Vorwort zu Broschüre

Meine Zeit ist mein Leben

Neue betriebspolitische Erfahrungen zur Arbeitszeit.

 

Jede Woche erhalten wir Meldungen über die Millionenzahl registrierter Uberstunden. Sie geben jedoch nur einen Teil der tatsächlich geleisteten Mehrarbeit wieder. In vielen Unternehmen schnellt das an der Zeiterfassung vorbei geleistete Arbeitsvolumen in die Höhe. Das gilt ganz besonders für die Unternehmen der schnell wachsenden Branche der DV- und Informationstechnologie. Hier kommt es entscheidend auf das Know-how der Mitarbeiter, ihr Wissen und Können an, deren Arbeitszeit teilweise schwer planbar und schwierig vollständig zu erfassen ist.

Viele Unternehmen beseitigten ihre obligatorischen Zeiterfassungssysteme in der sicheren Erwartung, daß danach noch mehr Arbeit erbracht wird. Bislang wurden sie nicht enttäuscht. Jetzt hat auch IBM die bisher noch verbindliche Zeiterfassung seit Anfang dieses Jahres freigestellt. Dies führt mit Sicherheit zu einer individuellen Verlängerung der Arbeitszeit.

Die Folgen für die Arbeitnehmer sind bekannt. Die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit verwischt zunehmend. Die Beschäftigten erleben ihre Tätigkeit als "Arbeiten ohne Ende". Dennoch erhebt sich kein Protest. Im Gegenteil. Sind es nicht scheinbar die Beschäftigten selbst, die ihre Arbeitszeit einteilen, ganz souverän, frei und selbstbestimmt? Und haben sie nicht immer mehr Selbständigkeit gewollt und angestrebt?

Ein denkwürdiges Phänomen ergibt sich. Die Arbeitnehmer spüren intuitiv das Dilemma, in dem sie sich befinden. Es wird spätestens dann für jeden offenbar, wenn ihre Leistungsgrenze erreicht oder gar überschritten wird, wenn Freundschaften, vielleicht sogar Ehen wegen der nicht endenden Arbeit zerbrechen. Nur ganz wenige wagen es, das Problem zu thematisieren, um nicht in ständige Konflikte zu geraten im alltäglichen Kampf um Kunden, Aufträge, Kontakte, Zielerreichung und vor allem Umsatz, Umsatz, Umsatz.

Die Betriebsräte der IBM haben deshalb im Monat November 1998 das Arbeitszeitproblem ins Zentrum ihrer Arbeit gestellt. Die Mitarbeiter bekamen Zeitkarten und konnten ihre Zeitwünsche aufschreiben. Im Betrieb der IBM Düsseldorf fanden Diskussionen und Vorträge mit Wissenschaftlern im Betrieb statt, die behaupteten: "Meine Zeit ist mein Leben" und Fragen nach dem Verbleib der Zeit stellten. Das sind zweifellos neue Wege und gehörte bislang nicht zum Alltagsgeschäft der Betriebsräte. Natürlich befaßte sich auch eine regelmäßige Betriebsversammlung mit diesem Thema.

Durch diese vielfältigen und phantasievollen Aktivitäten entwickelte sich ein betriebliches Klima, in dem es Einzelnen leichter fiel, ihre eigenen Probleme zu thematisieren. Die Arbeitsbelastung war nicht mehr nur ihr persönliches Problem. Es war eine Folge der ablaufenden Prozesse und der ständig neuen und höheren Anforderungen durch das Unternehmen. Jeder einzelne, das wurde deutlich, ist zwar ganz persönlich gefordert, aber kaum einer wird das Problem seiner Arbeitsbelastung für sich allein lösen können. Notwendig ist ein gemeinsamer Prozeß der gegenseitigen Verständigung, der nur durch uns als Gewerkschafter im Betrieb initiiert und vorangetrieben werden kann.

Diese Extra-Ausgabe der "Denkanstöße" will die Konzepte dokumentieren und zur Diskussion stellen, die im Zusammenhang mit den Aktionen der IBM Betriebsräte entwickelt wurden, und sie will die Erfahrungen diskutierbar machen, die dabei gesammelt wurden. Es handelt sich um ein Beispiel. Bei der Verminderung der Arbeitsbelastung gibt es kein Patentrezept. Dies gilt ganz besonders für Unternehmen der DV- und Informationstechnologie. Aber es gibt viele Ansätze und es gibt viele Arbeitnehmer, Vertrauensleute, Betriebsräte, die eigene Erfahrungen sammelten, nach neuen Wegen suchen und weitere Lösungen gefunden haben. Dazu soll diese Broschüre einen Beitrag leisten.

 

Frankfurt am Main, 10. Februar 1999

 

Wolfgang Trittin und Gerd Nickel
(IBM-Betreuer der IG Metall)