Arbeiten ohne Ende

Die Stechuhr ist abgeschafft! Ein Traum? Bei IBM ist er wahrgeworden. Doch glücklicher sind die Angestellten darum keineswegs

VON CHRISTINE HOLCH

 

Ein neuer Trend in Großunternehmen: Die Angestellten dürfen so viel oder wenig arbeiten, wie sie wollen. Einzige Bedingung: Sie müssen bestimmte Ziele erreichen. Und darum arbeiten die Leute länger als je zuvor. Eva Voss* darf so viel oder wenig arbeiten, wie sie will. Sie kann zwischendurch auch Tennis spielen oder shoppen gehen. Keiner bei IBM fragt sie nach den Stunden. Wenn sie nur zum Quartalsende "mile stones" erreicht hat, eine bestimmte Zahl von Vertragsabschlüssen - sie verkauft Software an große Firmen. "Ich steuere mich selbst", sagt die Informatikerin. Und, geht das gut? "Ich arbeite zu viel: mehr als ich möchte, mehr als meine Kraftreserven hergeben." Vorgestern zwölf Stunden, gestern 16, zehn immer. Wenn sie spätabends von Kunden kommt, hängt sie ihren Laptop noch mal an die Steckdose und beantwortet E-Mails. Die Folgen bekam die 39-Jährige jüngst zu spüren: Ohrenpfeifen, Tinnitus. Sie klagt nicht, schließlich verdient sie 8000 Mark brutto, der Job macht ihr Spaß, sie sei geradezu "erfolgssüchtig". Aber manchmal wünscht sie sich jemanden, der sie bremst.

Merkwürdige Dinge geschehen derzeit mit den rund 12000 Mitarbeitern Der IBM Informationssysteme GmbH: Anfang 1999 schaffte die Geschäftsführung die Stempeluhren ab. Womöglich das Ende einer Epoche. Seit es den modernen Kapitalismus gibt, klagen die Beschäftigten über das "Diktat der Stechuhr", die ihnen unerbittlich den Teil ihrer Lebenszeit abfordert, der dem Unternehmen gehört. Und dieses Kontrollinstrument gibt die IBM-Geschäftsführung nun aus der Hand?

"Die Zeitkontrolle paßt nicht mehr in die moderne Arbeitswelt", sagt Eckart Reimers, Leiter der Personalpolitik bei der IBM Deutschland. Wenn ein Mitarbeiter, dank der neuen technischen Möglichkeiten, mal von zu Hause, mal vom Hotel aus arbeitet, dann wieder ins Büro kommt an seinen "share desk", den er mit anderen teilt - wie will man das kontrollieren?

 

Vertrauen statt Kontrolle - Vertrauensarbeitszeit

"Aber es kommt uns ohnehin nicht auf das Absitzen der Arbeitszeit an, sondern auf die Ergebnisse", erklärt Reimers. "Deswegen legen wir keinen Wert mehr auf Ort und Zeit der Arbeit. Wir geben den Mitarbeitern mehr Selbstverantwortung. Wir ersetzen Kontrolle durch Vertrauen." Vertrauensarbeitszeit heißt die neue Maxime - bei IBM, Siemens, Philips...

"Vertrauen!" Wilfried Glißmann, Betriebsratsvorsitzender bei IBM in Düsseldorf, ist ein ruhiger Mensch. Aber wenn er das Wort Vertrauen nur hört! "Die vertrauen nicht der Belegschaft, sondern dem Druck, den sie durch ihre neuen Managementtechniken erzeugen." Und die funktionieren offenbar so gut, daß die Beschäftigten ihre Arbeit ganz von selbst verlängern.

Der Trick dabei sei die "indirekte Steuerung", sagen die Betriebsräte. Kein Chef gibt den Angestellten vor, welche Kunden sie auf welche Weise werben oder wie viel Serviceverträge sie pro Tag anfertigen sollen. Vorgegeben wird den Teams aber eine Gewinnquote. Wird die nicht erreicht, drohen Abmahnung, Geldentzug, Deinvestition, schließlich Stillegung.

