Alle Wege führen nach Gütersloh

Zur Auseinandersetzung um die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes

Von Andreas Bachmann

 

Der express macht Gütersloh (eine Stadt in Ostwestfalen ohne ICE-Anschluss) zum Dauerthema. Nachdem Günter Frech in der letzten Ausgabe Grundsätzliches zum joint venture der Hans-Böcker-Stiftung (Düsseldorf) und der Bertelsmann-Stiftung (Gütersloh) geschrieben hat, geht es in dieser Ausgabe um das neue Betriebsverfassungsgesetz. Das soll noch vor der nächsten Betriebsratswahl 2002 in Kraft treten. Mit welchem Gesetz wir rechnen müssen – und wie stark der ostwestfälische Einfluss ist, dazu schreibt Andreas Bachmann von der Hamburger express-Redaktion.

 

In der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Grünen aus dem Jahre 1998 wurde die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes auf die Tagesordnung gesetzt: "Die neue Bundesregierung wird die Mitbestimmung am Arbeitsplatz sowie in Betrieb und Verwaltung im Interesse der Beteiligung und Motivation der Beschäftigten stärken und an die Veränderungen in der Arbeitswelt anpassen. Vorrangig ist dazu eine grundlegende Novelle des BetrVG (Betriebsbegriff, Arbeitnehmerbegriff, Telearbeit, Vereinfachung des Wahlverfahrens." (Koalitionsvereinbarung, S. 10)

Das gewerkschaftliche Lager, das diese Reform mit der "Bonner Erklärung" (1) zu einem wichtigen Thema im Bundestagswahlkampf gemacht hatte, hat sich in einer auf den ersten Blick bizarren Konstellation sortiert: Zwischen den Mitbestimmungsthesen der Bertelsmann/Böckler-Stiftungen (2) und dem Vorschlag des DBG-Bundesvorstandes zur Reform der Betriebsverfassung scheinen Welten zu liegen: Die Mitbestimmungsthesen der Stiftungen buchstabieren Mitbestimmung als innerbetriebliche Ressource im Standortwettbewerb, während der DGB-Vorschlag von der Konzeption betrieblicher Gegenmacht geprägt zu sein scheint.

Die ursprünglich für den 13. April geplante Präsentation der "Eckpunkte" eines neuen Betriebsverfassungsgesetzes durch das Bundesarbeitsministerium wurde nach einer kurzen Intervention vom Kanzler abgesagt. Die Novellierung der Betriebsverfassung soll nun im Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit beraten werden.(3) Das im DGB zuständige Bundesvorstandsmitglied Ursula Engelen-Kefer warnte angesichts dessen vor einem "Konsens auf niedrigem Niveau" und forderte die Regierung auf, "beim Betriebsverfassungsgesetz Farbe zu bekennen." (4)

Die Reaktion der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden verläuft sich im Dickicht des Bündnisses für Arbeit, da die Gewerkschaften fast alles dafür getan haben, dass die Ständeversammlung des Bündnisses zu dem von ihr beklagten "Ersatzgesetzgeber" geworden ist. Alle sozial- und arbeitspolitischen Fragen der letzten Monate wurden privilegiert und zuerst im Bündnis behandelt und damit aus der traditionellen politischen Auseinandersetzung herausgeholt. Das Bündnis für Arbeit ist damit zu einem sehr effektiven Politikfilter geworden, der der Tarif- und der staatlichen Sozialpolitik den Stempel des Standortwettbewerbs und des Wettbewerbskorporatismus aufdrückt.

Von den linkeren Teilen der DGB-Gewerkschaften wird die Auseinandersetzung nun vermutlich darum geführt, die Novelle des BetrVG aus dem Bündnis herauszuholen und in einem ganz normalen Gesetzgebungsverfahren zu behandeln. In diesem Sinne haben sich die künftigen Ver.di-Gewerkschaften bereits warmgelaufen. Und während die Grünen hier dem Bundeskanzler folgen, möchten Teile der SPD-Fraktion das Bündnis für Arbeit mit der Novelle lieber nicht befassen.(5)

Die Auseinandersetzung um eine Novelle mit oder ohne Bündnisbeteiligung greift aber zu kurz. Das Problem liegt schon in den Vorstellungen des Bundesarbeitsministerium selbst, die stark von Gestus und politischer Logik der Mitbestimmungskonzeption der Bertelsmann/Böckler-Stiftungen geprägt sind. Außerdem verdeckt der Streit um die prozeduralen Fragen die Krise der Betriebsverfassung und die Risiken jeder gewerkschaftspolitischen Strategie, die angesichts der Erosion der Flächentarifverträge und des Arbeitsrechts auf die Stärkung der dezentralen betriebsrätlichen Ebene setzt.

