Ist das "VW-Modell" der erhoffte Durchbruch ?

Probleme gewerkschaftlicher Politik in Deutschland

Am 15.Dezember 1993 wurde zwischen den Management der Volkswagen AG und der Bezirksleitung der IG Metall eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen, die als "VW-Modell" bekannt wurde. Sie hat hohe Wellen geschlagen. Bekannt wurde über die nationalen Grenzen hinweg vor allem die Tatsache, daß entgegen der dominanten Arbeitgeberposition - die Arbeitszeit muß verlängert werden — eine drastische Verkürzung der Arbeitszeit auf 28,8 Stunden in der Woche vereinbart wurde. Dieser Vorstoß war Anlaß zu neuer Hoffnung, gerade auf dem linken Flügel der Gewerkschaften. Denn hier herrscht am ehesten Konsens darüber, daß eine Strategie des wirtschaftlichen Wachstums, die die Zunahme von Arbeitsplätzen im "eigenen Unternehmen" auf Kosten anderer Betriebe verspricht, für das gewerkschaftliche Selbstverständnis Gift ist - abgesehen davon, daß die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit durch eine solche Strategie angesichts der gigantischen Produktivitätssprünge eine Illusion ist. Und da der Abbau der industriellen Reservearmee durch Deregulierung der Labour-Standards für Gewerkschaften eine selbstmörderische Strategie ist, scheint an einer allgemeinen und drastischen Arbeitszeitverkürzung kein Weg vorbei zu gehen. Ist das "VW-Modell" nun der Einstieg in diese Strategie? Was passiert genau bei Volkswagen? Wo liegen die Probleme für eine solidarische Interessenvertretung jenseits des "concession bargaining"?

Der Vorstand der VW AG wollte durch den Vertrag drei Ziele realisieren:

  1. Lohnkostensenkung um 30%.
  2. Ausweitung der Flexibilisierung der Produktion und
  3. Einbindung der Gewerkschaften in diese Strategie, da ansonsten die Durchsetzung dieser Ziele gefährdet schien.

Man kann heute kaum daran zweifeln, daß diese Ziele auch erreicht wurden.

Unmittelbarer Anlaß des Vertrags Ende 1993 war ein Umsatzeinbruch von 25%, auf den das Modell direkt durch Maßnahmen der Kostensenkung und Flexibilisierung reagierte. Der Konzern wollte so die eigene Konkurrenzposition vor allem gegenüber den japanischen Automobilunternehmen verbessern, mit denen sich der VW-Chef Piech im "Kriegszustand" weiß. Die wesentlichen Punkte des "Modell"-Vertrags waren:

  1. In allen inländischen Werken wird die 28,8 Stundenwoche eingeführt, die im Regelfall 4 Tage umfaßt, jedoch auf 5 Tage ausgedehnt werden kann. Der Bilanzzeitraum für die Einhaltung der 28,8 Stunden/Woche ist das ganze Jahr. Es existiert ein Korridor, der zwischen 28,8 und 38 Wochenstunden schwanken kann.

  2. Der Vertrag macht den Weg frei für eine Differenzierung der individuellen Arbeitszeiten. Mittlerweile gibt es mehr als ein Dutzend verschiedene Arbeitszeitmodelle, von der 3-Tage-Woche bis zu rollierenden Schichtwechseln. Die Ankündigungfrist für Änderungen beträgt nur wenige Tage.

  3. Die Finanzierung der Arbeitszeitverkürzung wird von der Belegschaft getragen. Für die verringerte Arbeitszeit gibt es entsprechend verringerten Lohn. Ein Bandarbeiter verliert durch das Paket ca 6500 DM brutto im Jahr. Auf der Streichliste standen auch der Sonderurlaub und Sonderzahlungen für besonders belastete Arbeiter. Mehrarbeitszuschläge gibt es erst bei Arbeitszeiten von mehr als 35 Stunden. Bildungsurlaub, Urlaub und Krankheit wird nur auf Basis der 28,8 Stundenwoche und nicht auf Basis der real gearbeiteten Zeit vergütet.

  4. Um die Monatseinkommen jedoch zu stabilisieren, wurde das 13.Monatseinkommen und 2/3 des Urlaubsgeldes gezwölftet und auf die Monatseinkommen umgelegt. Darüberhinaus bleibt es bei einem Festbetrag von 1600 DM Urlaubsgeld.