Auf diese Weise wird jeder Mitarbeiter direkt dem Marktdruck ausgesetzt. In Wirklichkeit aber, sagen die Gewerkschafter, gehe der Druck vor allem von den Aktionären aus. Kapitalanlagegesellschaften und Pensionsfonds wollten heute ein Maximum aus den Unternehmen rausholen und jeden Bereich, der gerade nicht ganz so rentabel ist, sofort aufgeben. Die Aktionärswünsche würden als quasi naturgegebener Marktdruck "inszeniert".

Ganz selbständig dürfen dann die Beschäftigten auf die Aufgaben reagieren, die ihnen der Markt zu stellen scheint. Und sie tun das ungeachtet des Zeitaufwandes. So wie Clemens Weber*. Der 37-Jährige berät europaweit Firmen bei der Einführung eines bestimmten EDV-Systems von IBM. Diese Internationalität sei "schon interessant", sagt er, "aber die Firma schafft es irgendwie immer, daß man sich erheblich unter Druck setzt. Irgendwie tue ich nie genug."

 

Meine Ideen werden umgesetzt - toll!

Jeder IBM- Mitarbeiter muß sich zu Jahresbeginn mit Unterschrift zu bestimmten, von oben vorgegebenen Zielen verpflichten, den "personal commitments". Die seien in den vergangenen Jahren erheblich verschärft worden, sagen die Angestellten. Clemens Weber soll dieses Jahr zehn Verträge von neuen Kunden hereinholen - "absolut unrealistisch".

Also beklagte er sich bei seinem Chef. Der aber hat von seinem Vorgesetzten ebenfalls Zielvorgaben bekommen. "Und die", sagt Weber gequält, "hat er mir auch gezeigt. Da stand unverblümt drin, er solle die Leistungsstarken, die High Performer, in seiner Abteilung fördern und die Low Performer raus drücken."

Daß er so viel oder wenig arbeiten darf, wie er will, davon hat Weber nichts. "Den Freiheitsgrad nutzt man nicht - ich nehme vielleicht zweimal im Jahr einen Nachmittag frei, wenn die Kinder Geburtstag haben."

So ernüchtert redet er heute. Aber als IBM 1992 seine Offensive zu mehr Selbständigkeit startete, die jetzt gipfelt in der Arbeitszeitfreigabe, fühlten sich die Beschäftigten mitgerissen, und viele sind es auch heute noch. Welche Macht auf einmal! "Meine Ideen werden umgesetzt! Im Marktsegment tut sich was! Toll!" Eine starke Dynamik habe sich im Unternehmen entwickelt, berichtet Betriebsrat Glißmann. "Manche fühlen sich high, wie jemand, der sich gerade selbständig gemacht hat."

Auch Benedikt Madee*, 49, hat sich anfangs, wie er es nennt, "blenden lassen" von der neuen Verantwortungsfülle. "Ich kam mir vor wie ein kleiner Unternehmer. Dabei kann ich nur das entscheiden, wozu ich autorisiert bin, zum Beispiel, ob ein Kunde, der den Service kündigt, eine Gutschrift bekommt oder nicht. Und man kann mich übergehen und direkt zum Chef. Das ist doch nur eine Alibi-Verantwortung."

Dafür und für seine 5700 Mark brutto wühlt er "wie ein Hamster". Tage von 6.30 bis 19 Uhr sind keine Seltenheit. Sie waren mal doppelt so viel Leute in der Abteilung. Überstunden kann er sich aber nicht vergüten lassen, denn nach dem neuen Tarifvertrag, den IBM mit der DAG ausgehandelt hat, gilt Mehrarbeit zwischen 6 und 20 Uhr per Definition nicht als Überstunde. Natürlich darf er die Mehrstunden abbummeln. Nur wann?

Vor einem Jahr hatte Madee einen "leichten Herzkasper". Jetzt überlegt er zu kündigen. Er brauche keine Ruhe bei der Arbeit, aber er brauche abends, wenn er nach Hause geht, die Zufriedenheit, seine Arbeit geschafft zu haben. Sie sei aber nicht mehr zu schaffen. "Das ist, wie wenn einer zuweit aufs Meer schwimmt, den Rückweg nicht mehr findet, kein Land sieht."

