Joachim Kreimer-de Fries

Tarifkooperation der Gewerkschaftsbünde BeNeLux-Deutschland: Die "Erklärung von Doorn"*

 

Mit der Einführung der gemeinsamen Währung EURO am 1. Januar 1999 ist endgültig die Möglichkeit weggefallen, tariflich verursachte Wettbewerbsvor- oder nachteile einer nationalen Wirtschaft gegenüber anderen Ländern durch Wechselkursveränderungen der beteiligten Währungen auszugleichen. Wurden nationale Strategien der sozialen und tariflichen Unterbietungskonkurrenz in früheren Zeiten durch nachfolgende Veränderungen der Währungskurse mittelfristig in einem gewissen Maße korrigiert und daher ihre Folgen für die Nachbarländer abgemildert, wirken sie sich nunmehr ungedämpft auf die wechselseitige Konkurrenzfähigkeit und damit in einer grenzüberschreitenden Verschiebung von Arbeitsplätzen aus.

Die Konsequenz für den Kurs der Gewerkschaften liegt auf der Hand:

Die Forderung nach EU-weiten sozialen Mindeststandards war im Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) nie umstritten, seit etwa zehn Jahren wird "im Prinzip" auch die Notwendigkeit einer Europäisierung der Tarifpolitik diskutiert. Dabei stehen allerdings sehr unterschiedliche Vorstellungen und Konzepte neben- und teilweise gegeneinander, die man idealtypisch in die folgenden beiden Ansätze auseinanderlegen kann:

  1. Der zentralistisch-institutionelle Ansatz sieht den Ausgangspunkt zur Entwicklung eines europäisches Arbeitsbeziehungssystem und gemeinschaftsweiter Mindeststandards bei Arbeitsbedingungen auf der übersektoralen Ebene des von der Kommission geförderten europäischen Sozialdialogs zwischen EGB und Arbeitgeberseite. Sozialpartnervereinbarungen auf Gemeinschaftsebene nach dem Maastrichter Sozialprotokoll (das mittlerweile Teil des Amsterdamer Vertrages geworden ist) gelten in diesem Konzept als zentrales Instrument zur europaweiten Regelung von Mindestarbeitsbedingungen. Auf Vorschlag der Kommission können derartige Vereinbarungen durch den (Minister-)Rat der EU in Form einer Richtlinie beschlossen werden. Sie müssen dann von den Mitgliedstaaten gesetzlich (in einigen Mitgliedstaaten ggf. durch Kollektivverträge) umgesetzt werden. Darüber hinaus ist in diesem Ansatz die Möglichkeit vorgesehen, diese Abkommen/Richtlinien sektoral (europäisch oder national) zu ergänzen und zu konkretisieren (was in der Praxis noch nicht geschehen ist) - also gewissermaßen ein kaskadisches Verhandlundlungs- und Regelungssystem von oben (supranational) nach unten (national und ggf. sektoral) aufzubauen.
  2. Der autonom-tarifpolitische Koordinierungsansatz geht von der vorhandenen (sektoralen und nationalen) Verhandlungsmacht der Gewerkschaften aus. Innerhalb der europäischen sektoralen Gewerkschaftsföderationen sowie in nachbarschaftlichen Kooperationsnetzen mehrerer nationaler Gewerkschaftsbünde sollen gemeinsame tarifpolitische Ziele formuliert werden, die dann in den unterschiedlichen kollektiven Verhandlungsstrukturen durch- und umzusetzen sind. Im Gegensatz zu den eher "weichen" Themen und minimalistischen Zielen der Sozialpartnervereinbarungen stehen im Koordinierungsansatz eher "harte" tarifpolitische Gegenstände wie Lohn- und Arbeitszeitentwicklung im Vordergrund. Grenzüberschreitende tarifpolitische Koordinierung geht unmittelbar das Problem der transnationalen Unterbietungskonkurrenz an. Transnationale oder europäische Verhandlungs-Strunkturen oder gar supranationale Tarifverträge können nach diesem Ansatz allenfalls aus einer erfolgreichen gewerkschaftlichen Koordinierung, ausgehend von Sektoren und Ländergruppen, erwachsen.