 

Wenn der Minister erzählt

Ende Februar wurden die Abgeordneten der Regierungsfraktionen von Walter Riester über seine "ersten Überlegungen" zur Reform der Betriebsverfassung informiert: Von einem neuen Betriebsbegriff war dabei nicht mehr die Rede, sondern nur noch davon, die "strikte Anknüpfung an den Betriebsbegriff bei der Bildung von Betriebsräten zu lockern." Diese "Lockerungsübungen" sollen vorrangig über erleichterte Möglichkeiten für die Tarifparteien, betriebsverfassungsrechtliche Zuordnungen von Betrieben und Betriebsteilen zu modifizieren und auch betriebs- und unternehmensübergreifende Interessenvertretungen zu bilden, bewerkstelligt werden. Diese neue "Lockerheit" greift natürlich nur dann, wenn sich die jeweiligen Arbeitgeber auf solche Vereinbarungen einlassen.

Über eine andere verbindliche gesetzliche Bestimmung des Betriebsbegriffs ergäben sich demgegenüber ganz andere Möglichkeiten: Gesetzlich und vor allem über die Arbeitsrechtsprechung wurde in den letzten Jahrzehnten ein Verständnis von Betrieb entwickelt, das sich überwiegend an die jeweilige Organisationsform und Leitungsstruktur des Unternehmers anlehnt. Durch die einseitige Möglichkeit des Unternehmers, Organisations- und Leitungsstrukturen durch Ausgliederungen, Betriebsspaltungen etc. zu verändern, untersteht es daher bislang vorrangig seiner Regie, wo Betriebe und Betriebsteile im Sinne des alten Gesetzes vorliegen, in denen dann Betriebsräte wählbar sind oder nicht. Wenn man hingegen den Vorstellungen des DGB-Entwurfs und progressiver ArbeitsrechtlerInnen folgen würde, ginge es um einen Betriebsbegriff, der auf die Zusammenarbeit aller Beschäftigten im Betrieb abstellt. Dadurch würden alle Beschäftigten – auch die von Fremdfirmen und LeiharbeiterInnen – einbezogen.

Diese rechtliche Klarstellung hätte ihren Reiz. Betriebsräte und GewerkschafterInnen im Betrieb könnten auf Outsourcing wirksamer reagieren, und es wäre leichter, mit den sozialen Spaltungslinien im Betrieb politisch umzugehen.

Ein vergleichbarer Effekt wäre mit einem zeitgemäßen Arbeitnehmerbegriff verbunden, der stringent auf die wirtschaftliche Abhängigkeit statt wie bisher auf die "Weisungsgebundenheit" abstellt und damit auch "Scheinselbständige" und "arbeitnehmerähnliche Personen" einbezieht. Auf einer Veranstaltung der DGB-Bundesschule Sasel am 9. März 2000 stellte der SPD-Bundestagsabgeordnete Olaf Scholz aus Hamburg jedoch klar, dass an eine Veränderung des Arbeitnehmerbegriffs im Sinne des Entwurfs des DGB-Bundesvorstandes nicht gedacht ist. Damit scheint auch die zweite zentrale Forderung des DGB vom Tisch.

Einer der wenigen akzeptablen Verbesserungsvorschläge aus dem Hause Riester ist ein vereinfachtes Wahlverfahren vor allem in Kleinbetrieben. Zur Verbesserung der Effektivität des Kündigungsschutzes in Fällen, in denen der Betriebsrat einer Kündigung widerspricht (auch ein Anliegen des DGB), äußert sich der Bundesarbeitsminister hingegen nicht. Nach dem DGB-Vorschlag kann der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis nur durch eine von ihm herbeigeführte gerichtliche Entscheidung auflösen. Bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Aufhebungsklage muss der Arbeitnehmer zu unveränderten Bedingungen tatsächlich weiter beschäftigt werden. Insbesondere die letztgenannte Regelung wäre für die Beschäftigten von großem praktischem Nutzen.

