letzte Änderung am 21. Febr. 2003

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aus: ak 469 vom Januar 2003
ak - analyse & kritik
Zeitung für linke Debatte und Praxis

 

Das Ende der Solidarität

Rot-grün privatisiert die Krankenversicherung

In ak 468 haben wir den ersten Teil eines längeren Artikels von Andreas Bachmann abgedruckt, in dem sich der Autor kritisch mit der Riester-Rente auseinander gesetzt hat. Im Zentrum des zweiten Teils steht die Entwicklung der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Sozialversicherungssysteme allgemein. Wir setzen damit unsere kleine Serie zur Zukunft der Sozialversicherungen fort.

Konzeptionell und auf der Diskursebene finden sich beim Umbau der Krankenversicherung alle Elemente wieder, die bereits bei der rot-grünen Rentenreform eine Rolle gespielt haben. Teile der Wirtschaftswissenschaft, FDP und Arbeitgeber wollen den Arbeitgeberanteil zur gesetzlichen Krankenversicherung dauerhaft auf 6% festschreiben. Auch das Bundeskanzleramt misst der Beitragssatzstabilität eine strategische Bedeutung bei. In einem Arbeitspapier werden unterschiedliche Szenarien zur Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) skizziert, die auch ohne Probleme kombiniert werden können. Neben der verstärkten Implementierung von Kapitaldeckungsverfahren (als Altersrückstellung) soll vor allem der gesetzlichen Krankenversicherungsschutz reduziert werden. Zielvorstellung ist dabei eine nur mehr rudimentäre Elementarversorgung und private Zusatzversicherungen. Dazu kommen Überlegungen, für gesetzlich Versicherte die freie Arztwahl gravierend einzuschränken.

Sozialpolitisch hätten solche Veränderungen noch intensivere Auswirkungen als die Rentenreformen. Der Umverteilungseffekt durch die bisherige Gesetzliche Krankenversicherung zu Gunsten ärmerer Haushalte ist nämlich viel bedeutsamer als bei der Rentenversicherung, die starke Elemente eines schlichten versicherungstechnischen Äquivalenzprinzips aufweist. Bereits jetzt bestehen starke Tendenzen zur Rationierung von Gesundheitsdienstleistungen und zum Ausschluss ärmerer Haushalte von einer optimalen Versorgung. Diese Entwicklungen würden in Zukunft eskalieren.

Institutionell und ideologisch wurde der Prozess der Privatisierung in der GKV durch den offenen Wettbewerb der Kassen um gute Risiken seit den 1990er-Jahren eingeleitet. Schlüsselrollen spielten dabei die Neugründungen und die Ausweitung von Betriebskrankenkassen, die häufig auch von Betriebsräten in Großbetrieben mitgetragen wurden. Aber auch innerhalb der Gewerkschaften herrscht trotz einer äußerlich progressiven Beschlusslage ein korporatistischer Mainstream: Die in ver.di organisierten Betriebsräte von privaten Krankenversicherungen intervenieren (erfolgreich) gegen die gewerkschaftliche Forderung nach einer Anhebung der Pflichtversicherungsgrenze. In den Gremien der Selbstverwaltung orientieren die großen Industriegewerkschaften auf Kostensenkung und Beitragssatzstabilität. Die IG BCE verteidigt zusammen mit der Pharmaindustrie die Profitmargen, die zu den wenigen immanenten Wirtschaftlichkeitsreserven des Gesundheitswesens gehören.

Die sozialpolitischen Institutionen in der Bundesrepublik sind durch den Dualismus von Sozialversicherungswesen (das auf dem Lohnarbeitsverhältnis beruht) und dem System der rein staatlichen Transfers und Dienstleistungen, geprägt. Der Unterschied ist deshalb wichtig, weil die sozialen Grundrechte aus dem Sozialversicherungsverhältnis häufig robuster und juristisch abgesicherter sind als die Ansprüche auf staatliche Transfers (z.B. Sozialhilfe).

