Johannes Steffen

>Ab 60 gehört Opa mir ...<

Am Rande der Jubiläumsfeierlichkeiten zum 50-Jährigen des DGB fand am 13. Oktober in München ein Treffen statt zwischen Vertretern der IG Metall, des BMA und der Rentenversicherungsträger. Gesprächsgegenstand war die "Rente mit 60". Noch eine Woche zuvor hatten sowohl der Bundeskanzler als auch sein Arbeitsminister Zwickels Forderung nach einer Senkung der Altersgrenze kategorisch abgelehnt, da die hierfür erforderlichen Vorfinanzierungskosten von den Rentenversicherungsträgern auf zwischen 7,5 Mrd. DM und 11,8 Mrd. DM veranschlagt wurden. "Bitte versteht das nicht als gegen Euch gerichtet", bat Schröder die Delegierten des Hamburger IG Metall-Kongresses, "sondern als Position, die die einzig verantwortbare ist." - Sieben Tage später scheint der Knoten durchschlagen, fallen bei den Rentenkassen nach offizieller Sprachregelung keine Zwischenfinanzierungskosten mehr an und hält der Kanzler die ganze Sache inzwischen für ein "durchaus interessantes Modell"; die "volle Rente mit 60" droht somit Einzug zu halten in den tarifpolitischen Forderungskatalog der nächsten Zukunft.

Altersgrenzen und Rentenzugangsvoraussetzungen

Hintergrund der Auseinandersetzung ist der bereits seit 1997 laufende Prozeß der - verglichen mit den Verabredungen im Rentenreformgesetz 1992 (RRG 92) - vorzeitigen und im Tempo schnelleren Anhebung sämtlicher Altersgrenzen. So wird die Altersgrenze in monatlichen Stufen um je einen Monat für die Rente

angehoben. Auch künftig können diese Rentenarten mit vollendetem 60. bzw. 63. Lebensjahr bezogen werden; wer allerdings vor Erreichen der jeweils maßgebenden (angehobenen) Altersgrenze in eine der genannten Altersrenten wechselt, erhält pro vorgezogenem Rentenbezugsmonat einen dauerhaften Abschlag von 0,3%; im Extremfall - bei um 5 Jahre oder 60 Monate vorgezogenem Rentenbeginn - sind das 18% weniger an monatlicher Bruttorente.

Selbst bei Inkaufnahme der Abschläge blockiert ein weiteres und bislang unüberwindbares Hindernis den Weg in den früheren Ruhestand: Wer heute als Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin unmittelbar aus einem Beschäftigungsverhältnis heraus - also ohne (etwa per Sozialplan) zwischengeschaltete Arbeitslosigkeit - mit 60 Jahren in Altersrente wechseln will, muß entweder schwerbehindert, weiblich oder zuvor zwei Jahre in Altersteilzeit beschäftigt gewesen sein. Nur für diese Personengruppen ist nach geltendem Rentenrecht - bei Erfüllung der übrigen Zugangsvoraussetzungen (vgl. Übersicht 1) - überhaupt eine Altersrente mit 60 Jahren möglich. Der weit überwiegende Teil der älteren Männer kann heute frühestens mit 63 Jahren die vorgezogene Altersrente für langjährig Versicherte in Anspruch nehmen. - Bei der Forderung nach der "vollen Rente mit 60" geht es daher vor allem um zwei Dinge: (a) um den Ausgleich der drohenden Rentenabschläge und (b) um die Schaffung der gesetzlichen Voraussetzung, damit auch diejenigen, die weder schwerbehindert noch weiblich noch in Altersteilzeit beschäftigt sind, mit 60 Jahren eine vorgezogene Altersrente beziehen können.

Übersicht 1: Geltende Voraussetzungen für einen Altersrentenbezug vor vollendetem 65. Lebensjahr

Personengruppen
Altersgrenze (1)
Rentenrechtliche Zugangsvoraussetzungen

Schwerbehinderte (2)

60 Jahre

  • Wartezeit von 35 Jahren (Beitragszeiten, beitragsfreie Zeiten, Berücksichtigungszeiten) und
  • Grad der Behinderung mindestens 50%

Frauen (3)

60 Jahre

  • Wartezeit von 15 Jahren (Beitrags- und/oder Ersatzzeiten sowie Zeiten aus Versorgungsausgleich) und
  • mindestens 121 Pflichtbeiträge (10 Jahre und einen Monat) nach vollendetem 40. Lebensjahr