Dass die "ersten Überlegungen" des Arbeitsministers mit oder ohne Bündnis für Arbeit im Kontext der Böckler/Bertelsmann-Thesen stehen, wird an mehreren Stellen deutlich. In seiner Bilanz der Mitbestimmung wird die historische Leistung selbiger wie folgt zusammengefasst: "Gerade die Institution Mitbestimmung erleichtert die Zustimmung der Belegschaften zu wirtschaftlich unvermeidlichen Einschnitten bis hin zu Beschäftigungsabbau."(6)

Eine Schlussfolgerung, die bereits von der Mitbestimmungskommission der Böckler/Bertelsmann-Stiftungen gezogen wurde, wird vom Minister als schlagendes Argument für die Modernisierung der Betriebsverfassung angeführt: "In dem Maße, wie ein flexiblerer Flächentarifvertrag Regulierungsfunktionen auf die Betriebsparteien überträgt, gefährdet insbesondere die geringe Verbreitung von Betriebsräten in Klein- und Mittelbetrieben auch die Reform des Tarifvertragswesens." (7) Bei Walter Riester liest sich das so: "Mehr Flexibilität in der Tarifpolitik ist noch ein weiterer Grund, gegen die weißen Flecken auf der Landkarte der betrieblichen Mitbestimung anzugehen. Dieses Argument müsste auch den Arbeitgebern einleuchten, die diese Flexibilität in der Tarifpolitik vor allem fordern." (8)

 

Die Dezentralisierungsfalle

Damit werden die Abgründe der gegenwärtigen Novellierungsdebatte um das BetrVG deutlich. Alle Vorschläge zur Reform der Betriebsverfassung verarbeiten die Erosion des Flächentarifvertrags, die massenhafte Praxis von betrieblichen Bündnissen für Arbeit, Standortsicherungsvereinbarungen, scheunentorgroße Öffnungsklauseln im Branchentarif etc.

Der Gütersloher Vorstoß will diesen Prozess beschleunigen und die rechtlichen Behinderungen durch die gegenwärtige Betriebsverfassung entschlacken. Die Motivlage und strategische Option des DGB-Vorschlages ist anders, kann aber der Dynamik der Dezentralisierung in die Ohnmacht nichts entgegensetzen.

Die Novellierungsvorschläge des DGB werden im Übrigen innergewerkschaftlich wohl kaum eine starke politische Bewegung entfachen können, weil über offensichtliche Differenzen zwischen der Mitbestimmungskommission und dem DGB-Vorschlag von den Einzelgewerkschaften und dem Dachverband politisch keine Rechenschaft abgelegt wird. Die DGB-Gewerkschaften sind in einer Mobilisierungsfalle, weil der eigene Vorschlag durch die Gütersloher Mitbestimmungsthesen, für die fast alle DGB-Gewerkschaften politisch haften, entwertet wird.

 

Eine Alternative zum Gütersloher Betriebsdesign?

Isoliert betrachtet ist der DGB-Entwurf viel mehr als nur ein kleineres Übel. Die Vorstellung eines weiten Betriebs- und Arbeitnehmerbegriffs und die geforderten besseren Zugangs- und Bewegungsmöglichkeiten von Gewerkschaften sind uneingeschränkt zu begrüßen. Quotierungsnormen für die Geschlechter, gestärkte Individualrechte in der Betriebsverfassung, verbesserte Arbeitsmöglichkeiten für Betriebsräte und verbesserter Kündigungsschutz der Beschäftigten über einen neuen §102 sind genauso wie ausgeweitete Mitbestimmungsmöglichkeiten in der beruflichen Bildung richtige und vernünftige Anliegen. Ob die vorgesehenen Delegationsmöglichkeiten von Mitbestimmungsrechten an Gruppen von Beschäftigten angesichts der Funktion, die Gruppenarbeit in den neuen unternehmerischen Rationalisierungskonzepten erfüllen soll, Schutzmechanismen der Betriebsverfassung nicht eher schwächt, ist ein ungeklärtes Problem.

Auch wenn es auf den ersten Blick sehr sympathisch scheint, die bislang auf wenige Tatbestände begrenzte Mitbestimmung radikal auszuweiten, liegt in dieser strategisch problematischen Focussierung auf die einzelbetriebliche Gestaltungsebene die einzig wirkliche Schwäche des DGB-Vorschlags. Die Allzuständigkeitsklausel (9) (des immer und alles mitbestimmenden und verhandelnden Betriebsrats) des DGB-Vorschlags ist vermutlich von unterschiedlichen Motiven der AutorInnen geprägt: Zum einen reflektiert der Vorschlag den alten, einengenden, wirklichkeitsfremden Katalog der Mitbestimmungstatbestände, der vor allem engagierte gewerkschaftlich orientierte Betriebsräte behindert. Zum anderen ist die Konstruktion des immer und für alles zuständigen Betriebsrates auch eine Widerspiegelung der riskanten Verbetrieblichung der Arbeits- und Tarifpolitik. Auch die Klarstellung im DGB-Vorschlag, dass die Mitbestimmung eine bestehende tarifliche bzw. gesetzliche Regelung nicht verdrängen kann, löst das Problem angesichts des immer poröser werden Arbeitsrechts und "geöffneter" Tarifverträge nicht.