Diese idealtypischen Alternativen sind selbstverständlich nicht als einander ausschließende Gegensätze zu verstehen: weder sollen - nach dem zentralistisch-institutionellen Ansatz - die vorhandenen nationalen Tarifsysteme rückstandslos in ein kaskadisches europäisches Sozialpartnersystem aufgehen, noch bestreitet der Kooperationsansatz die Möglichkeit, Regelungsinstrumente der europäisch-institutionellen Ebene (Richtlinienvorschläge der Kommission und Sozialpartnervereinbarungen) für Mindestregelungen zu nutzen. Es geht vielmehr um unterschiedliche Herangehensweisen und Schwerpunkte verhandlungspolitischer Europäisisierungstrategien. Die seit 1991 im EGB hierüber geführte Debatte März 1993 ihren vorläufigen Niederschlag in einem vom Exekutivausschuss verabschiedeten Strategiepapier zur europäischen Kollektivverhandlungspolitik, in dem sich Elemente beider Ansätze wiederfinden. Allerdings spielte der dezentrale autonom-tarifpolitische Koordinierungsansatz bis Ende 1998 im EGB kaum mehr eine Rolle. Bei den arbeits- und sozialpolitischen Forderungen und Diskussionen ging es in diesen Jahren fast ausschließlich um das Aufgreifen von Kommissionsinitiativen durch Vereinbarungen der Sozialpartner mit dem Ziel einer vom Rat zu beschließenden Richtlinie.

 

"Verhandelte Sozialgesetzgebung" - arbeitgeberlastig und am Parlament vorbei?

Für die rechtsgültige Setzung allgemein verbindlicher Mindestarbeitsbedingungen gibt es in der EU nach wie vor letztlich nur den gesetzlichen Weg: die Verabschiedung einer Richtlinie durch den Rat aufgrund eines Vorschlages der Kommission. Wenn hierbei bisher nur wenige und zumeist bescheidene Regelungen erreicht wurden, so liegt das weniger an der mangelnden Bereitschaft der Kommission, Beschäftigteninteressen und Gewerkschaftsforderungen in ihren Richtlinienvorschlägen zumindest in gewissem Maße zu berücksichtigen, sondern an der mangelnden Zustimmung einiger Regierungen im Rat, die auf Grund der erforderlichen "qualifizierten Mehrheit" bzw. Einstimmigkeit Richtlinien leicht blockieren können. An dieser Hürde hat sich durch den Maastrichter und den Amsterdamer Vertrag im Prinzip nichts geändert. Die institutionelle, verhandlungspolitische Neuerung seit dem Maastrichter Sozialprotokoll besteht darin, dass die Sozialpartner auf der Gemmeinschaftsebene die Möglichkeit erhalten haben, der Kommission die Ausarbeitung eines Richtlinienvorschlags zu bestimmten Arbeitsbedingungen aus der Hand zu nehmen, um selbst über den Gegenstand zu verhandeln und gegebenenfalls eine Vereinbarung zu schließen. Wenn eine Vereinbarung zustande kommt, kann die Kommission diese als Richtlinienvorschlag an den Rat weiterleiten, der ihn in Kraft setzen oder verwerfen kann. In einem solchen Fall hat das Europäischen Parlament keinerlei Mitwirkungs- oder Vetorechte.

Das Instrument der europäischen Sozialpartnervereinbarung, das formal den europäischen Sozialpartnern Verhandlungskompetenz und gewissermaßen ein (gemeinsames) Gesetzesinitiativrecht gibt, hat in der Praxis einen sozialpolitischen "Pferdefuß": die Arbeitgeber nutzen diese Möglichkeit erklärtermaßen mit dem Ziel,