Krankheit als privates Risiko

Verteilungspolitisch sind die Sozialversicherungen durch die Verallgemeinerung und juristische Absicherung von Soziallohnbestandteilen ein bedeutender Hebel in der Verteilungsauseinandersetzung mit dem Kapital. Das zeigt sich nicht zuletzt an der nachhaltigen Polemik der Arbeitgeber gegen die Lohnnebenkosten. Daneben stellen die Sozialversicherungen durch die Umverteilung innerhalb der abhängig Beschäftigten die materielle Voraussetzung für eine sozialpolitische Alltagsmoral dar, die auf Solidarität und Risikoteilung setzt. Materielle Standards, Maßstäbe und soziale Rechtspositionen für das gesamte sozialpolitische Feld haben sich häufig erst im Sozialversicherungswesen entwickelt, bevor sie Gegenstand der allgemeinen sozialpolitischen Auseinandersetzung geworden sind. Umgekehrt zeigt das Beispiel der Riester-Rente, wie schnell Senkungen der Sozialversicherungseinkommen auch auf die Höhe staatlicher Transfers wie etwa der Sozialhilfe abstrahlen können. (vgl. ak 468).

Die Reichweite der "aktivierenden" Sozialpolitik von New Labour beschränkt sich nicht nur auf workfare[1] und Ausweitung von Niedriglohnsektoren. Auch bei der politischen Ausgestaltung der Risikobereiche Krankheit und Einkommenssicherung setzt New Labour auf Individualisierung und Privatisierung von sozialen Risiken. Selbst repressive Momente fehlen nicht: Das gigantische Spar- und Versicherungsprogramm bei Facharbeiter- und Angestelltenhaushalten wird schlicht durch verordnete Rentenkürzungen mobilisiert.

Von den staatlichen Pflichtversicherungen auf Umlagebasis und hoher Umverteilungswirkung ist es noch ein weiter Weg zu individuellen VersicherungsnehmerInnen oder SparerInnen, die entsprechend dem individuellen Risiko oder Einkommen privaten Versicherungsschutz einkaufen. Doch die Weichen sind bereits gestellt. Durch die Privatversicherungslogik des individuellen Risikos und die Anwendung von Privatversicherungsrecht wird im Alltagsbewusstsein und in den sozialpolitischen Debatten das Grundverständnis für die soziale Zusammenhänge der Verteilung von Lebensrisiken beschädigt.

Weite Teile des Sozialrechts und die innere Ausgestaltung der Sozialversicherungen orientieren sich am männlichen Normalarbeits- und Vollzeitverhältnis. Diese Kritik der Frauenbewegung und der undogmatischen Linken an den Sozialversicherungen ist immer noch richtig und kann heute als Anknüpfungspunkt zur Problematisierung prekärer Arbeitsverhältnisse und unsteter Erwerbsverläufe auch von Männern herangezogen werden.

Statt durch Privatisierung von Risiken könnte die Verlängerung und Verstärkung sozialer Ungleichheit in die Sozialversicherungsansprüche der Individuen hinein dadurch vermieden werden, dass in die bestehenden Sozialversicherungssysteme verstärkt sozialrechtliche Kompensationen eingebaut werden. Entsprechende Elemente sind in der Sozialversicherung durchaus schon angelegt. Allerdings setzen solche Kompensationsmaßnahmen (wie z.B. ein stärkerer rentenrechtlicher Ausgleich von Erziehungszeiten oder von Phasen geringen Verdienstes) die Stabilisierung der Beitragsbasis und Einnahmesteigerungen voraus.

Sozialversicherungen als Auslaufmodell

Lohnabhängige Arbeit ist der entscheidende Pfeiler bei den Einnahmen der Sozialversicherungen. Massenerwerbslosigkeit, die Ausflaggung lohnabhängiger Arbeit in sozial prekäre Arbeitsverhältnisse, die Stagnation von Lohneinkommen sowie die Verlagerung fiskalischer Risiken in die Sozialversicherung sind folglich die wesentlichen Ursachen für die Erosion dieser Einnahmebasis und für die fortschreitende Privatisierung der Sozialversicherungssysteme. Ein erster Schritt zur Stabilisierung der Sozialversicherungen ist demnach eine deutliche Anhebung (bzw. gänzliche Abschaffung) der Beitragsbemessungs- und Pflichtversicherungsgrenzen, um die Flucht gutverdienender ArbeitnehmerInnen aus der Sozialversicherung rückgängig zu machen. Ein erster Schritt, über den innerhalb der Linken Einvernehmen besteht.