Der Betrieb als der Ort, an dem die gewerkschaftlichen und betriebsrätlichen BetriebspolitikerInnen der Standortkonkurrenz und dem Anpassungsdruck nach unten am stärksten ausgesetzt sind, ist und bleibt vermintes Gelände.

In einer Konstellation, in der Betriebsräte (unter dem alten BetrVG) in den Sog von Standortsicherungsvereinbarungen geraten, werden allzuständige, immer mitverhandelnde, mitbestimmende und mitverantwortliche Betriebsräte in sensiblen Bereichen wie dem Umweltschutz oder der betrieblichen Arbeitsmarktpolitik eher Anpassungszwänge executieren als sozial im Sinne von Gegenmacht gestalten. Oder anders: Der "allzuständige Betriebsrat" ist kein Ersatz für einen wirksamen Flächentarifvertrag, eine effektive Sozial-, Umwelt- und Arbeitsschutzgesetzgebung und für eine Demokratisierung der Unternehmensverfassung.

 

Eine andere Reform – gegen den verfassten betrieblichen Wettbewerb

Alle Signale stehen auf Dezentralisierung und eine radikale Neujustierung von Tarif- und Betriebsautonomie. Es ist zwar richtig zu versuchen, die Novellierung des BetrVG aus dem Bündnis für Arbeit herauszuholen und den DGB-Vorschlag innergewerkschaftlich als die Gesprächsgrundlage durchzusetzen. Damit allein wäre aber nur wenig gewonnen. Da mit der Novellierung des BetrVG eine weitere Runde von arbeitsrechtlichen Reformen förmlich eröffnet wurde – was spricht dagegen, gleichberechtigt und gleichzeitig zur Reform der Betriebsverfassung eine auch über das Arbeitsrecht zu begleitende Rekonstruktion und Stärkung des Flächentarifs und der Schutzfunktion des Arbeitsrechts in die Auseinandersetzung einzubringen?

Ohne die geringsten Illusionen über die politische Ausrichtung der "neuen Mitte" zu haben, lohnt es sich, mit der rot-grünen Bundesregierung in den Streit über das Tarifvertragsrecht zu gehen: Hier ginge es z.B. um eine Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung und ein eigenständiges Klagerecht der Gewerkschaften gegen tarifwidrige betriebliche Verabredungen. Solche rechtlichen Interventionsmöglichkeiten wären im Übrigen auch bei einer Reform des BetrVG abzusichern.(10)

Ein anderer Anknüpfungspunkt für eine weiterreichende Kampagne der Gewerkschaftslinken wäre auch der Streit um die Verlängerung des Beschäftigungsförderungsgesetzes (11), das seit Mitte der 80er Jahre die Expansion der befristeten Arbeitsverhältnisse juristisch abgesichert hat. In linken Vorschlägen zur Reform des BetrVG könnte im Übrigen auch die Möglichkeit der betrieblichen Abweichung von Tarifverträgen anhand bestimmter Regelungsgegenstände restriktiver als unter dem Status quo formuliert werden.

Ich gebe zu, dass dies den ordnungspolitischen Vorstellungen der rot-grünen Bundesregierung diametral entgegengesetzt ist (12), die nicht auf ein robustes Arbeitsrecht und starke Flächentarifverträge setzt. Andererseits käme die Schröderregierung bei solchen Auseinandersetzungen in größere Legitimationsprobleme als Helmut Kohl. Die andere taktische Option – sich auf eine möglichst akzeptable Reform der Betriebsverfassung zu konzentrieren – löst jedoch das Problem der Deregulierungs- und Dezentralisierungsfalle nicht.