  5. Zu diesem Zweck wurde auch der letze Schritt in der Verkürzung der Arbeitszeit von 36 auf 35 Stunden des Manteltarifvertrags für VW (VW hat einen Hautarifvertrag) von Oktober 95 auf Januar 94 vorgezogen und die darin festgelegte Entgelterhöhung vom 1.1193 auf den 1.1.94 verschoben.

  6. Als Gegenleistung für diese vereinbarte Demontage des bestehenden Tarifvertrags erhielt die Belegschaft die Zusicherung, daß während der Laufzeit des neuen Vertrags (bis 31.12.95) keine betriebsbedingten Kündigungen ausgesprochen werden.

Bei diesem Vertrag blieb es nicht. Der anschließende "Beschäftigungsicherungsvertrag" ermächtigt das Managment nun dazu, eine 30-Stundenwoche zu fordern, bei der nur 28,8 Stunden bezahlt werden. Im bandabhängigen Bereichen wurden die wöchentlichen Pausen um 1,2 Stunden gekürzt und im nichtbandabhängigen Bereich (Instandhaltung, Qualitätssicherung, Logistik) wurde eine unbezahlte Mehrarbeit von 1,2 Stunden eingeführt. Ebenfalls wurden die Zuschläge für Samstagsarbeit gemindert.

Wichtig ist auch, daß die reale Arbeitszeit der Beschäftigten wesentlich über der vereinbarten 28,8-Stundenwoche liegt. 28,8-Stunden wurde in Wolfsburg nur 4 Wochen gearbeitet, in Emden für vier Monate. Alle anderen Werke arbeiteten von Anfang an wesentlich länger. In einer Betriebsvereinbarung vom Sommer 98 wurde ferner für die schichtfreie Zeit, die zwischen den drei 6-Stunden-Schichten und der Dauernachtschicht liegt, an 8 Wochenenden Mehrarbeit angeordnet.

Das Management des Volkswagen-Konzerns kann zufrieden sein. Seine Taktik war einfach: Belegschaft, BR und Gewerkschaft wurden vor die angeblich unvermeidliche Alternative gestellt: "Entweder ihr macht mit oder wir werden 30 000 Beschäftigte entlassen, denn soviel "Köpfe" sind durch die gewaltige Steigerung der Produktivität überzählig." Das Kalkül des Managements hat sich darauf stützen können, daß im Betriebsrat bei Volkswagen traditionell die Linie der Sozialpartnerschaft stark ausgeprägt ist und heute ein bekennendes Co-Management in der Gewerkschaftsvertretung vorherrscht Diese politische Ausrichtung hat auch eine reale materielle Basis im Betrieb: Das Lohnniveau und Sozialleistungen bei VW ist sind überdurchschnittlich hoch. Vor dem Inkrafttreten der 28.8-Stundenwoche lagen die Durchschnittslöhne bei ca 30 DM. 35% der Lohnabhängigen in Deutschland verdienen weniger als der/die am schlechtesten gestellteste VW-Arbeiter/In. Auch der gewerkschaftliche Funktionskörper hat eine Reihe von Privilegien, die es nirgendwo anders gibt. Zum Beispiel werden sämtliche gewählten BR-Vertreter bezahlt von der Arbeit freigestellt. Vor diesem Hintergrund gab es im Betrieb eine starke Tendenz zur Annahme des vom Vorstand verlangten "Deals", der Lohnverzicht gegen begrenzte Arbeitsplatzsicherheit forderte, auch wenn darüber keine Mitgliederbefragung stattfand. Weder innerhalb des Betriebsrats noch innerhalb der IG Metall wurde ernsthaft die Alternative erwogen die Erpressung des Vorstands zu verweigern und es auf eine Kraftprobe ankommen zu lassen. Mögliche alternative strategische Konzepte dafür waren jedenfalls öffentlich nicht erkenbar.

Die Folgen für die gewerkschaftliche Politik liegen auf der Hand.

Die Volkswagen AG hingegen steht heute besser da denn je.

Die Hoffnung der Belegschaft, durch eine einmalige Opfergabe das Problem weiteren Personalabbaus vom Tisch zu bekommen, dürfte sich nicht erfüllen. Der Personalabau soll von 104 000 (1993) auf 88 000 weiter gedrückt werden. Piech plant die Reduktion der Fertigungszeiten pro Auto auf 10 Stunden, um sich — billiger und schneller als die Konkurrenz — einen größeren Anteil am übersättigten Automobilmarkt zu erobern. Dies wird den Druck auf die Belegschaften in in- und ausländischen Standorten der Konkurrenzunternehmen erhöhen vergleichbare Opfern zu bringen.

Das "VW-Modell" hat es verhindert, daß ein Teil der Belegschaft einen anderen wie eine heiße Kartoffel hat fallen lassen und darüber eine offene Entsolidarisierung verhindert. Doch es bleibt ein Pakt der gewerkschaftlichen Defensive. Denn das Abkommen ist kein Weg die Unterbietungskonkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse zu beenden. Dies ist nur möglich durch eine gemeinsame Strategie, bei der sich die Interessensvertretungen von Labour dabei unterstützen, die sozialen Standards nach oben zu verschieben statt im gemeinsamen Niedergang zu konkurrieren.

Trotz der sich langsam entwickelnden Kooperation und gemeinsamer Absprachen der Gewerkschaftsvorstände zur Entwicklung von gemeinsamen Grundpositionen jenseits der kannibalischen Standortlogik sind wir hier nach wie vor noch ziemlich am Anfang. Die Logik der "betrieblichen und nationalen Produktivitätspakte" dominiert noch die Köpfe.

In den 80er Jahren hatte die IG Metall eine Vorreiterfunktion bei der Durchsetzung der 35-Stundenwoche. Dieser Vormarsch ist Anfang der 90er Jahre ins Stoppen geraten. Dies liegt einmal daran, daß die Arbeitszeitverkürzung mit starken Flexibilisierungen erkauft wurde, die die gewerkschaftliche Kampfkraft geschwächt haben. Noch wichtiger erscheint mir jedoch die Tatsache, daß die deutschen Gewerkschaften immer weniger in der Lage sind eine Politik durchzusetzen, die auf gemeinsamen, betriebsübergreifenden Interessen aller Lohnabhängigen beruht. Vor dem Hintergrund eines auf 29% gesunkenen Organisationsgrads dominiert eine hilflose betriebskorporatistische Standortpolitik, die zudem eng auf das Klientel der Kernbelegschaft zugeschnitten ist. Diese Situation wird noch dadurch verschärft, daß wir im vereinigten Deutschland eine starke Ost-West-Spaltung der Ökonomie haben, die in der ehemaligen DDR eine weitgehend deindustrialisierte und gewerkschaftsfreie Zone mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit geschaffen hat. Die dadurch produzierten Ängste bei den Lohnabhängigen dieser Regionen wirken wie zusätzliche Bleigewichte. Gerade hier rächt sich die traditionelle Vernachlässigung der gewerkschaftlichen Verankerung in den Klein- und Mittelbetrieben, weil sie die Bindewirkung der in den wenigen großen Industriebetrieben erkämpften Tarifverträge untergräbt.

Nach dem Fiasko der IG Metall mit dem sog. "Bündnis für Arbeit" hatte der IGM-Vorsitzende Zwickel im April 1997 öffentlich die Forderung nach der allgemeinen Durchsetzung der 32-Stundenwoche an 4 Wochentagen mit differenziertem Lohnausgleich erhoben. Diese Strategie war noch auf dem letzten Gewerkschafttag der IG Metall als Forderung der Linken zugunsten des "Bündnis für Arbeit" abgelehnt worden. Diese 32-Stundenwoche sollte in zwei Phasen beginnend am 1.1.99 realisiert werden. Doch das Konzept wurde aufgrund von Widerständen aus dem Funktionärskörper zugunsten einer Altersteilzeitregelung auf das Jahr 2001 verschoben. In Frankreich und Italien, wo es Gesetzesinitiativen für die 35-Stundenwoche gibt, scheint der Vormarsch bei der Verkürzung der Arbeitszeit dadurch blockiert, daß die Kapitalistenverbände das Gesetz soweit verwässern, daß es ins Leere läuft. Unser gemeinsames Interesse ist es, den "Zug", der in den jeweiligen Ländern ins Stocken geraten ist, wieder in Fahrt zu setzen. Dazu bedarf es vor allem besserer gegenseitiger Information. Denn der Kampf für die Verkürzung der Arbeitszeit bekommt durch den Euro mehr und mehr eine europäische Dimension, weil Fortschritte und Rückschritte der nationalen Bewegungen viel direkter in die Nachbarländer hineinwirken und wir stärker aufeinander angewiesen sind als früher.

Jochen Gester, Mitglied des Internationalismus AK der IG Metall Berlin