Skepsis ist allerdings bei der weit verbreiteten Sympathie für das Schweizer Modell der Alterssicherung angezeigt. Im Sinne einer Volksversicherung sind dort alle EinkommensbezieherInnen inklusive der Selbstständigen und UnternehmerInnen in die allgemeine Rentenversicherung einbezogen. Die Mindestrente liegt bei ca. 1.000 SFR, die Höchstrente bei ca. 2.000 SFR. Kleinstrenten wie in Deutschland, wo ca. 50% der Rentnerinnen eine Rente von weniger als 500 EUR beziehen, sind in der Schweiz nicht möglich. Die Beteiligung auch der wohlhabenden Selbstständigen an der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme ist der richtige Ansatz, nur kann dies auch über staatliche Zuschüsse aus dem Vermögens- und Kapitalertragssteueraufkommen an die Sozialversicherungen erreicht werden.

Wichtig ist in der Schweiz die obligatorische betriebliche Altersvorsorge (für ArbeitnehmerInnen ab ca. 25.000 SFR Jahreseinkommen). Nur so erreicht ein(e) SchweizerIn mit durchschnittlicher Erwerbsbiografie eine Rentenniveau wie in Deutschland mit der gesetzlichen Rente alleine. Außerdem ist in der Schweiz der Anteil an Kapitaldeckungselementen größer als in Deutschland, wo noch das Umlageverfahren dominiert.

Trügerische Alternativen

Die Schweizer Lösung weist auf nicht zu unterschätzende Probleme einer Volksversicherung hin. Volksversicherungen ähneln konstruktionsbedingt steuerfinanzierten Elementarssicherungssystemen. Bei solchen Systemen sind die Leistungen - wie bei der bundesdeutschen Pflegeversicherung - von vorneherein nicht bedarfsdeckend. Für die wohlhabenden und gutverdienenen Mitglieder und BeitragszahlerInnen müssen die Leistungen auch nicht bedarfsdeckend sein, weil man sich neben der staatlichen Grundsicherung komfortabel privat versichern kann. Beiträge und Leistungen von Volksversicherungen sind somit auf ein unteres oder maximal mittleres Niveau beschränkt. Es spricht deshalb einiges dafür, die Sozialversicherungen auf Umlagebasis weiterzuentwickeln, als Solidar- und Risikofonds aller abhängig Arbeitenden - egal welcher formale Vertragstyp im Arbeitsverhältnis vorliegt. In diesem Risikokollektiv dürfte politisch eher ein Konsens über ein ausreichendes Leistungsniveau herzustellen sein.

Vorsicht ist auch bei der weit verbreiteten Polemik gegen die versicherungsfremden Leistungen der Sozialversicherungen angebracht. Soweit es um die Sozialversicherungsleistungen für den "Aufbau Ost" geht, mag eine ökonomische Ausgliederung aus der Sozialversicherung noch angehen. Mittlerweile werden aber gerade die typischen umverteilenden Elemente der Sozialversicherung als versicherungsfremd diffamiert, beispielsweise die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Doch dies wäre nur dann versicherungsfremd, wenn als Maßstab die kommerzielle Versicherung mit ihrer individuellen Risikobewertung und dem Äquivalenzprinzip angelegt wird.

Letztendlich naiv sind die Vorstellungen, Pensionsfonds (die auch in Deutschland eine größere Rolle spielen werden) durch gewerkschaftliche Kontrolle und Mitbestimmung im Sinne sozial-ethischer Fonds umzudrehen. Auch ein rein gewerkschaftlicher Pensionsfonds operiert auf der Basis von Kapitaldeckungsverfahren (Kapitalerträge). Er bietet nicht im entferntesten die Voraussetzungen für eine Umverteilung von (Sozial-)Einkommen von ArbeitnehmerInnen aus Branchen mit hohen Arbeitseinkommen zu schlechter verdienenden Beschäftigten. Innergewerkschaftlich führen solche Beiträge nur zur Legitimation der korporatistischen Betriebsrentenpolitik. Zumindest wäre gewerkschaftliche Mitbestimmungspolitik in Pensionsfonds keine Ersatz für eine Revitalisierung der Sozialversicherung.

Andreas Bachmann

Der Autor ist Redakteur der Zeitung express. Die vollständige Fassung seines Artikels ist unter dem Titel "Privatisierung der Sozialversicherung und aktivierender Staat. Von der Riester-Rente zur 3-Klassen-Medizin" in Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, Heft 85, 3/2002 erschienen.

Anmerkung:

1) Workfare bezeichnet die rigorose Koppelung minimalster (und oft zeitlich befristeter) Sozialleistungen an eine erzwingbare Arbeitsleistung. Sozialleistungen dienen nicht mehr der Existenzsicherung ohne Vorbedingungen, sondern sind gewissermaßen die Löhne in einem System rechtloser und prekärer Pflichtarbeit.

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