Entschädigung ersetzt Aufklärung nicht

Erzwungene Rückkehr des Themas Zwangsarbeit

Von Frank-Uwe Betz

Der 1945 gegründete, bedeutende NS-Verfolgtenverband Fédération Nationale des Déportés et Internés Résistants et Patriotes (FNDIRP) mit Sitz in Paris hat zu den Verhandlungen über die Entschädigung der noch lebenden ZwangsarbeiterInnen zwei Erklärungen abgegeben (siehe Kasten 1 und Kasten 2). Diese und der aktuelle Stand der Verhandlungen geben Anlass dazu, auf das Thema der Entschädigung näher einzugehen.

Nach den Klagen gegen Schweizer Banken und Sammelklagen, die in Amerika gegen deutsche Unternehmen eingereicht wurden, ist das Thema der Zwangsarbeit unerwartet noch vor dem Ableben der letzten noch lebenden ZwangsarbeiterInnen zurückgekehrt in das Land, in dem die Zwangsarbeit geleistet wurde. Nach Deutschland, in das Ursprungsland dieses Verbrechens, in das zur Nazizeit zehn Millionen ArbeiterInnen und mehr aus ganz Europa verschleppt wurden, um dort in allen Branchen zwangsweise "eingesetzt" und in zehntausenden Lagern untergebracht zu werden. Höchstens fünfzehn Prozent von ihnen leben noch.

Keine Entschädigung für die meisten ZwangsarbeiterInnen

Die einzigen "Opfer", deren Entschädigungsaussicht 1951 im Artikel 131 grundgesetzlich festgeschrieben wurde, waren die Staatsdiener des Naziregimes. Das Recht der Zwangsarbeiter auf "Entschädigung" fiel demgegenüber nicht zufällig unter den Nierentisch des Wirtschaftswunders. Wurden Zwangsarbeiter aus westlichen Staaten und Juden, die später israelische Bürger wurden, teilweise noch entschädigt, erhielt die Mehrzahl der Zwangsarbeiter, die aus anderen Ländern - Polen und der Sowjetunion, auch Rumänien, Jugoslawien - stammte, nichts. Nach dem Londoner Schuldenabkommen von 1953, ausgehandelt von der deutschen Regierung unter der Verhandlungsführung des Bankiers Hermann Abs, sollten individuelle Ansprüche wegen Zwangsarbeit nicht erhoben werden können, da die Zwangsarbeit im Zusammenhang des Kriegs gestanden habe und deshalb in einem Friedensvertrag zwischenstaatlich zu regulieren sei. Einige Staaten erhielten Pauschalzahlungen. 1956 wurde das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) erlassen. Dieses sah eine Entschädigung nur vor für in Deutschland Wohnende, die "rassisch", religiös oder politisch verfolgt wurden. Zwangsarbeit gilt hier explizit nicht als Verfolgungsgrund. Rund neunzig Prozent der bisher an NS-Opfer gezahlten finanziellen "Wiedergutmachung" in Höhe von rund einhundert Milliarden Mark gingen daher an "Deutsche im weiteren Sinn", die unter den Opfern des Nazismus nur fünf bis zehn Prozent ausmachten. Im Verweis auf das Londoner Schuldenabkommen und das BEG wies der Staat, im Verweis auf die staatliche Verantwortung und mögliche "Verjährung" wiesen Unternehmen individuelle Ansprüche ab. Es gab nur vereinzelt Zahlungen von Unternehmen für einstige jüdische Zwangsarbeiter und Abkommen mit der Claims Conference.

Eine Tendenz wende trat in den letzten zehn bis fünf- zehn Jahren ein. Nach der Übernahme des Flickkonzerns durch die Deutsche Bank forderte das Europaparlament 1986 Entschädigungszahlungen. Grundlegende Forschungen Ulrich Herberts zur Zwangsarbeit Mitte der achtziger Jahre und vielfältige lokale geschichtliche Forschungen stehen für die Wende ebenso wie parlamentarische Anhörungen oppositioneller Politiker, Konferenzen, und außerparlamentarische Anstrengungen im Ausland. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVG) vom November 1996 gelten die Londoner Festlegungen durch die Verabschiedung des "Zwei-plus-Vier-Vertrags" nicht mehr, individuelle Klagen gegen die Bundesrepublik sind seitdem prinzipiell zulässig. In Beschlüssen der Landgerichte Bonn und Bremen 1997 und 1998 wurden in zwei Fällen individuelle Schadensersatz- bzw. Schmerzensgeldansprüche festgestellt. Umstritten ist noch, ob bis spätestens zum 26. November 1999 nicht geltend gemachte Ansprüche nach der BVG-Entscheidung von 1996 wieder als verjährt beurteilt werden können.

Geheimverhandlungen

Die FNDIRP qualifiziert die Verhandlungen zwischen deutschen, amerikanischen und anderen Regierungsvertretern, Organisationen und Unternehmen und deren Vertretern als Geheimverhandlungen. (Siehe Kasten 1)

Es erscheint in der Öffentlichkeit tatsächlich so, als ob diese, insbesondere aber die deutschen Unternehmen und nach ihnen die für ihren Schutz eintretende Regierung, vertreten durch Lambsdorff, weitgehend eigenmächtig und unter sich die Verhandlungen bestimmen könnten.

Dies liegt daran, dass das Vorgehen in der Sache von Seiten der deutschen Politik wesentlich der Stiftungs- initiative der deutschen Wirtschaft "Erinnerung, Verantwortung, und Zukunft", der sich mittlerweile 50 Unternehmen angeschlossen haben, überlassen wurde. Man vertraute gerne darauf, dass die Unternehmen damit schnell und ohne juristische Winkelzüge ein angemessenes Angebot zur Entschädigung einstiger Zwangsarbeiter vorlegen und realisieren würden. Diese Erwartung hat sich seit fast einem Jahr nicht erfüllt - und der Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte (BVNSV) vermerkte jüngst lakonisch: "Eines der größten Selbsthilfeprojekte Deutschlands steht vor dem Aus."

Von den in die Verhandlungen einbezogenen Verfolgtenverbänden ist demgegenüber öffentlich kaum etwas zu vernehmen. Dieses Erscheinungsbild spiegelt die bei den Verhandlungen bestehenden Machtverhältnisse wider. So berichtete die Stuttgarter Zeitung, dass die deutsche Verhandlungsführung in ganz Polen Empörung auslöste, denn es entstand der Eindruck, "die polnischen Unterhändler würden systematisch ignoriert." So bezeichnete auch Lambsdorff in unverantwortbar nivellierender Weise die "Beschäftigung von Arbeitern aus dem Osten" als "natürliche historische Erscheinung" in der deutschen Landwirtschaft. Er erlaubte sich sogar, den Deutschland-Korrespondenten der polnischen Tageszeitung "Rzeczpospolita" von seinen Pressekonferenzen auszuschließen. Die in der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnisgrünen vorgesehene Bundesstiftung "Entschädigung für NS-Zwangsarbeit" wurde politisch nicht weiter verfolgt. Ebensowenig war bisher von der geplanten Bundesstiftung "Entschädigung für NS-Unrecht" für die "vergessenen Opfer" zu hören.

"Entschädigen" und vergessen?

Auch Unternehmen, die jetzt der Stiftungsinitiative angehören, lehnten Entschädigungszahlungen bis vor rund einem Jahr ab, verwiesen allenfalls auf Mittel, die in die wissenschaftliche Bearbeitung der Vergangenheit gesteckt wurden, und bekundeten ansonsten ihr Bedauern. So schrieb Daimler-Benz Stuttgart im Jahr 1991: "Eine solche Bürokratie [die für individuelle Entschädigungen erforderlich wäre] hätte zu langwierigen Verfahren, vor allem aber zu erneutem Unrecht geführt, durch das alte Wunden eher aufgerissen als geheilt worden wären. Eine Entscheidung zu individuellen Leistungen hätte außerdem diejenigen begünstigt, die im Laufe der Jahre ihre psychische und physische Kraft zurückgewonnen haben und möglicherweise in guten Verhältnissen leben."

In einem der FNDIRP entgegengesetzten Sinn lehnt die deutsche Wirtschaft, immer besorgt, keinen juristischen Präzedenzfall zuzulassen, die "Entschädigung" der noch lebenden Zwangsarbeiter ab, vielmehr ginge es um eine "freiwillige humanitäre Leistung". Nicht Rechtsansprüche sollen, eine "moralische Verantwortung" soll anerkannt werden. In der Konzeption der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft heißt es: "Am Ende dieses Jahrhunderts sind deutsche Unternehmen nochmals bereit, als Geste der Versöhnung Mittel in eine humanitäre Stiftung einzubringen, um heute noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeitern, die damals Arbeit unter besonders belastenden Bedingungen haben leisten müssen, zu helfen. Die Stiftung ist eine freiwillige Initiative von deutschen Unternehmen. Unabdingbare Voraussetzung (...) ist, dass für die Unternehmen umfassende und dauerhafte Rechtssicherheit geschaffen ist".

Von Freiwilligkeit kann dabei natürlich keine Rede sein. Das Angebot einer "Geste der Versöhnung" verdankt sich dem rechtlichen, öffentlichen und wirtschaftlichen Druck, der auf die deutschen Unternehmen ausgeübt wurde, die ansonsten Imageschäden, Boykottaufrufe und Schwierigkeiten im Auslands- und Exportgeschäft zu befürchten hätten. Zugleich geben die Unternehmen unversöhnlich Bedingungen vor: so sollen demnach nicht alle, sondern nochmals ausgewählte Zwangsarbeiter Geld erhalten ("die Arbeit unter besonders belastenden Bedingungen haben leisten müssen"), zum anderen erwarten sie im Tausch gegen die Zahlungen Rechtssicherheit gegen weitere Klagen. So erscheint ihr Angebot hauptsächlich als - möglichst rechtswirksame - Investition in die Erhaltung und Stützung ihres Export- und Auslandsgeschäfts.

Entschädigung jetzt - und kein Vergessen!

Die FNDIRP stellt fest, dass ihre Mitglieder eine Entschädigung ablehnen, da sie den Unternehmen kein Alibi liefern wollen, und rät diesen, die durch die Zwangs- oder Sklavenarbeit erworbenen Profite für die Erinnerung an die Leiden der Opfer zu verwenden.

So wichtig Wissenschaft und Gedenkstätten mit ihrer Arbeit dafür sind, das und über das geschehene nazistische Unrecht aufzuklären und es zum Teil des öffentlichen Bewusstseins zu machen, und so sinnvoll es ist, dies finan- ziell zu unterstützen, - die Stiftungsinitiative der deutschen Industrie plant auch eine "Zukunftsstiftung"mit ähnlicher Zielsetung -, so sollten die in ihrer Geschichte von der NS-Zwangsarbeit profitierenden Unternehmen nicht daraus entlassen werden, deren oft bis heute in den Lebensverhältnissen, der physischen und psychischen Verfassung der einstigen ZwangsarbeiterInnen fortwirkende Folgen finanziell zumindest abzumildern. Solche Zahlungen wären insbesondere (lebens)wichtig für ZwangsarbeiterInnen aus Osteuropa. Entschädigt werden sollten sie nicht nur durch die Unternehmen, die in der Stiftungsinitiative versammelt sind, sondern durch alle Profiteure der Zwangsarbeit in Wirtschaft und Staat.

Die Furcht der FNDIRP ist berechtigt, dass nun mit Hilfe steuerabzugsfähiger Gelder die Vergangenheit entsorgt und endlich der seit den fünfziger Jahren kontinuierlich geforderte Schlussstrich gezogen werden soll. Die Chance, den Opfern auch nur ansatzweise Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wurde von den Unternehmen in den meisten Fällen vertan. Die jahrzehntelange, juristisch-politisch ausgeklügelte Verschleppung der Angelegenheit hatte zur Folge, dass die meisten der einstigen Zwangsarbeiter keine Ansprüche stellen konnten, mittlerweile tot sind. Den an der Ausbeutung Beteiligten half dabei, dass an der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zwangsarbeit auch seitens der Politik kein Interesse bestand. Wie der BVNSV 1998 schrieb, verstieg sich das zuständige Bundesfinanzministerium sogar zu der Behauptung, "heute sei nicht mehr feststellbar, welche Firmen aus der Beschäftigung von NS-Zwangsarbeitern Nutzen gezogen hätten". Der Verlag Zweitausendeins weist in einer Pressemitteilung zu Recht darauf hin, dass auch im Zusammenhang der aktuellen Verhandlungen konsequent vermieden wurde, in einem offiziellen, bilanzierenden Bericht zu dokumentieren, welche deutschen Betriebe in welchem Umfang von Zwangsarbeit profitierten. Eine solche Arbeit würde es Wirtschaft, Staat und Gesellschaft unmöglich machen, auf Unwissen zu beharren und eigenen Beteiligungen am Regime zu verleugnen. Aber auch eine solche "freiwillige Initiative" der Politik fehlt bis heute. Sämtliche Initiativen in diese Richtung kamen nicht von offizieller Seite, sondern aus der Gesellschaft.

Weitere Informationen:

Erschienen in: express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Nr. 11-12/1999


LabourNet Germany: http://www.labournet.de/
Der virtuelle Treffpunkt der Gewerkschafts- und Betriebslinken / The virtual meeting place of the left in the unions and in the workplace
2000-01-03