Tarifverträge zum Schutz der Wettbewerbsfähigkeit?

Wolfgang Schaumberg/Mag Wompel

(erschienen in express 11-12/1997)

Joachim Bergmann, Erwin Bürckmann und Hartmut Dabrowski sind in ihrem Diskussionsbeitrag - „Reform des Flächentarifvertrages? Berichte aus Betrieben. Ergebnisse einer Befragung von Betriebsräten und Vertrauensleuten im Bildungszentrum der IGM Sprockhövel, Februar 1997" - im Auftrag der Arbeitsgruppe „Zukunft des Tarifvertrags" beim Vorstand der IG Metall, Abt. Tarifpolitik wohl zu ziemlich unangenehmen Ergebnissen gekommen. Jedenfalls ist ihre 123 Seiten umfassende Studie bislang nur inoffiziell im Umlauf und nur mit Mühe von der Vorstandsabteilung zu erhalten, obwohl sie als Diskussionsgrundlage für die Delegierten der tarifpolitischen Konferenz dienen sollte. Die Mühe aber lohnt sich.

„Funktion von Tarifverträgen war es, seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert, die Rechte der Lohnabhängigen zu bestärken und in rechtsverbindlicher Form festzulegen. In den gegenwärtigen Umbruchprozessen droht diese ursprüngliche Funktion des Tarifrechts hinfällig oder sogar in ihr Gegenteil verkehrt zu werden. Dies belegen eindringlich die Erfahrungen aus den Betrieben." (S. 12). Dienen Tarifverträge heute zur Schwächung der Rechte der Lohnabhängigen, zur Stärkung der Unternehmensleitungen und ihrer betriebswirtschaftlichen Ziele?

Bei der zentralen Frage nach dem Schutz vor Arbeitsplatzabbau ist das Ergebnis der Studie jedenfalls erschreckend eindeutig: mit Tolerierung der IG Metall wird auf Betriebsebene friedlicher Personalabbau organisiert. ´Beschäftigungssicherung´ heißt zwar überall das Motto. Doch mit dem inflationären Gebrauch dieses Begriffes wird sprachliche Selbsttäuschung verbreitet. In Wahrheit ist „´Beschäftigungssicherung´ gewissermaßen die positive Schlagzeile der umfangreichen Konzessionen für Kostensenkungs- und Personalabbauprogramme." (S. 16) Im „unerbittlichen Teufelskreis der herrschenden Konkurrenzlogik" (S. 14) befangen, beruhigen sich Gewerkschafter in den Betriebsräten nach gelungener Abpressung weiterer Zugeständnisse ans Management dann mit der Fesstellung, daß alles „sozialverträglich" abgewickelt werden konnte. Dabei „scheint es, als habe die IGM die Definitionskompetenz (erg. was zumutbar ist oder nicht) an die Arbeitsdirektoren und Personalvorstände der Großunternehmen delegiert." (S. 17) Bei der Befragung der 30 Betriebsräte und V-Leute (aus 28 Betrieben) hat kein einziger geglaubt, daß die Gewerkschaften an der Arbeitslosigkeit wirklich etwas ändern könnten. So kritisierten die Befragten die IGM-Politik am häufigsten mit dem Merkmal „unglaub-würdig". „Irreführende Rhetorik der ´Sicherung´ von Beschäftigung, Standorten und Arbeitsplätzen" machen die Verfasser der Untersuchung abschließend der IGM zum Vorwurf und behaupten: „Soviel hat auch noch das letzte IGM-Mitglied vom marktwirtschaftlichen Einmaleins begriffen, daß in kapitalistischen Ökonomien Beschäftigung keine autonome Zielgröße ist und daß die Gewerkschaften, auch wenn ihre Vertreter in den mitbestimmten Aufsichtsräten sitzen, keinen wirksamen Einfluß auf die entscheidenden Größen, Gewinne und Investitionen, haben." (S. 121) De facto werden also mittels der „irreführender Rhetorik" Betriebsvereinbarungen durchgesetzt und Tarifverträge „geöffnet", um den Unternehmern im Konkurrenzkampf - sprich bei der Profitsicherung - durch Kostensenkung und Personalabbau behilflich zu sein.