Eine Fixierung auf Reformen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts wäre natürlich zu kurz gegriffen. Die Probleme und Schwierigkeiten, mit denen wir uns herumschlagen müssen, entstehen im Zusammenspiel von neo-liberal geprägtem Recht und Politik mit einer gewerkschaftlichen Tarifpolitik, die geradezu mechanisch Wettbewerb und Standortkonkurrenz executiert und sich immer mehr mit einer Fassade des überbetrieblichen Tarifvertrags zufrieden gibt. Daher geht es nicht nur um Forderungen an und Streit mit der Bundesregierung. Die andere Seite ist die (selbst)kritische Diskussion der Tarifpraxis. Die weitreichenden politischen Forderungen hinsichtlich eines robusten Arbeitsrechts sind keine Spielwiese oder Ersatzhandlung, sondern verdeutlichen, dass die ökonomischen und sozialen Entwicklungen, die in betriebliche Standortsicherungsvereinbarungen und nationale Bündnisse für Arbeit münden, keine Naturereignisse sind, sondern Terrain politischer Gestaltung sind und bleiben.

 

Betriebsverfassung nur für Betriebsräte?

Die Mitbestimmungsthesen der Stiftungen definieren Betriebsräte nur noch als Moderatoren und Co-Manager und buchstabieren Mitbestimmung nur noch dezentral und einzelbetrieblich als innerbetriebliche Ressource im Standortwettbewerb. Es geht in den Mitbestimmungsthesen aber nicht nur um den unternehmerisch denkenden Betriebsrat, sondern auch um den unternehmerisch handelnden Beschäftigten. Die dezentrale Logik aus Gütersloh geht über das Repräsentativmodell des alten BetrVG hinaus und will auch das Individuum intensiver in den ökonomischen Modernisierungsprozess einbeziehen. Die Betriebsverfassung nach dem Zuschnitt des Gütersloher Modells soll aus nur wenigen harten gesetzlichen Festlegungen und vielen Vereinbarungen auf den unterschiedlichsten Ebenen bestehen.(13) "Im Ergebnis verschiebt sich dabei in Reaktion auf neue wirtschaftliche Notwendigkeiten die Balance zwischen den traditionellen Schutzfunktionen der Mitbestimmung und ihrem Beitrag zu einem reibungslosen Produktionsablauf."(14)

In diesem Prozess soll die Subjektivität der Beschäftigten mobilisiert werden, die quasi autonom und fremdbestimmt zugleich in die betriebliche Wertschöpfung eingeht. Die Erfolge und Grenzen dieser neuen betrieblichen Herrschaftskultur, Ansätze von Dissidenz, neue Ansätze kollektiven Handels von selbstbewussten Individuen und auch das Leiden der Individuen am Terror der Ökonomie werden derzeit lebhaft in der Gewerkschaftslinken diskutiert.(15)

Was für ein Leitbild muss unsere Vorstellung von "Betriebsverfassung" (nicht nur im juristischen Sinne) also haben?

Starke Betriebsräte, die betriebliche Gegenmacht und gute KollegInnen in den Tarifkommissionen sind? Das alleine kann es nicht sein. Vielmehr muss die rechtliche Seite der Betriebsverfassung den Rahmen geben für den Betrieb als politische Öffentlichkeit und als Ort der Kommunikation. In diesem Sinne müssen die noch vorsichtigen Ansätze im DGB-Entwurf über die zu stärkenden Individualrechte und das Agieren von Gewerkschaften im Betrieb ausgeweitet werden. Gewerkschaft im Betrieb könnte dann heißen: Diskussion und Austausch über eigene Erfahrungen, Ansprüche an die Arbeit sowie über individuelle und kollektive Abwehr der Zumutungen der neuen Ökonomie. Individualrechte sind dann mehr als nur ein Beschwerderecht oder die Einsichtsmöglichkeit in die Personalakte. Es geht um das Grundrecht auf Kommunikation und auch um das Grundrecht der Verweigerung (nicht nur bei unmittelbar gesundheitsgefährdender Arbeit). Die Herstellung von politischer Öffentlichkeit im Betrieb und die Stärkung der Schutz- und Abwehrfunktionen über das Repräsentativorgan Betriebsrat wären diese Leitbilder von sozialen Grundrechten im Betrieb.

Die Forderung von sozialen Grundrechten im Betrieb würde die individualisierenden Ansätze der Mitbestimmungskommission, die Betriebsräte und den einzelnen Beschäftigten als Wettbewerbsressource identifiziert haben, politisch besser parieren, als eine Strategie, die nur auf die Stärkung der Betriebsrätemacht setzt. Die gesetzliche Ebene könnte außerdem durch tarifpolitische Anstrengungen begleitet werden, die Arbeit von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten wirkungsvoller abzusichern.