Der von der EU-Kommission und den am sozialen Dialog beteiligten "Sozialpartnern auf der Gemeinschaftsebene" als enorme Errungenschaft hochgehaltene "Verhandlungsweg" für Gesetzesinitiativen stärkt zweifellos die Rolle "der" Sozialpartner im institutionellen Gefüge der EU (zu Ungunsten des Europäischen Parlamentes), macht die Regelungs-Inhalte allerdings hochgradig vom Einverständnis der Arbeitgeber abhängig. Soweit es sich bei den um Gegenstände handelt, bei denen eine hinreichende Übereinstimmung der Regelungsvorstellungen beider Sozialpartner besteht, ist der Rückgriff auf diesen Initiativweg sozial unproblematisch. Als ein solcher Fall kann die Sozialpartnervereinbarung zum Elternurlaub gewertet werden. Als vom Rat beschlossene Richtlinie führte die Elternurlaubsvereinbarung zu dem zwar geringfügigen aber EU-weit geltenden Recht beider Eltern auf je ein Vierteljahr unbezahlten Freistellung. Hingegen sind vom Standpunkt der Beschäftigteninteressen Sozialpartnervereinbarungen bei solchen Regelungsgegenständen problematisch, bei denen die Interessen und Forderungen beider Seiten deutlich gegensätzlich sind. Denn die Gewerkschaftsseite hat auf absehbare Zeit weder rechtlich noch faktisch auf der übersektoral-europäischen Ebene die Möglichkeit, die Arbeitgeber nötigenfalls durch effektiven Druck — etwa einen europäischen Arbeitskampf - zu substantiellen Mindestregelungen zu bewegen. Die kritische Analyse der Rahmenvereinbarungen zur Teilzeitbeschäftigung1) und zu befristeten Arbeitsverhältnissen belegt meines Erachtens die skizzierte Problematik.

Ganz abgesehen davon, dass Lohnfragen aus dem Geltungsbereich des Sozialkapitels des EU-Vertrages von vornherein ausgenommen sind, kann die dem EGB direkt zur Verfügung stehende Verhandlungsebene des übersektoralen sozialen Dialogs zur eigentlichen Herausforderung — Verhinderung grenzüberschreitender Sozial- und Tarifunterbietung - allenfalls Marginales beitragen.

Demgegenüber erscheint die autonom-tarifpolitische Koordinierung der erfolgversprechendere Ansatz zur Europäisierung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik und zur Verhinderung von nationaler Unterbietungskonkurrenz bei Lohn und Arbeitsbedingungen. Während die sektorale Koordinierung am Beispiel der Metallgewerkschaften den Schwerpunkt dieses Buches bildet, geht es in diesem Beitrag um die Rolle der übersektoralen "Dachverbände", der Gewerkschaftsbünde am Beispiel der tarifpolitischen Kooperation BeNeLux-Deutschland ("Doorn-Initiative").

 

Die tarifpolitische Zusammenarbeit Benelux-Deutschland

Seit 1987 sind die Währungen Deutschlands und Frankreichs, Belgiens und der Niederlande, Dänemarks und Österreichs in ihrem Wechselkurs bereits fest aneinander gebunden (Festwährungsblock/D-Mark-Block). An sich hätte die Notwendigkeit einer auf parallele Lohnstückkostenentwicklung abzielenden koordinierten gewerkschaftliche Tarifpolitik in dieser "kleinen Währungsunion" seitdem schon ebenso bestanden wie jetzt für die Euroländer. Faktisch haben sich die Gewerkschaften dieser Länder ebenso wie die aller EU-Länder (wie in diesem Buch dargestellt) an der wettbewerbsorientierten Tarifpolitik durch Nichtausschöpfung der kostenneutralen Verteilungsspielräume gewollt oder ungewollt beteiligt (vgl. Tabelle 1). Gleichwohl bildet die Erfahrung der kleinen Währungsunion ein wichtigen Grund dafür, dass die tarifpolitische Zusammenarbeit der nationalen Gewerkschaftsbünde innerhalb des Kreises dieser Länder konkret begonnen wurde.