Anfangs glaubte Benedikt Madee, es liege an ihm, daß er den Schreibtisch nicht mehr leer kriegt. Er werde alt. Dann beobachtete er Jüngere und sah: "Viele nehmen heimlich Arbeit mit nach Hause." Plötzlich wird deutlich, daß die verhaßte Stechuhr auch Vorteile hatte. Wenn die Beschäftigten abends ihre Karte reinschoben, wußten sie: Jetzt endet die Macht der Firma, und das Privatleben beginnt. Die Stechuhr schützte vor Überbeanspruchung. Man konnte nachweisen, daß man genug getan hat.

Wer aber hindert die IBM-Angestellten daran, nach acht Stunden den Krempel einfach liegen zu lassen? Niemand. Sie selbst sehen sich als Unternehmer im Dienst eines Unternehmens. Wenn der Betriebsrat einschreitet, um sie vor Überarbeitung zu schützen, empfinden das viele als Störung ihrer eigenen Interessen.

Eine paradoxe Situation. So verzwickt, daß die Betriebsräte am Standort Düsseldorf zwei Philosophen zur Klärung hinzuzogen. Einer von ihnen ist Klaus Peters aus Mönchengladbach. "Es ist, als wenn die zwei Willen, die im Kommandosystem säuberlich auf zwei verschiedene Personen verteilt waren: hier der Arbeitnehmer, der eigentlich nach Hause gehen will, dort der Chef, der ihn gegen seinen Willen festhalten will - als wenn diese beiden Willen jetzt in ein und derselben Person gleichzeitig vorhanden sind", sagt Peters. "Der Wille fängt an zu schielen."

 

Mich regiert die blanke Angst

Mit diesem doppelten Willen kamen bei IBM immer weniger zurecht. Immer öfter schlichen sich höhere Angestellte ins Betriebsratsbüro. Hinter verschlossenen Türen erzählten sie von ihrer Panik, das Tempo, das sie eingeschlagen hatten, nicht mehr lange durchhalten zu können. Das waren keineswegs nur über 50-Jährige - die gibt es bei IBM seit der Rationalisierung kaum noch -, sondern höchst erfolgreiche 30- bis 40-Jährige.

Im November schließlich riefen die IBM-Betriebsräte einen "Monat der Besinnung" aus. Thema: "Angst und Arbeit ohne Ende". Zuvor stellten sie den Erfahrungsbericht einer Projektleiterin ins interne Netz. Der 35-Jährigen ist eine schon fast gescheiterte Firmenkooperation anvertraut worden, die rettet sie, mit viel Mehrarbeit. Ende gut, alles gut?

Ihre Bilanz: "Im Gegenteil steigt der Druck noch dadurch, daß ich inzwischen (notgedrungen) so viele Dinge vernachlässigt habe, daß ich Angst haben muß, die Kontrolle über meine Projekte zu verlieren. Mich regiert blanke Angst. Sollte es mir irgendwie gelingen, meine Arbeitszeit zu begrenzen und meine Projekte etwas langsamer abzuwickeln, hätte ich nicht viel gewonnen. Ich müßte den Druck, mein Projekt endlich zu beenden, nur noch länger ertragen. Und die Belohnung für ein beendetes Projekt ist ein neues Projekt." Das Schweigen war gebrochen. In einer schlaflosen Nacht berichtete ein Angestellter per E-Mail von seinem gescheiterten Versuch, Arbeit zu reduzieren. Er und seine Teamkollegen hatten sich gegen die "Maßlosigkeit der Zielvorgabe" wehren wollen. Von oben aber hieß es nur: "Untersucht die Schwachstellen in eurem Team und stellt sie ab. Macht, was ihr wollt, aber schafft die Zielvorgaben. Sonst wird der Job verlagert."

Und was passierte? "Einige versuchen jetzt, durch Selbstpublicity und Abwertung der Teamkollegen für sich bessere Überlebenschancen herauszuarbeiten. Einige entwickeln geradezu einen Stolz darauf, daß sie bis an/über die Grenzen der Gesundheitsschädigung arbeiten. So wird im Lauf der Zeit ein Arbeitslevel erreicht, der jeden, der nach vernünftigem Maß zu arbeiten versucht, zum Außenseiter und Versager stempelt."

