letzte Änderung am 10. Juli 2003 | |
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Am 26.Mai hat der EU-Konvent einen Verfassungsentwurf vorgelegt, der nach weiteren Korrekturen am 21.Juni dem EU-Gipfel in Saloniki präsentiert wurde. Die nachstehenden Ausführungen beziehen sich auf diesen Entwurf.
Vorweg sei gesagt: Die EU bleibt, was sie war ein Geflecht politischer Institutionen zwischen Staatenbund und Bundesstaat, das nach dem Zweiten Weltkrieg von den Regierungen eingerichtet wurde und seither gemäß den Bedürfnissen des (west)europäischen Kapitals fortentwickelt wurde. Das Mandat von Laeken (Dezember 2001, siehe SoZ 1/02) sah nicht vor, einen Raum zu eröffnen, in dem die Bevölkerungen erstmals über die bisherige und die zukünftige Entwicklung der EU hätten diskutieren und ihre eigenen Vorstellungen dazu hätten einbringen können. Zwar haben der Konvent und seine Arbeitsgruppen öffentlich debattiert und man konnte die Stellungnahmen und Vorschläge im Internet nachlesen. Doch diesen Weg sind nur die engsten Interessierten gegangen; am überwältigenden Teil der Bevölkerung ist die Debatte vorbeigerauscht.
Der Konvent hatte einen dreifachen Auftrag: Er sollte das bisherige Vertragswerk vereinfachen und in eine einzige zusammenhängende Form bringen; er sollte unter der Maßgabe der EU-Erweiterung die Zuständigkeiten zwischen den bestehenden EU-Institutionen neu regeln; er sollte in einer vorangestellten Präambel quasiverfassungsmäßige Rechte und Pflichten definieren, die der EU eine zusätzliche demokratische Legitimation verschaffen sollen. Das Ergebnis nennt sich Verfassungsvertrag und ist eigentlich ein Betrug: denn von der Art des Zustandekommens her ist es ein Vertrag zwischen souveränen Staaten, die einen Teil ihrer Souveränität an europäische Institutionen delegieren.
Der Vertrag behauptet, eine Verfassung zu sein, aber weder war der Konvent eine verfassunggebende Versammlung (die in ihn delegierten Vertreter sind dafür nicht gewählt worden), noch ist vorgesehen, in allen EU-Ländern über das Ergebnis eine Volksabstimmung durchzuführen.
Auf Schritt und Tritt stößt man in dem Verfassungsvertrag auf die grundlegenden Konstruktionsfehler der EU. Ihr erster und wichtigster Fehler ist, dass sie als Wirtschaftsunion entstand und dies bis heute geblieben ist. Der Verfassungsvertrag korrigiert das nicht, enthält z.B. nicht das Ziel, die Lebensverhältnisse in Europa auf hohem Niveau anzugleichen oder eine Produktionsweise zu entwickeln, die ökologisch verträglich und dazu angetan ist, in den Regionen des Südens eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung zu befördern.
Das beginnt bei der Definition der Ziele: Außer der Tatsache, dass Europa eine alte Zivilisation hat und nunmehr seine Zukunft gemeinsam gestalten will und dass es Werte wie Freiheit und Rechtsstaatlichkeit verteidigt, die in ihrer Unverbindlichkeit inzwischen von jedem noch so autoritär geführten Staat hochgehalten werden, sind die einzige Ziele, die einigermaßen konkret formuliert sind, wirtschaftliche: Die Union strebt ein ausgewogenes Wirtschaftswachstum an und eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft; sie bietet einen Binnenmarkt mit unverfälschtem Wettbewerb sowie Freiheit und Sicherheit für den Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr.
Die Freizügigkeit der Bürger innerhalb der Union wird deutlich motiviert von dem Wunsch, sie möchten möglichst mobil sein, während ihnen das volle Wahlrecht im Land ihrer Niederlassung nicht gewährt wird. Die Niederlassungsfreiheit wird ausschließlich aus der Sicht von Unternehmen und Freiberuflern formuliert. Für eine Verfassung ist das eine Festlegung auf das neoliberale Wirtschaftscredo, die sich keine andere Verfassung der Welt leistet und die geradezu eine Ohrfeige an die Adresse der Bürgerinnen und Bürger in der EU darstellt.
Es setzt sich fort bei der Beschreibung der Zuständigkeiten: Es gibt ausschließliche Zuständigkeiten der Union hier haben die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeiten abgegeben. Das betrifft die Währungs-, Handels- und Zollunion sowie die Landwirtschaftspolitik und den Abschluss internationaler Abkommen, wenn ein EU-Gesetz dies vorsieht.
Es gibt Zuständigkeiten, die sich die Union mit den Mitgliedstaaten teilt das betrifft den größten Teil der sonstigen Wirtschaftspolitik, der Umwelt-, Verkehrs- und Gesundheitspolitik sowie bestimmte Aspekte der Innenpolitik und der Sozialpolitik. In diesen Bereichen kann es europäische Gesetze geben oder es greift die Methode der offenen Koordination. D.h. die Kommission drängt die Mitgliedstaaten durch bürokratische Verfahren, ihre Politik einander anzugleichen.
Im Bereich der Beschäftigungspolitik ist dieses Verfahren seit dem EU-Gipfel in Luxemburg 1997 erfolgreich angewendet worden mit dem Ergebnis, dass mittlerweile in allen EU-Staaten »Reformen« der sozialen Sicherungssysteme eingeleitet worden sind, die denselben Grundsätzen folgen.
Der Verfassungsvertrag ist nicht von dem Grundsatz abgewichen, der wie ein Felsblock in das wirtschaftsliberale Selbstverständnis der EU eingemeißelt ist: Die europäische Integration (somit auch die Übertragung von Souveränitätsrechten) findet auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Finanzpolitik statt, sie ist darüber hinaus denkbar in Teilen der Innenpolitik und neu angestrebt der Außen- und Militärpolitik.
Für wichtige Bereiche der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie der Steuerpolitik (direkte Steuern) gilt sie nicht; hier bleiben die Mitgliedstaaten allein verantwortlich d.h. hier gibt es Konkurrenz zwischen ihnen. Für europäische Regelungen im Bereich der sozialen Sicherheit und des sozialen Schutzes der Beschäftigten fordert die Verfassung weiterhin Einstimmigkeit; die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung und die Modernisierung der sozialen Sicherungssysteme bleiben von europäischen Regelungen ausgeschlossen; Arbeitsentgelt, Koalitionsrecht und Streikrecht sind überhaupt nicht Gegenstand des Verfassungsvertrags; auch die Grundrechtecharta kennt kein europäisches Streikrecht.
Die fehlende Angleichung der sozialen Rechte und der Steuersätze bilden die wesentlichen Hindernisse auf dem Weg von einem Europa der Bosse zu einem Europa der arbeitenden Menschen.
Der zweite Konstruktionsfehler der EU ist die fehlende Gewaltenteilung und die Dominanz der Exekutive.
Seit Anbeginn hat die Europäische Kommission das Monopol auf die Gesetzesinitiative; gleichzeitig ist sie das Exekutivorgan der Union. Der Europäische Rat teilt sich hingegen mit dem Europäischen Parlament (EP) die Funktion des Gesetzesbeschlusses, wobei das EP insofern stark im Hintertreffen ist, als es bei (fast) allen Beschlüssen nur mitwirken kann und es kaum Bereiche gibt, wo es ein alleiniges Beschlussrecht hat.
Hinzu kommt, dass der Europäische Rat (die Vertretung der Regierungen) natürlich in den Mitgliedstaaten auf einen umfänglichen Apparat zur Durchsetzung ihrer Beschlüsse zurückgreifen kann, also zugleich Exekutive ist, während das EP das nicht kann. Das Verfahren zum Gesetzesbeschluss, das sich Rat und Parlament teilen, erinnert an das Vermittlungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat.
Im Verlauf der Entwicklung der politischen Union (seit dem Vertrag von Maastricht 1992) sind die Befugnisse des Europaparlaments ausgeweitet worden. Aber seine Stellung krankt grundsätzlich daran, dass die europäische Integration sich vor allem im Bereich der Kommission, nicht des Parlaments abspielt. Die Bereiche, in denen die Kommission initiativ werden und europäische Gesetze einleiten kann, wachsen kontinuierlich; somit auch die Bereiche, wo sie als Exekutive gefragt ist.
Hingegen hat das Parlament als das einzige Organ, das direkt von den Bürgerinnen und Bürgern gewählt ist, nicht das Recht zur Gesetzesinitiative, und es übt auch nicht wirklich das Haushaltsrecht aus, weil es sich nur zu bestehenden Vorschlägen der Kommission oder des Rats verhalten und nicht allein über den Haushalt beschließt. Das EP ist deshalb kein Parlament im landläufigen Sinn; sein wichtigstes Recht ist, Vorlagen oder Personalvorschläge abzulehnen. Eine eigene Gestaltungsmacht hat es nicht.
Angeblich kontrolliert es die Kommission, doch wenn ein Kommissar gegen sein Vertrauen verstößt, kann es diesen nur abwählen, indem es die Kommission insgesamt abwählt. Seiner Kontrollfunktion sind somit hohe Hürden gesetzt.
Die beiden Institutionen, die mit Gestaltungsmacht ausgestattet sind und es gewissermaßen in der Hand haben, wie die EU sich weiterentwickelt, sind die Kommission und der Europäische Rat (zusammen mit dem Ministerrat, der ebenfalls als Gesetzgeber tätig wird und u.a. Haushaltsbefugnisse hat). Zwischen ihnen besteht eine Art Machtbalance. Sie wird im Verfassungsvertrag symbolisiert durch die beiden Präsidenten: den der Kommission (derzeit Romano Prodi), der künftig vom EP gewählt werden soll, und den des Rats.
Der Kommissionspräsident ist Chef der Verwaltung und hat der Kommission gegenüber Richtlinienkompetenz; der neugeschaffene Ratspräsident repräsentiert die Union nach außen; die Ratsherren behalten sich vor, die allgemeinen politischen Ziele und Prioritäten der Union festzulegen.
Seit dem Beschluss, die Wirtschaftsunion durch eine politische Union zu ergänzen (Vertrag von Maastricht), sind wichtige Bereiche der Innenpolitik (Asyl, Niederlassung, Aufenthalt, Visum etc.) zu Bereichen europäischer Politik geworden. Das schlägt sich u.a. in der Schaffung einer Europäischen Polizeibehörde (Europol) und einer Europäischen Staatsanwaltschaft (Eurojust) nieder. Der wichtigste weitere Integrationsschub für die Union geht aber nach der Einführung des Euro vom Drängen auf eine Militärunion aus.
Dieser Bereich liegt bisher noch ganz in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten; der Verfassungsvertrag trägt dem Rechnung, indem er auf diesem Gebiet strikte Einstimmigkeit verordnet. Der neu zu schaffende EU-Außenminister soll jedoch zugleich die Aufgaben des bisherigen Außenkommissars und des Hohen Vertreters des Rates für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wahrnehmen.
Zweck einer verstärkten Integration ist die Festlegung von gemeinsamen sicherheitspolitischen Leitlinien; vorgesehen ist die Einrichtung eines Europäischen Amts für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten, das die europäische Rüstungsproduktion koordinieren soll.
Die verstärkte Integration schlägt sich auch darin nieder, dass ein wachsender Teil von Politikbereichen auf europäischer Ebene mit qualifizierte Mehrheit beschlossen wird, statt wie bisher einstimmig.
Allen Unkenrufen zum Trotz treibt der Verfassungsvertrag den Prozess der europäischen Integration (verstanden als Europäisierung von Politik) erneut ein Stück voran. Und dies nicht nur im Bereich der Außen- und Militärpolitik, sondern auf einer Fülle von Gebieten, angefangen bei der Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die indirekten Steuern bis zur Anbahnung eines europäischen Arbeitsmarkts.
Dennoch besteht das wesentliche Nadelöhr für die weitere Zunahme Europäischer Gesetze und Beschlüsse darin, dass Mitgliedstaaten in wichtigen Bereichen nicht bereit sind, das Prinzip der Einstimmigkeit aufzugeben, damit sie Entwicklungen auf europäischer Ebene blockieren können. Einstimmigkeit fordert die Verfassung u.a. für Maßnahmen auf dem Gebiet der Unionsbürgerschaft, des Arbeitsmarkts, der sozialen Sicherheit und der direkten Steuern.
Wachsende Integration bedeutet aber nicht, dass wir uns im schleichenden Übergang von einem Staatenbund zu einem neuen Superstaat befänden. Die Integration der Außen- und Militärpolitik ist mit Abstand das schwierigste Unterfangen; ihr Erfolg alles andere als gesichert. Davon hängt aber letztendlich der Erfolg der Europäischen Union überhaupt ab, insofern sind selbst die bestehenden Integrationserfolge nicht unwiderruflich.
Doch selbst wenn dieser Erfolg vorausgesetzt wird, würde ein Staatsgebilde entstehen, das mehr Ähnlichkeit mit den absolutistischen Staaten vor der Französischen Revolution als mit den Nationalstaaten des 19. und 20.Jahrhunderts hat. Mit einem Kabinett, das niemandem verantwortlich ist (Kommission); einem Hohen Rat, in dem die Fürsten Wohlstand und Besitz ihrer Untertanen verschachern; einem Parlament, in dem die Notablen um das Recht streiten, die Gesetzesakte zu zeichnen, bevor sie in Kraft treten können; und einer königlichen Doppelspitze, deren bevorzugtes Spielzeug ein Söldnerheer ist, das marodierend durch fremde Länder ziehen darf, ist dieses Staatsgebilde recht treffend umschrieben.
Unterhalb dieser Ebene, in den Fürstentümern, spielen sich noch die letzten Reste bürgerlich-demokratischen Staatslebens ab, in den engen Grenzen, die ihnen die Beschlüsse vom Brüsseler Hof lassen und abhängig von den Geldern, die die Königliche Münze (EZB) ihnen gnädig einräumt. Die Fürsten haben das Recht, ihre Untertanen auszunehmen, wie es ihnen gefällt. Sie wachen eifersüchtig über ihren Kleinstaat und seine Besonderheiten und bringen ihn immer wieder gegen das Kabinett in Stellung. Unter diesen Bedingungen ist es nur eine Frage der Zeit, wann auch hier die letzten Reste bürgerlicher Demokratie verschwinden und einem neuen Absolutismus weichen.
Der Verfassungsvertrag einschließlich der nunmehr in ihn integrierten Grundrechtecharta behindert eine solche Entwicklung an keiner Stelle, im Gegenteil, er ebnet ihr den Weg, indem er auf europäischer Ebene eine neoliberale Ordnung fixiert, die sich über die einzelstaatlichen Verfassungen hinwegsetzt und zugleich weit hinter sie zurückfällt. Es ist ein Dokument der Illegimitität, das nicht weniger an den Pranger gehört als die G8.
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