 

Tabelle 1: (Nicht-)Ausschöpfung des "kostenniveauneutralen" Verteiliungsspielraums*

 
1993
1994
1995
1996
1997
1998**
Belgien
+0,9
-1,7
-0,4
-2,3
-0,9
-0,8
Deutschland
-0,3
-2,7
-0,1
-2,1
-3,8
-2,4
Frankreich
+0,8
-2,8
-0,2
-0,8
-1,1
-0,1
Luxemburg
-5,9
+0,2
-1,2
-0,3
-0,9
+0,1
Niederlande
+0,3
-3,6
-0,2
-0,7
-0,6
-0,6
EU 15
-1,4
-3,1
-1,4
-0,8
-1,2
-0,8

* Salso des "nomineller Verteilungsspielraum" (Jährliche prozentuale Veränderndes BIP je Erwerbstätigen + Preisdeflator des privaten Verbrauchs) und der jährlichen prozentuale Veränderung der Einkommen aus unselbständiger Arbeit je Beschäftigten

** geschätzt

Quelle: EU-Kommission zit n. Schulten in diesem Band.

 

Ausgangspunkt der Initiative war 1996 eine Anfrage der beiden belgischen Gewerkschaftsbünde an den DGB und die niederländischen Bünde. Anlass war die von der belgischen Regierung — nach dem Scheitern von Sozialpaktverhandlungen - erlassene gesetzliche Lohnnorm, welche die (laut OECD-Prognose) zu erwartende durchschnittliche Lohnzuwachsrate in den drei wichtigsten Handelspartnerländern Deutschland, Frankreich und Niederlande die Obergrenze für die von den belgischen Tarifparteien auszuhandelnden Tariferhöhungen für 1997/1998 setzte. Aufgrund dieses staatlichen Eingriffs in die Verhandlungsfreiheit hatten die belgischen Bünde ein besonderes Interesse an der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaftsbünden der Nachbarländer. Bemerkenswert ist allerdings, dass die belgischen Gewerkschaften trotz der staatlich aufgezwungenen "Lohnnorm" in den Jahren 1997/98 den neutralen Verteilungsspielraum höherem Maße für Tariferhöhungen ausschöpfen konnten als die deutschen. (vgl. Tabelle 1)

Aus den durch die belgische Initiative veranlassten Kontakten mit dem DGB und den niederländischen Bünden wurde die Idee geboren, durch regelmäßigen Informationsaustausch das wechselseitige Verständnis des Tarifgeschehens zu fördern, Fehlinterpretationen von Tarifabschlüsse entgegenzuwirken und mittelfristig einzelne gemeinsame Ziele zu formulieren — ein eher bescheidenes Vorhaben. Das Problem der grenzüberschreitenden Tarifunterbietung wurde zwar angesprochen, aber noch nicht in Angriff genommen.

Auf Einladung der beiden belgischen Gewerkschaftsbünde fand dann unter Beteiligung der beiden niederländischen Bünde und des DGB ein erstes Kooperationstreffen auf Vorstandsebene in den belgischen Ardennen Ende Juni 1997 statt. Auf dieser Konferenz wurde die beschäftigungspolitische Fragwürdigkeit einer "koordinierten Lohndämpfungspolitik" diskutiert und die Idee der transnationalen Zusammenarbeit konkretisiert: eine seither regelmäßig zusammentretende Expertengruppe wurde eingerichtet, die den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit koordiniert und auch die jährlichen "Gipfeltreffen" vorbereitet. Die wechselseitige Einladung zu den jeweiligen nationalen tarifpolitischen Koordinierungsgremien wurde vereinbart. Zu konkreten Zielabsprachen für die nationalen Tarifrunden kam es jedoch nicht.

 

Der entscheidende Schritt: die Erklärung von Doorn

In den Monaten vor dem (zweiten) Gipfeltreffen im niederländischen Doorn (4./5. September 1998) ging es in der transnationalen Expertengruppe vor allem um Inhalte einer gemeinsamen Erklärung der Teilnehmer, in der erstmals auch gemeinsame Ziele der nationalen Tarifverhandlungen niedergelegt werden sollten. Dabei wurden die gewerkschaftlichen Diskussionen von auch keynesianisch orientierten Wissenschaftlern beeinflußt, deren ökonomische und politische Analysen zu den lohn- bzw. tarifpolitischen Konsequenzen der europäischen Währungsunion im Zuge des politischen Klimawechsels in Europa erstmals wieder eine stärkere öffentliche Aufmerksamkeit fanden.