Eng mit der aktuellen Offensive des Personalabbaus verbunden ist die zunehmend umgesetzte Konzeption der Lean Production. Die Autoren fassen hierunter - unter der irreführenden Überschrift „Modernisierungspolitik" - die aktuellen Strategien zur Umsetzung des betrieblichen Ziels der Kostentransparenz und Einsparungen zusammen. „Um diese Ziele durchzusetzen, ist es gängige Methode, die Wettbewerbsmechanismen des `Marktes` in den unternehmensinternen Organisationsstrukturen wirksam werden zu lassen. Durch Formen `inszenierter Konkurrenz` zwischen verschiedenen Standorten oder Werken eines Unternehmens (...) und durch manipulierte Wettbewerbsvergleiche mit Zulieferern sollen Produktivitäts-, Leistungs- und Einsparpotentiale aufgezeigt und ausgeschöpft werden." (S. 25) Eine wichtige Bedingung hierfür ist die Schaffung dezentraler Einheiten, die als „quasi-unternehmerisch" bezeichnet werden (S. 26), weil „die Dezentralisierung von Verantwortung in aller Regel weiterreicht als die von Kompetenzen" (ebd.). Eine der Konsequenzen faßt ein befragter Betriebsrat zusammen: „Für uns ist es jetzt schwieriger, zentrale Regelungen umzusetzen und zu kontrollieren" (ebd.), zu den weiteren zähle ein größerer Koordinationsaufwand zur tarifvertraglichen Regelung, der zusätzlich dadurch erschwert wird, daß die widerstreitenden Bereichsegoismen auch die Betriebsräte erfassen und „auch die Interessenvertretung selbst von den Einflüssen `inszenierter Konkurrenz` infiziert wird" (S. 27), die von den Unternehmen angestrebte Entsolidarisierung also mitträgt.

Die Dezentralisierung von Funktionseinheiten und ihre Klassifizierung in „Kern- und Kannfunktionen" dient zudem dem Druck auf Auslagerung, Ausgründung und Fremdvergabe, wofür „die Unterschiede von Tariflöhnen oder betrieblicher Regelungen an anderen Standorten verantwortlich gemacht werden." (S. 29) Die „Haltelinie" (S. 34) der Betriebsräte in der hiervon v.a. betroffenen Automobilindustrie wird umschrieben als „Zulieferung bis ans Band, - aber am Band und in der Linie stehen nur unsere Leute" (ebd.) und kritisiert als eine Abwehrposition, mit der „Terrain aufgegeben, der Rückzug schon angetreten ist" (ebd.). „Damit verliert die Vorstellung vom Betrieb als einer produktionstechnischen und zugleich sozialen Einheit, die für das Interesenhandeln von Betriebsräten und Gewerkschaft immer unterstellt war, ihre reale Grundlage" (ebd.), wobei für die soziale Einheit die Belegschaft stand. Doch sowohl den Betriebsräten als auch der Gewerkschaft wird attestiert, daß „die soziale und interessenspolitische Brisanz dieser Entwicklungen ganz offensichtlich verdrängt" (S. 35) wird: „Die Fremdfirmen und ihre Belegschaften gehören eben nicht dazu und man hat mit ihnen nichts zu tun." (ebd.) Doch „ohne Konzepte und Regelungen, die einheitliche Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen sowie eine einheitliche Interessenvertretung für alle im Betrieb Beschäftigten sichern, ist auf Dauer weder eine durchsetzungsfähige Betriebspolitik noch eine erfolgreiche Tarifpolitik möglich" (S. 35f.) - aktuell ist sie es offensichtlich nicht.

Dies gilt noch offensichtlicher für den Bereich der Arbeitszeitpolitik - „Entgrenzung durch Flexibilisierung" lautet hier das Fazit bereits in der Zwischenüberschrift (S. 37), denn „nach einhelliger Auffassung all unserer Gesprächspartner haben sich in den Auseinandersetzungen um die Flexibilisierung der Arbeitszeiten die Interessen der Unternehmen auf breiter Front durchgesetzt." (ebd.) Bei den „brutal vielen" Arbeitszeitmodellen fällt auf, daß Beispiele für eine soziale Arbeitszeitgestaltung Ausnahmeregelungen darstellen, die „den absoluten Vorrang der betrieblichen Interessen (..) kaum kaschieren können" (S. 39). Die betriebliche, lage- wie dauerbezogene Vielfalt, die „zu problematischen, kaum mehr tarifkonform zu nennenden Arbeitszeiten führt" (S. 40), bedeutet „eine bedenkliche Destabilisierung der Arbeitszeitregime" (ebd.): „Die Arbeitszeitregelungen verlieren allmählich den Charakter verpflichtend gesetzter Normen, an die sich der Betrieb halten muß und auf die sich die Arbeitnehmer verlassen können." (ebd.)