Arbeitslose/

Altersteilzeitler (4)

60 Jahre

  • Wartezeit von 15 Jahren (Beitrags- und/oder Ersatzzeiten sowie Zeiten aus Versorgungsausgleich) und
  • mindestens 8 Pflichtbeitragsjahre innerhalb der letzten 10 Jahre sowie
  • entweder ein Jahr Arbeitslosigkeit nach Vollendung des Lebensalters von 58 Jahren und 6 Monaten
  • oder mindestens 24 Monate Altersteilzeitarbeit

Langjährig

Versicherte (5)

63 Jahre

  • Wartezeit von 35 Jahren (Beitragszeiten, beitragsfreie Zeiten, Berücksichtigungszeiten)

(1) Vollendetes Lebensjahr für den auch künftig - bei angehobenen Altersgrenzen - frühestmöglichen Altersrentenbezug nach heutigem Rentenrecht

(2) Altersgrenzenanhebung auf 63 Jahre in monatlichen Schritten um je einen Monat ab 2001 (für ab 1941 Geborene)

(3) Altersgrenzenanhebung auf 65 Jahre in monatlichen Schritten um je einen Monat ab 2000 (für ab 1940 Geborene)

(4) Altersgrenzenanhebung auf 65 Jahre in monatlichen Schritten um je einen Monat ab 1997 (für ab 1937 Geborene)

(5) Altersgrenzenanhebung auf 65 Jahre in monatlichen Schritten um je einen Monat ab 2000 (für ab 1937 Geborene)

 

Abschlagskompensation

Zunächst zum erstgenannten Problembereich. Die Forderung nach "voller Rente mit 60" hat einzig und alleine das Ziel, die sog. versicherungstechnischen Abschläge finanziell auszugleichen. Nicht gemeint und nicht gewollt ist demgegenüber ein materieller Ausgleich für die fehlenden Jahre; denn demjenigen, der mit 60 Jahren in Rente geht, fehlen 3 (5) Versicherungsjahre - verglichen mit einem identischen Versicherten, der erst mit 63 (65) Jahren Altersrente bezieht. Hierzu folgendes Beispiel für den statistischen Durchschnittsverdiener (alte Länder 1999 rd. 53.000 DM/Jahr), der mit vollendetem 65. Lebensjahr auf insgesamt 45 Versicherungsjahre (= 45 Entgeltpunkten (EP)) käme:

Tabelle 1: Was heißt "volle Rente mit 60"

Alter bei Rentenzugang
A. Monatliche Bruttorente ohne Abschlag
B. Monatliche Bruttorente mit Abschlag (1)

1. Altersrente mit 65 Jahren (= 45 EP)

2.173,05 DM

2.173,05 DM

2. Altersrente mit 63 Jahren (= 43 EP)

2.076,47 DM

1.926,96 DM

3. Altersrente mit 60 Jahren (= 40 EP)

1.931,60 DM

1.583,91 DM

4. Rentenverlust bei Rente mit 60 Jahren gegenüber

4.1 Rente mit 65 Jahren insgesamt

Davon entfallen auf:

4.1.1 fehlende 5 Versicherungsjahre

4.1.2 Abschläge (= 7,20 EP)

4.2 Rente mit 63 Jahren insgesamt

Davon entfallen auf:

4.2.1 fehlende 3 Versicherungsjahre

4.2.2 Abschläge (= 4,32 EP)

241,45 DM

241,45 DM

-

144,87 DM

144,87 DM

-

589,14 DM

241,45 DM

347,69 DM

343,05 DM

134,44 DM

208,61 DM

5. Rente mit 60 Jahren bei einer Abschlagskompensation, die sich bezieht auf die

5.1 Rente mit 65 Jahren (= 7,20 EP)

5.2 Rente mit 63 Jahren (= 4,32 EP)

 

 

1.931,60 DM

1.792,52 DM

(1) Unter der Annahme, daß die Altersgrenze bereits heute bei 65 Jahren liegt
EP = Entgeltpunkte; 1 EP entspricht zur Zeit einem monatlichen Bruttorentenanspruch von 48,29 DM (West)
Berechnungen für die alten Bundesländer auf der Wertebasis des 2. Hj. 1999

Denkbar für die Berechnung der Abschlagskompensation bei Rentenzugang mit 60 Jahren wären grundsätzlich zwei Varianten:

(1) Da sich der versicherungstechnische Rentenabschlag auf insgesamt 18% oder 7,20 EP (= 40 Versicherungsjahre à 1 EP x 0,82) beläuft wäre ein monatlicher Rentenverlust in Höhe von 347,69 DM auszugleichen; die "volle Rente mit 60" beliefe sich dann auf 1.931,60 DM (= 1.583,91 DM + 347,69 DM). Soll dieser Ausgleich innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung geschehen, so ist dafür gegenwärtig eine zusätzliche Beitragszahlung an den Rentenversicherungsträger (§ 187a SGB VI) in Höhe von 90.886,74 DM erforderlich.

(2) Da das Zugangsalter für die Altersrente an langjährig Versicherte aber nur um drei Jahre herabgesetzt werden soll (von 63 Jahren auf 60 Jahre, vgl. unten) wäre auch denkbar, daß lediglich der zusätzlich anfallende Rentenabschlag für diese drei Jahre in Höhe von monatlich 208,61 DM (10,8%) ausgeglichen wird; in diesem Fall beliefe sich die "volle Rente mit 60" auf 1.792,52 DM (= 1.583,91 DM + 208,61 DM). Der Differenzbetrag zur monatlichen Rente bei voller Abschlagskompensation in Höhe von 139,08 DM (= 2,88 EP) müßte - wie nach geltendem Recht bei Rente mit 63 Jahren auch - vom Versicherten selbst getragen werden. Bei dieser Variante betrüge die erforderliche zusätzliche Beitragszahlung an den Rentenversicherungsträger derzeit 50.130,36 DM.

Die Kostenrechnungen des VDR wie auch die politischen Debatten gehen implizit stets von der ersten Variante aus. Aber auch für diesen Fall bleibt festzuhalten: Gänzlich ohne Einkommensverlust wird es keine "volle Rente mit 60" geben, da die Altersbezüge wegen der fehlenden Jahre stets geringer ausfallen als bei Weiterarbeit.

Lockerung der Rentenzugangsbedingungen

Während die Kompensation der Rentenabschläge von den Tarif-, Betriebs- und/oder Arbeitsvertragsparteien auch ohne weitere Hilfestellung von außen schon hier und heute geregelt werden könnte ist zur Lösung des zweiten Problems der Gesetzgeber gefordert; nur er kann die rechtlichen Möglichkeiten für einen Rentenzugang mit 60 Jahren auch für diejenigen schaffen, die nicht zum heute bereits berechtigten Personenkreis zählen. Genau an dieser Stelle aber hakte es über die vergangenen Wochen - schließlich hatten sich alle Bündnis-Partner im Dezember letzten Jahres u.a. festgelegt auf die "weitere dauerhafte Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten". Eine Herabsetzung der Altersgrenze aber bewirkt infolge des vermehrten Rentenzugangs Mehrausgaben sowie Mindereinnahmen der Rentenversicherungsträger und führt damit zu einer - politisch inzwischen weitgehend tabuisierten - Erhöhung der Rentenbeiträge. Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger veranschlagte die jährlichen Vorfinanzierungskosten einer auf fünf Jahre begrenzten (flächendeckenden) Rente mit 60 für langjährig Versicherte auf zwischen anfänglich 7,5 Mrd. DM bis schließlich11,8 Mrd. DM oder im Schnitt rd. 0,5 Beitragspunkte.

Der in München gefundene Kompromiß sieht nun folgendes vor: Der Bundesarbeitsminister will sich im Rahmen des Bündnisses für Arbeit sowie in der Bundesregierung dafür einsetzen, daß die Altersgrenze von 63 Jahren bei der Altersrente für langjährig Versicherte befristet für fünf Jahre auf 60 Jahre herabgesetzt und diese gegenüber geltendem Recht um bis zu drei Jahre frühere Rentenbezugsmöglichkeit an eine weitere - bislang nicht erforderliche - Voraussetzung geknüpft wird: Wer als langjährig Versicherter zwischen 60 und 62 Jahren Altersrente beziehen will, für den muß vor Rentenbeginn der nach § 187a SGB VI maximal mögliche zusätzliche Beitrag an die Rentenversicherung gezahlt worden sein. Ohne diese volle zusätzliche Beitragszahlung könnten also auch künftig langjährig Versicherte erst mit vollendetem 63. Lebensjahr in vorgezogene und abschlagsgeminderte Altersrente wechseln. Einsetzen will sich Walter Riester auch dafür, daß die Einzahlungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einen zu schaffenden Tariffonds steuerfrei gestellt werden - Finanzminister Eichel hat bislang allerdings strikt ausgeschlossen, daß der Bund Gelder für die Rente mit 60 zur Verfügung stellen werde.

Übersicht 2: Aufgabenverteilung

Arbeitgeber
Arbeitnehmer
Gesetzgeber
   

 

 

 

Die Tarifvertragsparteien

1. gründen einen Tariffonds

(= gemeinsame Einrichtung nach § 4 II TVG)

und

2. bestimmen die Anspruchsvoraussetzungen

für Leistungen aus dem Fonds

 

SGB VI

1. Die Altersgrenze für die vorgezogene Altersrente für langjährig Versicherte wird - befristet für 5 Jahre - von 63 Jahren auf 60 Jahre gesenkt

2. Zusätzliche Zugangsvoraussetzung ist, daß vor Rentenbeginn der nach § 187a SGB VI maximal mögliche zusätzliche Beitrag an die Rentenversicherung gezahlt wird

EStG

Die Einzahlungen in den Tariffonds werden steuer- und beitragsfrei gestellt

Tariffonds

Laufzeit

5 Jahre

Finanzierung

je 0,5% des Bruttoentgelts durch ArbG/AN

Leistung

Zahlung zusätzlicher Beiträge gem. § 187a SGB VI zur vollständigen Kompensation

der versicherungstechnischen Rentenabschläge bei vorgezogenem Altersrentenbezug

für den tarifvertraglich festzulegenden Personenkreis

Sollte Walter Riesters Einsatz-Versprechen dennoch Erfolg zeitigen, dann könnten die Tarifvertragsparteien - so die Überlegungen innerhalb der IG Metall - paritätisch finanzierte Fonds aus der Taufe heben, deren Aufgabe die Zahlung der zusätzlichen Beiträge nach § 187a SGB VI zum Ausgleich der Rentenabschläge bei vorgezogenem Altersrentenbezug wäre (vgl. Übersicht 2). Die Rentenversicherungsträger hätten wegen der obligatorischen Kompensationszahlungen des Tariffonds keine ungedeckten Mehrausgaben zu fürchten - den maximalen Vorfinanzierungskosten von rd. 61 Mrd. DM stünden Fondseinzahlungen von rd. 66 Mrd. DM gegenüber; und die Beitragsmindereinnahmen, die bei einer Wiederbesetzungsquote von kleiner als 1 anfallen, werden sich - so offenbar die Überlegung des VDR - aller Voraussicht nach in Grenzen halten, weil das Modell nicht dazu angelegt scheint, ein großer Renner zu werden. Auch der Arbeitsminister ist zufrieden mit dem gefundenen Kompromiß, da die gesetzlichen Lohnnebenkosten hierdurch nicht erhöht werden. Den Kritikern seines "Umfaller-Kurses" hält er denn auch entgegen: "Die Rente mit 60 ist Tarifprojekt, kein Regierungsprojekt. (...) wen diese Regelung wie belastet, ist eine Frage für die Tarifparteien, nicht für die Regierung."

Tarifpolitik als Ausputzer

Der Begünstigtenkreis einer Tariffondslösung für den Abschlagsausgleich und damit auch die innergewerkschaftliche Akzeptanz eines solchen Modells sowie schließlich dessen induzierte Arbeitsmarktwirkung hängen ganz wesentlich ab von der noch zu formulierenden tarifpolitischen Forderung und natürlich ihrer Durchsetzung. Wer also könnte auf welche Leistungen aus dem Fonds hoffen? Mehrere Szenarien wären vorstellbar - wesentliche Gestaltungsmomente sind 1. die Abgrenzung des leistungsberechtigten Personenkreises und 2. der Umfang der auszugleichenden Abschläge.

Abgesehen davon, daß die berechtigten ArbeitnehmerInnen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der gesetzlichen Neuregelung - wegen deren vorgesehener Befristung auf fünf Jahre - mindestens 55 Jahre alt sein müßten, ließe sich der von tariflichen Ausgleichsleistungen zu begünstigende Personenkreis nach folgenden Kriterien bestimmen:

  1. Ein Anspruch auf Fondsleistungen könnte allen Beschäftigten zugestanden werden, die die Möglichkeit eines vorgezogenen Altersrentenbezugs wahrnehmen - also unabhängig von der Rentenart und unabhängig von der bis dahin zurückgelegten Wartezeit.
  2. Die Fondsleistungen könnten sich aber auch auf diejenigen Beschäftigten beschränken, die irgendeine vorgezogene Altersrente - also unabhängig von der Rentenart - in Anspruch nehmen andererseits aber die Wartezeit von mindestens 35 Jahren erfüllen müssen.
  3. Denkbar wäre drittens die Begrenzung des Begünstigtenkreises auf jene Beschäftigten, die eine Wartezeit von mindestens 35 Jahren erfüllen und gleichzeitig die Rentenart für langjährig Versicherte in Anspruch nehmen; diese Lösung würde zwar das Begünstigtenpotenzial gegenüber 1.2 unverändert lassen andererseits aber während der fünfjährigen Laufzeit zu "Wanderbewegungen" weg von den nicht begünstigten Rentenarten hin zur Rente für langjährig Versicherte führen. Die dritte Variante würde den tariflich begünstigten Personenkreis demnach auf jene - und nur auf jene - Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen beschränken, die auch von der in Aussicht gestellten gesetzlichen Neuregelung begünstigt wären

Je nachdem, für welche Abgrenzung man sich letztlich entscheidet, fallen Berechtigtenkreis und erforderlicher Fondsaufwand größer aus (1.1 verglichen mit 1.2 und 1.3) bzw. ist bei gleichem Berechtigtenkreis mit unterschiedlich hohen Fondsausgaben zu rechnen (1.2 verglichen mit 1.3). Daß Frauen bei einer Begrenzung der tariflichen Leistungen auf langjährig Versicherte strukturell benachteiligt wären, ist grundsätzlich richtig; zu bedenken ist hierbei allerdings, daß das Wartezeiterfordernis von 35 Jahren nicht nur durch Pflichtbeitragszeiten, sondern auch mit sog. Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung (beitragslose Zeiten bis zum 10. Lebensjahr des Kindes) erfüllt werden kann (vgl. Übersicht 1).

Kosten und Akzeptanz des Tariffonds-Modells werden schließlich auch davon beeinflußt, ob

  1. der volle versicherungstechnische Rentenabschlag (also am Ende bezogen auf das 65. Lebensjahr) oder
  2. nur der zusätzlich anfallende Abschlag für diejenigen langjährig Versicherten (und in den Fällen 1.1 und 1.2 analog auch bei den anderen Rentenarten), die vor vollendetem 63. Lebensjahr in Altersrente wechseln

auszugleichen ist (vgl. Ausführungen zu Tabelle 1). Vorstellbar wäre - als Mischform - auch eine Begrenzung des vollen Abschlagsausgleichs (2.1) auf diejenigen, die ihre Altersrente vor vollendetem 63. Lebensjahr - und nicht erst ab 63 Jahren oder später - beanspruchen. Im Ergebnis wären damit grundsätzlich sechs unterschiedliche Fallgestaltungen denkbar, von denen allerdings nur jene drei tatsächlich Relevanz für die innergewerkschaftliche Debatte haben dürften, die in jedem Einzelfall einen vollen Abschlagsausgleich vorsehen.

Rentenart
Schwerbehinderte
Frauen
Altersteilzeit
langjährig Versicherte

1. Maßgebende Alters-grenze für im Dezember 1943 Geborene

63

64

65

65

2. Abschlagshöhe bei Rente mit 60

2.1 in v.H.

10,8

14,4

18,0

18,0

2.2 in DM/Monat (1)

182,54

243,38

304,23

304,23

3. erforderlicher DM-Betrag nach § 187a SGB VI (1)

43.864,06

60.945,08

79.525,90

79.525,90

(1) DM-Beträge auf der Wertebasis 2. Halbjahr 1999 bei 35 EP mit vollendetem 60. Lebensjahr

Wäre ihr tariflicher Anspruch auf Abschlagsausgleich an die Inanspruchnahme der Rentenart für langjährig Versicherte gebunden (Kombination 1.3/2.1), so fielen die erforderlichen Fondsaufwendungen fast doppelt so hoch aus als bei Inanspruchnahme des Schwerbehinderten-Altersruhegeldes (Kombination 1.2/2.1).

