Sicht. Selbst wenn es gelinge, den "Marktvorrang" aus dem SGB XI zu tilgen, was gegenwärtig utopisch erscheint, werde dies – so ist zu hören - durch das europäische Wettbewerbsrecht wieder zunichte gemacht. Und "Pragmatiker" – wer mag schon als "Utopist" dastehen? – glauben zu wissen, dass sowohl leistungsrechtliche Verbesserungen in der Sozialversicherung wie auch deutliche Einnahmeverbesserungen der öffentlichen Hand auf absehbare Zeit unerreichbar bleiben. Da gehe es doch eher darum – so eine weit verbreitete Stimmungslage – sich auf die Abwendung der schlimmsten Gefahren zu konzentrieren und sich auf ein Leben "im Pflegemarkt" einzustellen.

Diese Haltung aber gerät zur selffulfilling prophecy: je mehr man "pragmatisch" davon Abstand nimmt, die Richtungsfragen in den Mittelpunkt der Debatte zu rücken, umso geringer werden die Chancen, die öffentlichen Kräfteverhältnisse auf soziale Richtungsänderungen hin bewegen zu können. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint "sozialpolitischer Pragmatismus" eher als Strategie des sozialpolitischen Suizids.

Es gibt allerdings auch andere, ermutigende Reaktionen. So haben die anerkannten Interessenvertretungen von Pflegebedürftigen in NRW (die Sozialverbände SoVD und VdK, die Landesseniorenvertretung und der Landesbehindertenrat) in einem Offenen Brief an die Landtagsabgeordneten einen dringenden Appell gegen den bevorstehenden Richtungswechsel in der Landespflegepolitik formuliert. Sie insistieren, "dass die Weiterentwicklung der pflegerischen Angebotsstrukturen Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge bleibt und nicht den Marktkräften überantwortet wird". Vereinzelt dringt auch auf dem kommunalpolitischen Raum der Ruf nach einer bundesrechtlichen Änderung, die die öffentliche Steuerung und Gestaltbarkeit der Pflegeinfrastruktur sichern hilft. Schließlich ist es auch in kaum einem Bereich dringlicher als hier, darauf zu bestehen. Denn kaum eine Lebenssituation ist verletzlicher als die pflegebedürftiger Menschen, die – oftmals vollständig – zur Bewältigung ihres Lebensalltags auf fremde Hilfe angewiesen sind und deren Grundrechte, einschließlich ihrer Menschenwürde, von der Leistungsfähigkeit und Qualität der pflegerischen Infrastrukturen abhängen.

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