 

Weg von der "Anwesenheitskultur"

All diese Angestellten verdienen gut, aber nicht übertariflich. Sie Fallen also alle unter den Tarifvertrag mit seiner Arbeitszeitvereinbarung von 38 Stunden. Doch diese Vereinbarung hat offenbar nichts mehr zu bedeuten, wie Alexandra Wagner vom Institut für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen den IBM-Betriebsräten berichtete: Während bei deutschen Angestellten mit hoch qualifizierten Tätigkeiten die tarifliche Arbeitszeit von 40,2 Stunden (1984) auf 37,1 Stunden (1997) sank, lag die tatsächliche Arbeitszeit darüber, stieg sogar noch, von 45,1 auf 46,2 Stunden. Außerdem enthalten immer mehr Arbeitsverträge gar keine Arbeitszeitvereinbarung mehr.

"Daß die Arbeitgeber die Zeitkontrolle abschaffen, das wird der zukünftige Standard sein in Deutschland", sagt Lars Herrmann, Arbeitszeitberater bei der Berliner Unternehmensberatungsfirma Dr. Hoff, Weidinger und Partner. Die kleinliche Zeiterfassung stamme aus dem Frühkapitalismus, doch von der Struktur her seien die hoch qualifizierten Angestellten heute Mitunternehmer. Die Vertrauensarbeitszeit sei also nur konsequent. Man müsse ganz weg von der "Anwesenheitskultur", denn von bloßer Anwesenheit lasse sich nicht auf Leistung schließen.

Arbeiten also die Angestellten, die über Arbeit ohne Ende klagen, einfach nicht effizient genug? "Selbst wenn Sie doppelt so viele Leute hätten in einem Betrieb, würden die immer sagen: ,Wir sind zu wenig.' Das hat auch was mit Eitelkeit zu tun", sagt Herrmann.

IBM-Betriebsrat Glißmann kennt diese Vorwürfe: "Klar, wenn einer lang arbeitet, sieht es so aus, als habe er die Sache nicht im Griff - schließlich kann er sich seine Zeit ja selbst einteilen. Aber die Strukturen sind genau so angelegt, daß die Arbeit nicht zu schaffen ist."

IBM - die Ausbeuterfirma? Personalmanager Reimers nennt die Aktion gegen "Arbeit ohne Ende" ein "Hobby der Betriebsräte". So ganz kann er das Problem nicht sehen. "Wir wollen nicht, daß die Mitarbeiter ohne Ende arbeiten. Die Ziele sind natürlich herausfordernd, aber", fügt er etwas ratlos hinzu, "wir bieten keinerlei finanziellen Anreiz mehr, Überstunden zu machen." Die Mitarbeiter müßten ihre Mehrarbeit eben ausgleichen. Daß Freizeitausgleich fast unmöglich ist, weil sich dann die Arbeit noch Mehr staut - was soll er dazu sagen? "Die Mitarbeiter müssen sich selbst um ihre Freizeit kümmern."

Weil das aber offenbar nicht funktioniert, führt der Dauerstreß zu einer minderen Arbeitsqualität, zu "quick and dirty", wie es ein Mitarbeiter nennt. Damit steigt die Angst zu versagen. Ein Teufelskreis, den jetzt in den USA einige Unternehmen zu durchbrechen versuchen. Sie erkannten, daß überarbeitete Mitarbeiter auf lange Sicht weniger Leistung bringen, als wenn sie nur 35 Stunden arbeiten und erfülltes Privatleben genießen.

Die Teilnehmer eines Pilotprojektes bei Hewlett-Packard müssen jetzt auf den monatlichen Meetings nicht nur drei berufliche, sondern auch drei persönliche Monatsziele nennen. Wer es dann noch schafft, den Freitagnachmittag mit der Familie zu verbringen und Handy und Laptop in der Firma zu lassen, bekommt ein Extralob vom Chef.

 

* Namen geändert

Zum Weiterlesen:

DS - DEUTSCHES ALLGEMEINES SONNTAGSBLATT, 16. Juli 1999 Nr. 29/1999