Es war klar, dass die Vermeidung von tariflicher Unterbietungskonkurrenz im Zeichen des europäischen Binnenmarktes und des EURO ein europaweites Anliegen ist, die Beteiligten hielten es aber für erfolgversprechender, zunächst in einem kleinen Kreis von Ländern zu konkreten Ergebnissen zu kommen.

An dem Treffen in Doorn nahmen alle Gewerkschaftsbünde der BeNeLux-Länder und Deutschlands, die größten sektoralen Mitgliedsgewerkschaften sowie die Angestelltengewerkschaften mit ihren Vorsitzenden bzw. den für Tarifpolitik verantwortlichen Vorstandsmitgliedern teil. Themen der Debatte waren: sozialökonomische Rahmenbedingungen der Tarifpolitik, Entwicklung der Einkommensverteilung in den letzten Jahren, Makroökonomische Prognosen für 1999, Abschätzung des verteilungsneutralen Spielraums in den beteiligten Ländern, bereits absehbare gewerkschaftliche Forderungen für die Tarifrunde 1999, Identifizierung gemeinsamer Forderungen sowie die Diskussion und Verabschiedung der "Erklärung von Doorn".

Kernpunkt der Doorner Erklärung ist die Verabredung einer gemeinsamen Orientierungsformel für die anzustrebenden Tarifabschlüsse:

"Die Steigerung der Arbeitsproduktivität", so heißt es in der Erklärung, "ist in den beteiligten Ländern - wie in Europa insgesamt - einseitig der Kapitalseite zugute gekommen, der Anteil der abhängig Beschäftigten am Volkseinkommen (Lohnquote) ist herabgesunken." Eine Fortsetzung dieser Tendenz der gesamtwirtschaftlichen Einkommensverteilung sei gesellschaftlich und ökonomisch nicht zu verantworten. Die teilnehmenden Gewerkschaftsorganisationen setzen sich für eine "Trendveränderung zu Gunsten der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen" ein.

  1. "Die beteiligten Gewerkschaften streben ein tarifliches Abschlussvolumen an, das der Summe aus Preisentwicklung und Steigerung der Arbeitsproduktivität entspricht.
  2. Die teilnehmenden Gewerkschaften streben sowohl eine Stärkung der Massenkaufkraft als auch beschäftigungswirksame Maßnahmen (z. B. Arbeitszeitverkürzung) an.
  3. Die beteiligten Organisationen werden sich regelmäßig über die tarifpolitische Entwicklung informieren und konsultieren."

Erklärtes Ziel der angekündigten lohnpolitischen Abstimmung sei die Verhinderung von tariflicher Unterbietungskonkurrenz. Die teilnehmenden Organisationen "verstehen diese nachbarschaftliche Initiative als einen Schritt auf dem Wege zu einer europäischen Zusammenarbeit im Bereich der Tarifverhandlungen."

Darüber hinaus werden in der Erklärung gemeinsame Forderungen zur Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolik, Weiterbildung und Humanisierung der Arbeit, Sozial- und Steuerpolitik formuliert. Der harte Kern - im Hinblick auf die Vermeidung von Unterbietungskonkurrenz - ist aber zweifellos die tarifliche Orientierungsformel:

Tarifabschlussvolumen = Preisentwicklung + Produktivitätssteigerung

Der Charme dieser Formel ist ihre universelle Anwendbarkeit. Es wurde bewußt keine Prozentzahl vereinbart, um auf die möglicherweise unterschiedliche Produktivitätsentwicklung in verschiedenen Ländern Rücksicht zu nehmen. Da die Lohnstückkosten in ihrer Entwicklung nicht nur durch die nominelle Erhöhung der Arbeitskosten bestimmt sind, sondern auch durch die Bewegung von Geldwert und Produktivität (die Wertschöpfung je Arbeitsstunde), kann ein gemeinsames Tarifabschlussziel, das eine parallele Lohnstückkostenentwicklung gewährleisten soll, nur in Abhängigkeit von der jeweils nationalen Preis- und Produktivitätsentwicklung definiert werden. Die in Doorn vereinbarte Formel leistet dies und gewährleistet darüber hinaus, wenn sie umgesetzt wird, eine anteilige Beteiligung der abhängig Beschäftigten an der Steigerung der Arbeitsproduktivität. Sie verändert nicht die bestehenden nationalen Unterschiede im Lohn- bzw. Arbeitskosten-Niveau zwischen den beteiligten Ländern (es sei denn auf Basis sich annähernder Produktivitäten), noch korrigiert sie die in der Vergangenheit erfolgte Verschiebung der Einkommensverteilung zugunsten der Unternehmen und der Kapitalbesitzer.

Die Stoßrichtung der Erklärung (eine Art Selbstverpflichtung der beteiligten Gewerkschaften) ist also konzentriert auf die Verhinderung von tariflicher Unterbietung, wobei die vereinbarte Formel der Orientierung dient. Niemand wird eine Gewerkschaft kritisieren, wenn sie besonders günstige Bedingungen ihres Wirtschaftszweiges ausnutzt, um einen höheren Abschluß zu tätigen. Außerdem bietet die Formel volle Flexibilität bei der Frage, ob und in welchem Verhältnis das angestrebte Abschlussvolumen auf Reallohnerhöhungen und/oder Arbeitszeitverkürzungen (oder andere kostenwirksame beschäftigungswirksame Maßnahmen) aufgeteilt werden soll.

Wenn es den beteiligten Gewerkschaftsorganisationen in der Tarifrunde 1999 und danach gelingt, die vereinbarte Formel in den Tarifabschlüssen durchzusetzen, wenn die Initiative zudem von den Gewerkschaftsbünden anderer europäischer Länder sowie den sektoralen europäischen Gewerkschaftsverbänden aufgegriffen werden sollte, so liefe das in zweierlei Hinsicht auf eine Wende in der europäischen Tarifpolitik hinaus: zum Einen hätten die Gewerkschaftsorganisationen mehrerer Länder erstmals durch grenzüberschreitend koordiniertes Handeln die Lohn- und Arbeitsbedingungen als Mittel des Konkurrenzkampfes den nationalen Kapitalen entzogen, zum Andern wäre das ein bedeutsamer Schritt zur Wiederaneignung der in den sechziger und siebziger Jahren erfolgreich betriebenen produktivitätsorientierten Reallohnpolitik unter erschwerten ökonomisch-politischen Bedingungen. Darüber hinaus belegt die Benelux-Deutschland-Kooperation, dass die nationalen gewerkschaftlichen Dachverbände in diesem Prozess eine fördernde Rolle spielen können.

 

Chancen der Verallgemeinerung in der EU?

Die Erklärung von Doorn fand in der deutschen Presse und in der europäischen Gewerkschaftslandschaft eine beachtliche Aufmerksamkeit. Vereinzelt bekundeten Gewerkschaftsbünde weiterer Länder ein grundsätzliches Interesse, sich an solcher Art Initiativen zu beteiligen (dänische, französische, italienische Bünde). Das EGB-Sekretariat begrüßte die Idee mehrseitiger Initiativen als "ein Beginn, der weitergeführt werden sollte" und setzte - erstmals seit 1993 - das Thema der europäischen Koordinierung wieder auf die Tagesordnung des EGB-Ausschuss Arbeitsbeziehungen/Tarifverhandlungen. Auf der Sitzung dieses Ausschusses am 1. Dezember 1998 wurde deutlich, dass eine Mehrheit der nationalen und sektoralen Mitgliedsorganisationen die Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden tarifpolitischen Kooperation unter den Bedingungen des EURO anerkennt - was allerdings noch wenig über die Aussichten ihrer Verwirklichung aussagt. Hindernisse auf dem Weg dahin sind nicht nur die traditionell nationale Orientierung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik, sondern auch die Tatsache, dass es in mehreren Ländern bislang nicht einmal eine nationale Koordinierung gibt. In einzelnen Ländern gibt es schließlich kaum noch oder gar keine überbetrieblichen Tarifregelungen mehr. Zudem gibt es bei einigen Gewerkschaftsvertretern auch grundsätzliche Vorbehalte gegenüber dem Weg der regionalen nachbarschaftlichen Kooperation und gegenüber der Tarifabschlussformel von Doorn. Alternativ dazu halten sie den übergreifenden europäischen Sozialdialog und eine Weiterführung der Lohnmäßigungspolitik für den richtigeren Weg.

Verstärkt wurde das von Doorn ausgehende Signal durch die von einer Konferenz des Europäischen Metallgewerkschaftsbundes (EMB) im Dezember 1998 verabschiedete tarifpolitische "Koordinierungsregel", die ebenfalls die Ausschöpfung der jeweils nationalen verteilungsneutralen Spielräume aus Preis- und Produktivitätsentwicklung als Referenzpunkt für die Lohnpolitik aller europäischen Metallgewerkschaften proklamiert. Wann und wie viele andere sektorale europäische Gewerkschaftsverbände diesem Beispiel folgen, ist zur Zeit noch nicht absehbar. Die Absichten dazu wurden durchaus bekundet: Ein gemeinsames Seminar der sektoralen EGB-Organisationen am 7./8.September 1998 in Keutschach (Österreich) zu diesem Thema empfahl allen vertretenen sektoralen Organisationen als ersten Schritt die Einrichtung europäischer Tarifpolitischer Ausschüsse.

Als gewiss kann wohl gelten, dass das Erfordernis der europäischen Tarifkoordinierung im EGB mehrheitlich anerkannt und die Weiterbehandlung dieses Thema im Jahre 1999 gesichert ist: gedacht ist an eine Reihe regionaler Seminare, die im Herbst 1999 mit einer "Synthesekonferenz" und der Verabschiedung eines neuen Strategiepapiers zur Europäisierung der Tarifpolitik ihren Abschluss finden könnte. Darüber hinaus soll das Thema Gegenstand einer Entschließung des EGB-Kongresses im Juni 1999 werden. In diesem Prozess dürfte der konzeptionelle Gegensatz zwischen dem zentralistisch-institutionellen und dem autonom-koordinierenden Ansatz der tarifpolitischen Europäisierung dabei erneut wirksam werden. Die im Vorfeld des Kongresses in die Diskussion gebrachte Idee, mit den europäischen Arbeitgebern ein Rahmenabkommen zu "autonomen Verhandlungen" auf europäischer Ebene zu vereinbaren, dürfte wohl eher dem zentralistisch-institutionellen Denkansatz zuzuordnen sein. Der gewerkschaftliche Anspruch an eine autonome europäischer Tarifkoordinierung hingegen muss das Problem der Unterbietungskonkurrenz im Blick behalten und daher erheblich über das hinausgehen, was mit Sozialpartnervereinbarungen im Rahmen des sozialen Dialogs erreicht werden kann.

EU-weite Tarifkoordination im engeren Sinn kann realistisch nur durch die sektoralen Föderationen angestrebt werden. Der EGB kann diese Prozesse politisch unterstützen und zusammenfassen. Dabei wird es kaum um konkreten Vorgaben für Tarifrunden gehen können, sondern um die Verabredung allgemeine Ziele der Tarifpolitik wie Arbeitszeitverkürzung, produktivitätsorientierte Reallohnpolitik u. ä. Autonome europäische Tarifverträge wird es auf absehbare Zeit selbst sektoral kaum geben, es erscheint auch fragwürdig, ob sie angestrebt werden sollten. Erst recht gilt dies für gesamtwirtschaftliche europäische Tarifverträge.

 

Doorn-Initiative - wie weiter?

Sowohl in Deutschland als auch in den Benelux-Ländern dürfte im Jahre 1999 das mit der Tarifabschlussformel von Doorn gesetzte Ziel der Ausschöpfung des verteilungsneutralen Spielraums, zumindest im jeweiligen nationalen Durchschnitt, erreicht werden. Jedenfalls stimmen die ersten deutschen Tarifabschlüsse für die Metall- und Elektroindustrie sowie für den öffentlichen Dienst hier zuversichtlich. Die in Belgien in einem Rahmenabkommen der Sozialpartner Ende 1998 als Empfehlung vereinbarte Tariferhöhungsmarge 1999/2000 erfüllt den in der Doorner Erklärung formulierten Anspruch ebenso wie die von den niederländischen Gewerkschaftsbünden aufgestellten Erhöhungsmargen für die sektoralen Tarifverträge.

Diesen gewerkschaftlichen Erfolg in der laufenden Tarifrunde der beteiligten Länder auf die Doorner Erklärung ursächlich zurückzuführen, wäre gewiss eine Überschätzung ihrer Wirkungskraft. Ihre Bedeutung dürfte realistisch eher so zu beschreiben sein, dass sich die gewerkschaftlichen Tarifpolitiker der vier Länder mit der Verabschiedung der Orientierungsformel ihre für die Tarifrunde 1999 ohnehin bestehenden Absichten wechselseitig bekräftigt haben. Dies geschah jedoch in einer nicht auf das Jahr 1999 beschränkten Weise, sondern als strategische Willenserklärung auch für die Zukunft. Zugleich hat die innergewerkschaftliche Verbreitung der Erklärung das Bewusstsein für die grenzüberschreitende, europäische Dimension des eigenen tarifpolitischen Handels geschärft. Die erfolgreiche Einlösung des Tarifabschlussziels im Jahre 1999 und die geschaffenen Informations- und Kooperationsstrukturen könnten gegebenenfalls einen Rückfall der beteiligten Organisationen in die transnationale Unterbietungskonkurrenz wohl kaum verhindern, dürften ihn jedoch aufgrund eines erhöhten wechselseitigen Rechtfertigungsdrucks erschweren. Insofern kann Erklärung von Doorn als eine Art konstitutioneller Grundlage, gewissermaßen als bleibende "Verfassung" der grenzüberschreitenden Tarifkooperation gelten.

Mit der Tarifrunde 1999 ist die Bewährungszeit der Initiative keineswegs abgeschlossen. Die Nagelprobe steht vielmehr dann ins Haus, wenn die Wirtschaftskonjunktur in Europa erneut in rezessives Fahrwasser kommt und die Gewerkschaften der beteiligten Länder sich wieder unter den verstärkten Druck sehen, im (kurzfristigen) Interesse der nationalen Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung auf Kosten der Nachbarn wieder vom Pfad der produktivitätsorientierten Tarifpolitik und der grenzüberschreitenden Koordinierung des angestrebten Abschlussvolumens abzugehen.

Die politische Auseinandersetzung mit dem absehbaren Problem, wie die verabredete tarifpolitiche Strategie auch unter wieder erschwerten Bedingungen weiter umgesetzt werden kann, ist daher eine grundlegende Aufgabe bei der Weiterführung und Vertiefung der Doorn-Initiative. Ohne eine solche "Bestandssicherung" im Sinne produktivitätsorientierter Tarifpolitik bestünde bei der geplanten Konkretisierung in Bezug auf einzelne Regelungsgegenstände die Gefahr der Entpolitisierung und Unverbindlichkeit der Kooperation.

Auf dem für September 1999 in Deutschland geplante dritten "Gipfeltreffen" der Initiative werden die gewerkschaftlichen Tarifpolitiker im Lichte der Doorner Erklärung die Ergebnisse der Verhandlungsrunde in den verschiedenen Ländern bilanzieren und über die weitere Zusammenarbeit zu beraten. Dabei dürften verschlechterte ökonomischen Rahmenbedingungen für das Tarifjahr 2000, die Konkretisierung der beschäftigungspolitischen Ziele durch Arbeitszeitverkürzung und andere Maßnahmen (auch vor dem Hintergrund des von der deutschen Ratspräsidentschaft vorgeschlagenen EU-Beschäftigungspaktes) sowie die Frage von etwaigen tarifpolitischen Auswirkungen des deutschen "Bündnisses für Arbeit" eine Rolle spielen.

 

1) vgl. Kreimer-de Fries, J., EU-Teilzeitvereinbarung - kein gutes Omen für die Zukunft der europäischen Verhandlungsebenen, in: "Arbeit und Recht" Heft 8/1997

Der Text ist erschienen in: Bispinck/Schulten (Hrsg.), Tarifpolitik unter dem EURO, VSA-Verlag Hamburg 1999, zu bestellen auch per e-mail auf der Homepage des Verlags, dem wir für die Abdruckgenehmigung danken!