Unabhängig von diesem Aspekt bliebe das Problem der Trennung der 55jährigen und älteren Beschäftigten in tariflich Berechtigte (mindestens 35 Jahre Wartezeiterfüllung) und nicht Berechtigte (unter 35 Jahre Wartezeiterfüllung). Gerade diejenigen, die über die vergangenen Monate völlig zu Recht Gerechtigkeitslücken der Bundespolitik monierten und ihre Forderung nach der "Rente ab 60" mit deren Arbeitsmarktwirkung begründen, kämen in Erklärungsnotstand: Mit welcher Begründung soll denjenigen Älteren mit weniger als 35 Jahren Wartezeit, die als Frauen oder Altersteilzeitler schon nach heutigem Recht eine Altersrente mit 60 Jahren beziehen und einen Arbeitsplatz freimachen könnten, der tarifliche Abschlagsausgleich verwehrt werden, während sie doch gleichzeitig zur Finanzierung von Fondsleistungen an diejenigen herangezogen werden, die 35 und mehr Jahre der Rentenversicherung angehört haben und daher ihre allein deshalb in der Regel höhere Rente auch noch um bis zu drei Jahre früher beziehen könnten?

Auf jeden Fall bleiben gegenwärtig noch eine Reihe von Fragen zu beantworten. So liegt es zwar in der Natur der Sache, daß etwa ältere Arbeitslose von tariflichen Rentenregelungen nicht erfaßt werden; dennoch bliebe zu klären, ob z.B. auch diejenigen ihren Anspruch auf Ausgleichszahlungen gegenüber dem Tariffonds behielten, die zwar zum Zeitpunkt der Einführung des Fonds zum künftig potenziell leistungsberechtigten Personenkreis zählen, deren Arbeitsverhältnis aber vor Erreichen des Rentenalters (z.B. wegen Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder Tod) endet. - Insgesamt ist eine berechtigte Skepsis gegenüber gewerkschaftlichen Strategien angebracht, die mit tarifpolitischen Mitteln staatlichen Sozialabbau zu kompensieren suchen; abgesehen davon, daß die Entwicklung zu einer Art "IG Reichsbund" eine nur wenig reizvolle Perspektive sein dürfte, wäre Tarifpolitik vor dem Hintergrund staatlicherseits forcierten Sozialabbaus mit der Rolle des Ausputzers völlig überfordert.

Arbeitsmarkteffekt und Verteilungswirkungen

Hinzu kommt, daß kaum ein anderer Aspekt bei der Debatte um die "Rente mit 60" so sehr überschätzt wird wie deren Arbeitsmarktwirksamkeit. Bei seiner Kosten- und Finanzierungsrechnung geht der VDR für den Fall einer flächendeckenden Realisierung des vorzeitigen Ausscheidens langjährig Versicherter aus dem Erwerbsleben von einem Berechtigtenpotenzial über den Zeitraum von fünf Jahren (2000 - 2004) in Höhe von insgesamt zwischen 1,0 und 1,2 Millionen Personen aus. Dieses Potenzial hat allerdings nichts zu tun mit dem durch die in Aussicht gestellte Neuregelung zu erwartenden maximalen Entlastungseffekt auf dem Arbeitsmarkt; denn die arbeitsmarktpolitische Relevanz einer "Rente mit 60" kann nur daran gemessen werden, welchen zusätzlichen Entlastungseffekt sie theoretisch bewirken könnte. Auch ohne Neuregelung würden während der in Frage stehenden 5-jährigen Laufzeit rd. 600.000 Personen in Rente für langjährig Versicherte gehen. Zudem würde ein Teil der verbleibenden maximal rd. 600.000 Älteren über andere Rentenarten verrentet werden. Und da auch bei einer flächendeckenden Regelung längst nicht alle Berechtigten vom vorzeitigen Rentenbezug Gebrauch machen werden beliefe sich der Kreis der über die fünf Jahre zusätzlich verrenteten Beschäftigten am Ende auf insgesamt zwischen 0,4 bis höchstens 0,5 Millionen Personen. Bei einer angenommenen Wiederbesetzungsquote von 0,5 könnten gesamtwirtschaftlich maximal rd. 250.000 Personen zusätzlich in Beschäftigung gebracht werden. - Nach Ablauf der 5jährigen gesetzlichen Sonderregelung schlüge die Entlastung am Arbeitsmarkt allerdings in ihr genaues Gegenteil um: Mindestens drei zusätzliche Jahrgänge langjährig Versicherter verharren dann länger in Beschäftigung. Auch die "Aufschieber-Quote" derjenigen, die wegen der Abschläge länger arbeiten, wird dann höher liegen als heute weil die Altersgrenzen und damit die jeweils maßgebenden Abschlagshöhen ab Ende des Jahres 2004 durchweg ihr Maximum erreicht haben werden.

Die Finanzierung des Tariffonds soll über eine paritätisch aufzubringende Umlage der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Höhe von zusammen 1% der Bruttolöhne und -gehälter erfolgen (vgl. Übersicht 2); dafür sei die IG Metall bereit, auf ansonsten höhere Lohnprozente zu verzichten und eine "planbare" Tarifpolitik für die kommende Jahre zuzusagen. Wie aber könnte von wem gewährleistet werden, daß die geforderte paritätische Fondsfinanzierung am Ende nicht stets auf eine Parität à la Pflegeversicherung hinausläuft: Auf dem Lohnzettel halbe-halbe - in Wirklichkeit aber alleine von den Arbeitnehmern getragen? - Schließlich bleibt noch die Frage, ob eine Tariffondslösung ohne Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) überhaupt vorstellbar ist. Denn ohne AVE bliebe nicht nur die Arbeitsmarktwirkung marginal - auch die Zahl derjenigen Jüngeren, die bei den Personalabteilungen der Betriebe vorstellig werden, um auf ihre Nicht-Tarifgebundenheit hinzuweisen und so vielleicht einen halben Prozentpunkt mehr für ihren Geldbeutel herauszuholen, dürfte nicht unbeachtlich bleiben.

Angesichts des Umstandes, daß ein Fonds-Modell zur Abschlagskompensation unter’m Strich mehr Probleme schafft als löst, ist und bleibt folgendes in Erinnerung zu rufen: Kein Instrument ist besser geeignet, die mit der Forderung nach "Rente ab 60" verfolgten sozialpolitischen Ziele zu verwirklichen, als die gesetzliche Rentenversicherung; dies gilt sowohl hinsichtlich der Lastenverteilung - der erforderliche höhere Beitragssatz zur paritätisch finanzierten Rentenversicherung würde die Arbeitnehmer weniger kosten als eine Fondsparität à la Pflegeversicherung - als auch hinsichtlich des Begünstigtenkreises (keine Ausgrenzung von beispielsweise Arbeitslosen oder wegen nicht erfüllter 35 Jahre Wartezeit). Notwendig sind akzeptable Lösungen für die Älteren und solidaritätsstärkende Perspektiven für die Jüngeren. Das Tariffonds-Modell verschärft demgegenüber in den Köpfen die unsägliche Konfrontationsdebatte zwischen Jung und Alt, deren verheerende Folgen sich in der Sozialstaatsdiskussion bereits aller Orten niederschlagen. Manch einer außerhalb der Gewerkschaften denkt denn auch beim anvisierten Tariffonds-Modell heute schon an übermorgen: Nach Ablauf der fünfjährigen gesetzlichen Sonderregelung ließe sich der Tariffonds beibehalten und ausbauen zu einem alleine von den Arbeitnehmern finanzierten System privater Vorsorge, von dem ja gerade auch die Jüngeren "profitierten" - denn warum soll der Zug nicht weiterfahren, wenn doch die Gleise schon liegen? Riesters Tariffonds-Modell vom Dezember vergangenen Jahres (vgl. Sozialismus Nr. 1/99) stiege wie Phönix aus der Asche. Wer in der Tarifpolitik einen solchen Fliegenfänger wie die fondsfinanzierte "Rente mit 60" aufhängt, darf sich nicht wundern, wenn er am Ende ideologisch dran kleben bleibt - so wie heute schon in Sachen Lohnnebenkosten.

Der für die "Rente mit 60" zu zahlende Preis wird hoch sein - bei den Prozenten, bei der kollektivvertraglichen Arbeitszeit und vielleicht sogar in Form eines Systemwechsels bei der solidarischen Alterssicherung. Sollten die Opas der nächsten fünf Rentenjahre mehr Zeit für ihre Enkel haben, so ist das beiden von Herzen zu gönnen. Dafür aber werden alle Vatis für weit mehr als fünf Jahre weiterhin nach der Arbeit oder Arbeitsuche zu müde zum Spielen sein.

Dieser Beitrag ist erschienen in Sozialismus Nr. 11/1999