 

Die Gütersloher Mitbestimungsthesen: Zäsur oder Quittung?

Zum Schluss noch ein Plädoyer für eine realistische Betrachtung der Mitbestimmungskonzeption der Böckler/Bertelsmann-Stiftungen. Gewiss gehört sie zu den besonders unappetitlichen Produkten, die dieses peinliche Joint Venture hervorgebracht hat. Sie kurzerhand als Zäsur oder programmatische Totalrevision der gewerkschaftlichen Mitbestimmungskonzeption anzugreifen ist zwar richtig und gutgemeint, führt aber zu einer Unterschätzung des Problems und zu einer Beschönigung der jahrzehntelangen Mitbestimmungspraxis in Betrieb und Unternehmen.(16)

So werfen Frank Deppe und Michael Wendl den an der Mitbestimmungskommission beteiligten GewerkschafterInnen vor, "den Mitbestimmungsgedanken ganz neu interpretiert zu haben. In allen bisherigen Programmen der deutschen Gewerkschaften (seit der Entstehung des Gedankens der Wirtschaftsdemokratie in den zwanziger Jahren) wurde die Mitbestimmung gerade nicht als Element der einzelwirtschaftlichen Leitungs- und Entscheidungsstruktur, sondern als Bestandteil eines Programms zur Demokratisierung der Gesellschaft und zur Humanisierung der Arbeit begriffen." (17)

Das mag ja der Textlage nach stimmen. Wäre es aber nicht viel schlimmer, wenn sich längst im Milieu vieler Betriebsräte eine Kultur der "Standortpflege" entwickelt hat und die Mitbestimmungskommission diese Tendenzen bloß dokumentiert?

Daher gehört eine kritische Bilanz der deutschen Mitbestimmungskonzeption zur innerlinken Reformdebatte um die Betriebsverfassung. Dabei können wir uns die Frage, ob und wieweit auch Betriebslinke als Betriebsräte Teil der Standortkultur geworden sind, nicht ersparen.

 

Dieser Artikel ist erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/2000
Anmerkungen

1) Die Bonner Erklärung greift im Wesentlichen die Vorschläge des DGB-Entwurfs ("Novellierungsvorschläge des DGB zum Betriebsverfassungsgesetz") von 1998 auf.

2) Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen – Bilanz und Perspektiven; Bericht der Kommission Mitbestimmung, Gütersloh 1998

3) Financial Times Deutschland, 31.03.2000, S. 13

4) Frankfurter Rundschau, 07.04.2000, S. 14

5) Frankfurter Rundschau, 07.04.2000, S. 14

6) Brief an die Fraktionen von SPD und Grünen vom 21.02.2000, S. 2

7) Zusammenfassung des Mitbestimmungsberichts Nr. 25

8) Minister Riester in dem o.g. Schreiben, S. 6

9) DGB-Vorschlag § 87 neu, S. 82ff.

10) vgl. auch die vorgeschlagene Neufassung des § 23 BetrVG im DGB-Vorschlag, S. 30

11) Dieses Gesetz läufe Ende 2000 aus. Die rot-grüne Koalition bräuchte hier noch nicht einmal etwas tun, um eine Verschlechterung rückgängig zu machen.

12) Die zuständige grüne Bundestagsabgeordnete Thea Dückert macht sich ihren eigenen Reim auf die Reform der Betriebsverfassung: "Wie Riester wollen die Grünen ebenfalls die Gründung von Betriebsräten in kleinen Betrieben vereinfachen. Erst dann, glaubt Dückert, könnte eine Tarifpolitik mit Öffnungsklauseln in vielen Betrieben und Verwaltungen richtig zu Geltung kommen." (Frankfurter Rundschau, 29.03.2000)

13) Dieses Modell der Interessenvertretung liegt auch den Europäischen Betriebsräten zu Grunde.

14) Zusammenfassung Mitbestimmungsthesen Nr. 9

15) Selb(st)-ständig-Arbeiten, Martin Dieckmann in express 2/2000; "Der Arbeit wieder ein Maß geben" (hg. von Wilfried Glißmann u.a.) Supplement Sozialismus, Februar 2000

16) Die Ohnmacht traditionellen Mitbestimmungskonzeption liegt auch darin, die Fiktion der Trennung von Betrieb und Unternehmen für bare Münze genommen zu haben.

17) Frank Deppe / Michael Wendl: "Von der Wirtschaftsdemokratie zur Standortpflege", in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Nr. 3/99, S. 151

 


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