Ganz besonders gilt dies für zunehmend praktizierte „Zeitkonten-Vereinbarungen", die von den Autoren in den „Grauzonen der manteltariflichen Regelungen zur Arbeitszeit" (S. 41) angesiedelt werden. "In keinem der Interviews fehlte es an dem Hinweis, daß die Vereinbarungen „mit der IG Metall abgestimmt" seien." (ebd.). Dies geschieht also mit Billigung der IG Metall, obwohl durch die Zeitkonten

Zu den praktizierten Arbeitzeitregelungen wird zudem festgestellt, daß sie, teilweise „unverhohlen" (S. 43), das Ziel der Synchronisierung der Arbeitszeiten mit unternehmerischen Absatz- und Produktionsinteressen verfolgen. Mit der „Anerkennung der an krude Marktmechanismen geknüpften Flexibilisierungsinteressen der Unternehmen (sind) die sozialen Intentionen gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik hoffnungslos unter die Räder geraten" (S. 47). Entgegen der Zielsetzung der Zeitsouveränität der Beschäftigten ist, nicht zuletzt durch zunehmende Wochenendarbeit, die „Tendenz zur `Komerzialisierung der Arbeitskraft` durch die Politik der Destabilisierung und Entgrenzung schon weit vorangeschritten (...), werden die Arbeitnehmer, reduziert auf ihre Rolle als `Träger der Ware Arbeitskraft`, den wechselnden Anforderungen der Produktion und der Märkte fungibel angepaßt." (S. 48)

Dies geschieht nicht nur in zeitlicher Hinsicht, sondern auch hinsichtlich der Leistungspolitik, was zuletzt am Beispiel der Gruppenarbeit aufgezeigt werden soll. Die Mängel der diesbezüglichen Politik werden hier bereits darin gesehen, daß sie sich "eher an arbeitstechnischen als an arbeitspolitischen Gestaltungsmaßnahmen orientieren" (S. 64), also an der soziotechnischen Arbeitsgestaltung, wodurch die IG Metall eine "problematische Koalition mit den `Wunderheil-ern` des Taylorismus" (S. 64f.) eingegangen sei. Aus diesem Grunde liefen die Ansätze der Arbeitsgestaltung "nur auf die psychische Intensivierung der Arbeit und auf einen verstärkten Anpassungsdruck hinaus." (S. 65)

Als Folge dieser Politik muß festgehalten werden, daß

- es den Unternehmen teilweise gelungen ist, "die direkte Konkurrenz mit den Gewerkschaften um die Definition und Vertretung der Arbeitnehmerinteressen" (ebd.) einzugehen und

- vielen Beschäftigten "eine individuelle `Krisensicherung` schmackhaft zu machen" (ebd.).

Entsprechend bleibt die "Definition von Sinn und Zielen der Gruppenarbeit (..) meist der Unternehmensseite oder externen Beratungsfirmen überlassen und wird nicht von der gewerkschaftlichen Interessenvertretung bestimmt" (S. 68), weshalb hier, angesichts der Umsetzung von Gruppenarbeit als ein "manipulatives Programm" (S. 72), als "ein mehr oder weniger diffuses Indoktrinations- und Aktivierungsprogramm, das die Konkurrenz in den Arbeitsbeziehungen fördern und den Anpassungsdruck verstärken soll" (S. 69), die "resignativ umschlagende gewerkschaftliche Desorientierung besonders drastisch" (ebd.) erscheint. Den Autoren der Studie erscheint es dabei als "erstaunlich, mit welcher Gelassenheit und Distanz selbst Betriebsräte die schleichende Aushöhlung und Umdeutung der angeschlossenen Vereinbarungen zur Gruppenarbeit hinnehmen und teilweise auch rechtfertigen." (S. 73)

Insgesamt sehen die 3 Verfasser der Untersuchung folgende Problemlagen:

Auf allen geschilderten Gestaltungsfeldern reagiert die IG Metall auf die Angriffe gegen den Flächentarifvertrag „nur defensiv, läßt sich von den Arbeitgeberverbänden die Problemdefinitionen vorgeben, und daher bleibt ihre Argumentation in allen wesentlichen Momenten der neoliberalen Hegemonie verhaftet." (S. 119) Begriffe wie „Reform des Flächentarifvertrags", „Modernisierung der Tarifpolitik", „Öffnung der Tarifverträge, oder „Branchenfenster" sind wohl eher Euphemismen aus der PR-Abteilung von Gesamtmetall - als ob z.B. „Branchen-fenster" eine Aussicht auf eine bessere Zukunft eröffnen würden -, meinen aber nichts anderes als die Senkung der Arbeitskosten zur angeblichen Verringerung der Arbeitslosigkeit durch Sicherung des „Standorts Deutschland". „Aber die Sprecher der IG Metall, so scheint es, haben diese Begriffe unbesehen übernommen." (S. 120) So trägt man „zur Desorientierung bei den Mitgliedern, auch bei den aktiven" bei (S. 122).

Die Schlußfolgerung der Autoren und damit ihre Forderung für eine radikale Veränderung der IGM-Politik sieht wie folgt aus:

Positiv beurteilen sie ihr Untersuchungsergebnis, daß „die innerhalb der IG Metall kursierenden Vorschläge zur ´Reform des Flächentarifvertrages´ auf ziemlich einhellige Ablehnung stoßen (...) Den ´Machtspielen´ und ´Pressionen´ von Konzernvorständen und Geschäftsleitungen wür-den Tür und Tor geöffnet, weit mehr noch, als es schon gegenwärtig der Fall ist, könnten von Betriebsräten Konzessionen erzwungen werden." (S. 104) Hierzu wird ein befragter Betriebsrat zitiert: „Wenn man Ausnahmen regelt, dann haben wir bald nur noch Ausnahmefälle." (S. 105) Alle Diskussionspartner hätten bemängelt, „daß die IG Metall nicht gegensteuert" (S. 100) und „die IG Metall-Politik sei zu moderat, antizipiere in den Forderungen schon die Konzessionen, gebe Erreichtes ohne Not preis, riskiere keine Urabstimmungen mehr, sei eben nicht mehr kämpferisch." (S. 102) Allerdings beurteilen die Interviewer die Mehrzahl der Befragten als „illusionslose Praktiker", ,,für die die Beschränkung der Wahrnehmung auf den jeweiligen Betrieb" typisch sei und bei denen sich zum Teil schon die „Managementperspektive in den Köpfen zu zementieren" begonnen hätte (S. 110). Die Minderheit „engagierter Metaller" (z.T. mit der Tendenz zur Basisdemokratie) verlange ausdrücklich eine kämpferischere IG Metall (vgl. S. 111), ausgehend von „einem voluntaristischen Impuls" (S. 112), daß die Mitglieder, jedenfalls in ´ihrem´ Betrieb, „eine `kämpferische IG Metall´ auch unterstützen würden." (ebd.)

Die angesprochene „Desorientierung bei den Mitgliedern (...) zeigt sich vor allem darin, daß interessenbezogene Deutungen der gegenwärtigen Krisensituation auch bei den engagierten Gewerkschaftern nur rudimentär vorhanden sind oder aber völlig fehlen. Daß die gebeutelten und desillusionierten Betriebsräte und auch viele Vertrauensleute die Propaganda der Unternehmensleitungen mitsamt dem Jargon der Betriebsberater reproduzieren, aber nicht durchschauen, kann daher nicht überraschen. Der gewerkschaftlichen Desorientierung entgegenzuarbeiten hieße vor allem, (...) Klartext zu reden, (...) der neoliberalen Hegemonie eine eigene Analyse und Diagnose der gegenwärtigen ökonomischen und gesellschaftlichen Krise entgegenzustellen, die die Interessen von Lohnarbeit und Kapital wieder ins Zentrum rückt." (S. 122)

Diesem Fazit ist nichts entgegenzusetzen. Problematischer erscheint uns die daraus gezogene Schlußfolgerung. Es ist nämlich "die IG Metall" - und gemeint ist der Vorstand, die „beim Wort nehmen (sollte) - was nämlich mit dem Begriff ´Kapitalismus´ gemeint war und auch heute wieder gemeint ist: arbeitsloses Kapitaleinkommen, ´shareholder value´. Das heißt, daß die alten Fragen sich erneut stellen und neue Antworten verlangen, die freilich die alten Antworten nicht beiseite lassen können." (S. 122f.)

Hier sind nun unsererseits einige Fragen an die drei Autoren zu richten: